Wissen und Moral - Stadien der Risikowahrnehmung - Essay
Die Ereignisse von Tschernobyl und Fukushima haben die Risikowahrnehmung der Kernenergie in Deutschland stark beeinflusst. Der Beitrag verfolgt die Wahrnehmung des Risikos von Großtechnologien von 1986 bis heute.Einleitung
Die Ereignisse in Fukushima haben in Deutschland zu einer deutlichen Zäsur in der Bewertung von großtechnischen Risiken geführt: Alle politischen Parteien, die im Bundestag vertreten sind, nahezu alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen sowie die Mehrheit der Bevölkerung haben sich auf einen Ausstieg aus der Kernenergienutzung in Deutschland geeinigt. Dabei sind die Risiken der Kernenergie in Deutschland nach Fukushima nicht anders zu bewerten als vorher. Die Ethikkommission schreibt dazu: "Die Risiken der Kernenergie haben sich mit Fukushima nicht verändert, wohl aber die Risikowahrnehmung. Mehr Menschen als früher ist bewusst geworden, dass die Risiken eines großen Unfalls nicht nur hypothetisch vorhanden sind, sondern dass sich solche Unfälle auch konkret ereignen können. Somit hat sich die Wahrnehmung eines relevanten Teils der Gesellschaft an die Realität der Risiken angepasst."[1]Angesichts der unveränderten Risikolage ist es verwunderlich, dass die Politik so rasch und so gleichförmig auf die Ereignisse in Fukushima reagiert hat. Allerdings ist die Kernkraft in Deutschland schon seit Jahrzehnten umstritten. Dass allerdings die schwarz-gelbe Koalition umgehend ihre Politik auf den Kopf stellte und sich an die Spitze der Befürworter eines schnellen Ausstiegs setzte, hat viele überrascht.
Die massive Reaktion in Deutschland ist nur verständlich, wenn man sich die Entwicklung des politischen Diskurses um Kernenergie und andere Großtechniken in Deutschland und anderen westlichen Ländern vergegenwärtigt. Im Folgenden soll daher die Kernenergiedebatte rekonstruiert und in den größeren Zusammenhang der Auseinandersetzungen um großtechnische Risiken eingebettet werden. Dabei geht es weniger um einen historischen Abriss als vielmehr um den Versuch, die Genese und den Verlauf eines Diskurses zu beschreiben und soziologisch zu deuten.