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"Postdemokratie" und die zunehmende Entpolitisierung - Essay | Postdemokratie? | bpb.de

Postdemokratie? Editorial "Postdemokratie" und die zunehmende Entpolitisierung - Essay Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation Informationsmedien in der Postdemokratie. Zur Bedeutung von Medienkompetenz für eine lebendige Demokratie Die Allgegenwart der "Androkratie": feministische Anmerkungen zur "Postdemokratie" Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert

"Postdemokratie" und die zunehmende Entpolitisierung - Essay

Chantal Mouffe

/ 5 Minuten zu lesen

Aufgrund der Wahrnehmung, dass es keine Alternative zur herrschenden Ordnung gebe, haben die Parteien links der Mitte der zunehmenden Verwischung der Grenzen zwischen der politischen Linken und Rechten beigetragen.

Einleitung

Eine der zentralen Thesen in den aktuellen Diskussionen über "Postdemokratie" besagt, dass moderne Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien zunehmend von privilegierten Eliten kontrolliert werden. Die Umsetzung neoliberaler Politik habe zu einer "Kolonisierung" des Staates durch die Interessen von Unternehmen und Verbänden geführt, so dass wichtige politische Entscheidungen heute außerhalb der traditionellen demokratischen Kanäle gefällt werden. Der Legitimitätsverlust demokratischer Institutionen zeige sich in einer zunehmenden Entpolitisierung.

Ich widerspreche dieser Theorie nicht, glaube aber, dass, wenn wir die Gründe für dieses Phänomen im Hinblick darauf untersuchen, wie diese Entwicklung wieder umgekehrt werden könnte, auch die Rolle hervorzuheben ist, die Parteien des linken Spektrums für den Prozess der Entfremdung von demokratischer Politik gespielt haben.

"Postpolitische" Perspektive der liberal-demokratischen Gesellschaften

In meinem Buch "Über das Politische" habe ich die Gründe für die "postpolitische" Perspektive, die in liberal-demokratischen Gesellschaften mittlerweile überwiegt, untersucht. Meine These ist, dass die "postpolitische" Perspektive damit zusammenhängt, dass die sozialdemokratischen Parteien in Europa in den vergangenen Jahrzehnten die Strategie verfolgt haben, sich zur politischen Mitte hin zu bewegen.

Erstmals wurde diese Strategie von Anthony Giddens, einem britischen Soziologen, unter dem Etikett "Der dritte Weg" für New Labour in England ausgearbeitet. Diesem Ansatz zufolge haben die westlichen Gesellschaften eine zweite Stufe der Modernität erreicht, diejenige der "reflexiven Modernisierung", in welcher das für die erste Stufe, die "einfache Modernisierung", charakteristische, auf Gegensätzen (das heißt gesellschaftlichen Antagonismen) beruhende Politikmodell obsolet geworden sei. Giddens erklärt, dass es nunmehr erforderlich sei, "jenseits von 'Links' und 'Rechts'" zu denken, und eine neue Politik der "radikalen Mitte" anzustreben, die diese überkommene Teilung überwindet.

Eine solche Ansicht ist später von anderen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien übernommen worden, die begannen, sich als "linke Mitte" zu präsentieren und sich dabei deutlich von früheren antikapitalistischen Elementen zu distanzieren. Tatsächlich aber haben die Parteien der linken Mitte - mit dem Anspruch, das sozialdemokratische Projekt zu modernisieren, um es an die globalisierte Welt anzupassen - gegenüber dem Neoliberalismus "kapituliert". Davon überzeugt, dass es keine echte Alternative für politisches Handeln mehr gibt, haben sie das geschaffene System akzeptiert. Sie haben alle Versuche aufgegeben, die bestehenden Machtverhältnisse infrage zu stellen, und beschränken sich nun darauf, Möglichkeiten aufzuzeigen, die neoliberale Globalisierung "menschlicher" zu gestalten. Darum aber ist die Politik der verschiedenen Parteien so schwer voneinander zu unterscheiden.

Folgen für die demokratische Politikgestaltung

Dieser "Konsens in der politischen Mitte" hat negative Folgen für die demokratische Politikgestaltung. Tatsächlich ist die derzeitige Politikverdrossenheit, die zum drastischen Rückgang der Wahlbeteiligung geführt hat, durch das Fehlen einer echten Wahl zwischen klar unterscheidbaren Alternativen zu erklären. Die Annäherung zwischen den Parteien rechts und links der Mitte hat außerdem in mehreren Staaten das Aufkommen rechtsgerichteter populistischer Parteien gefördert. Ihr Erfolg beruht nicht zuletzt darauf, dass sie als die einzigen erscheinen, die eine wirkliche Alternative zur bestehenden Ordnung anbieten.

In der Diskussion über "Postdemokratie" scheint mir die Rolle dieser "postpolitischen" Situation nicht ausreichend berücksichtigt zu werden. Natürlich ist es wichtig, die Veränderungen des kapitalistischen Systems zu begreifen, welche die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Erfolg der neoliberalen Globalisierung geschaffen haben. Diese erklären jedoch nicht das Verschwinden von lebhaften demokratischen Debatten über die vielfältigen Möglichkeiten der Organisation sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen sowie öffentlicher Einrichtungen.

Eben hier müssen sich die Volksparteien ihrer Verantwortung für diesen Prozess bewusst sein: Indem sie es versäumten, zu erkennen, dass Politik ihrem Wesen nach parteiisch sein muss, und dass demokratische Politik agonistische Debatten zwischen widerstreitenden Projekten und die Wahlmöglichkeit zwischen realen Alternativen braucht, hat die Politik des "dritten Weges" zu der "Entpolitisierung" beigetragen, die im Zentrum unseres "postdemokratischen" Zustands steht.

Wenn Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass sie bei den grundsätzlichen Entscheidungen über ihre gemeinsamen Angelegenheiten nicht mehr mitreden können, und dass sich nur noch Experten mit politischen Fragen beschäftigen, weil sie als komplexe technische Probleme angesehen werden, werden demokratische Institutionen ihrer Substanz entblößt und ihrer Legitimität beraubt. Wahlen werden darauf reduziert, der Absegnung von Maßnahmen unterschiedlicher Akteure zu dienen, deren Interessen nicht öffentlich verantwortet werden müssen. Damit verliert der demokratische Prozess seine Daseinsberechtigung.

Freiheit und Gleichheit

Selbstverständlich nehmen unsere Gesellschaften immer noch für sich in Anspruch, demokratisch zu sein. Aber was bedeutet "Demokratie" in unserer "postpolitischen" Zeit noch? Als ich in "Das demokratische Paradox" das Wesen der liberalen Demokratie untersuchte, habe ich das Spannungsverhältnis zwischen ihren beiden ethisch-politischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit in den Vordergrund gestellt. Liberale Demokratie ist als Synthese aus zwei verschiedenen Traditionen zu verstehen: der liberalen Tradition der Herrschaft des Gesetzes und individueller Rechte sowie der demokratischen Tradition der Volkssouveränität. Der kanadische Politikwissenschaftler Crawford Brough Macpherson hat gezeigt, wie durch diese Synthese, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zustande kam, Liberalismus demokratisiert und Demokratie liberalisiert wurde.

Es gab jedoch immer ein Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen der Freiheit und denen der Gleichheit - eine Spannung, die bis jetzt für Dynamik in der Konfrontation zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten sorgt. Die Geschichte demokratischer Politik kann dargestellt werden als das Ringen um die Vorherrschaft eines dieser Prinzipien über das andere. Zu manchen Zeiten überwog der liberale Aspekt, zu manchen der demokratische Aspekt, aber die Streitfrage blieb offen.

Unter der derzeitigen Hegemonie des Neoliberalismus allerdings ist die liberale Komponente so dominant geworden, dass die demokratische fast verschwunden ist. Demokratie wird heute lediglich als Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Menschenrechte verstanden, während die Idee der Volkssouveränität als überholt gilt und aufgegeben worden zu sein scheint. Wer sich gegen die Regeln der Eliten auflehnt und darauf besteht, dem Volk ein Mitspracherecht einzuräumen und seinen Bedürfnissen Raum zu geben, wird als "Populist" abgewiesen.

Ich halte diese Verdrängung der demokratischen Tradition für eines der Hauptmerkmale unserer "postdemokratischen" Situation. Ohne dass die Politik des "Konsenses in der gesellschaftlichen Mitte" aufgegeben wird, die eine der Ursachen für die zunehmende Bedeutungslosigkeit der demokratischen Institutionen ist, besteht keine Hoffnung, dem "postdemokratischen" Trend zu entkommen. Gegen die Verwischung der Grenzen zwischen Links und Rechts muss politisch gekämpft werden.

Demokratie neu beleben

Bei allem Respekt gegenüber den Theoretikern des "Dritten Wegs" könnte eine solche Verschleierung, statt einen Fortschritt zu bewirken, einen Schritt hin zu einer vermeintlich "reiferen" Demokratie, zu ihrem Untergang beitragen. Der demokratische Prozess muss dringend neu belebt werden, und dies kann nur dadurch geschehen, dass die Parteien des linken Spektrums eine antihegemoniale Offensive gegen die Versuche starten, die zentralen Institutionen des Wohlfahrtsstaates zu zerstören und das gesamte soziale Leben zu privatisieren und den Regeln des Marktes zu unterwerfen. Wenn die politische Linke es nicht schafft, die Hoffnungen und die Leidenschaft der Menschen für eine gerechtere und egalitärere Gesellschaft zu mobilisieren, so besteht die ernste Gefahr, dass rechtsgerichtete populistische Parteien versuchen werden, dieses Feld zu besetzen. Was uns dann erwartet, wird allerdings schlimmer sein als "Postdemokratie".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Chantal Mouffe, On the Political, London 2005 (deutsche Übersetzung: Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007).

  2. Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts, Frankfurt/M. 1997 (Originalausgabe: Anthony Giddens, Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics, Cambridge 1994).

  3. Vgl. Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London-New York 2000 (deutsche Übersetzung: Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, Wien 2008).

Dr. phil., geb. 1943; Mitglied am Collège International de Philosophie in Paris, Professorin für Politische Theorie am Centre for the Study of Democracy an der Westminster Universität in London, 32-38 Wells street, London WIT 3UW, England/UK. E-Mail Link: mouffec@wmin.ac.uk