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Die Zerstörung der Parteiendemokratie von oben nach unten - Essay | Demokratie und Beteiligung | bpb.de

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Die Zerstörung der Parteiendemokratie von oben nach unten - Essay

Edith Niehuis

/ 11 Minuten zu lesen

Den Volksparteien laufen die Mitglieder davon. Die Politik sendet Signale aus, die politisch Interessierte nicht motivieren, sich parteipolitisch zu engagieren.

Einleitung

Parteien spielen in der Demokratie der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle. Sie sind in Artikel 21 GG ausdrücklich erwähnt und sollen für eine ständige, lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen. Doch Ressentiments gegenüber Parteien sind von einer unerschöpflichen Vitalität, und die Mitglieder laufen ihnen davon. Der Mitgliederschwund bei den sogenannten Volksparteien wie SPD und CDU kann durch Zuwächse bei kleineren Parteien wie den Grünen nicht kompensiert werden. Für diese Abstinenz in Bezug auf Parteien mangelt es nicht an Erklärungen: Die Gesellschaft habe sich gewandelt, soziale Milieus seien brüchig geworden. Säkularisierung und Individualisierung bestimmten das Leben, was auch die Bindung an Parteien lockere.

Bürgerinnen und Bürger hadern zwar mit der Parteiendemokratie, scheinen aber nicht unpolitisch zu sein. 2010 kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache "Wutbürger" zum Wort des Jahres und wies auf das große Bedürfnis der Menschen hin, über die Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei politisch relevanten Projekten zu haben. Das Augenmerk gilt der partizipatorischen Protestdemokratie. Die Parteien werden übersehen. Angesichts dieses Wandels wirken die politischen Führungen ratlos, befragen ihre Gliederungen, richten ihren kritischen Blick auf ihre Mitglieder und das abtrünnige Volk, weniger auf sich selbst. Dabei haben sie einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung. Durch ihre Reden und Verhaltensweisen werten sie die Parteiendemokratie ab und vermitteln Politik als geschlossene Gesellschaft. Letztendlich sind es die politischen Führungen, die noch nicht in der modernen Gesellschaft angekommen sind.

Erst das Land, dann die Partei

Wettbewerb von Meinungen in und unter den Parteien ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie, ermöglicht er es doch, unterschiedliche Interessen zu artikulieren und in den politischen Prozess zu integrieren. Doch immer seltener transportieren politische Führungen diese Grundsätze. Als niedersächsischer Ministerpräsident beschrieb Gerhard Schröder 1997 seine Richtschnur für den Bundesrat mit dem Satz "Erst das Land, dann die Partei", den er anschließend auch als Motto für seine Kanzlerschaft wiederholte. Auch andere haben Gefallen an dieser Maxime gefunden. So widersprach Kanzlerin Angela Merkel der Forderung von CDU-Kreisvorsitzenden nach einem programmatischen Profil 2009 mit dem Satz: "Erst das Land, dann die Partei. Entschuldigung, aber so ist es." Beispiele dieser Art lassen sich viele finden.

Nach dem Grundgesetz hat niemand, auch nicht der Bundeskanzler, eine isolierte Interpretationshoheit über den Volkswillen. Auch seine Richtlinienkompetenz gibt dazu keinen Anlass. "Dass das Haupt der Exekutive dazu berufen sei, das Volksganze zu symbolisieren und das Gesamtinteresse wahrzunehmen", wurde nicht ohne Grund aus der Weimarer Verfassung eben nicht übernommen. "Erst das Land, dann die Partei" verdrängt die für politische Parteien wesentlichen demokratischen Strukturen und suggeriert, Parteien strebten etwas anderes an als das Wohl des Landes. Politische Vorbilder schüren auf diese Weise Vorurteile gegenüber Parteien und erheben sich über sie. 1992, als "Politikverdrossenheit" zum Wort des Jahres gekürt wurde, bediente Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf ähnliche Weise antiparteienstaatliche Ressentiments: Parteien seien machtversessen und machtvergessen, meinte er, und stellte die Verankerung der Parteien in Artikel 21 GG in Frage. Seine Aussagen gipfelten in der Frage: "Welche Vorkehrungen haben wir getroffen oder unterlassen, um das überparteiliche Element, den Staat, nachhaltig zu stärken?" Hier geht es nicht um den modernen Verfassungsstaat, der sich über die Parteien demokratischer Willens- und Entscheidungsprozesse bedient, sondern um eine überparteiliche Obrigkeit, möglicherweise mit Definitionsgewalt über das Gemeinwohl. Wenn wichtige Repräsentanten des Staates die Parteien negierende Botschaften ins Volk senden, braucht sich niemand zu wundern, wenn es diese Botschaft versteht und sich von den Parteien fernhält.

Auch andere Politiker schüren antiparteienstaatliche Vorurteile. Debatten im Deutschen Bundestag enthalten häufig den Vorwurf, jemand wolle sich allein parteipolitisch profilieren, oder man solle auf Parteipolitik verzichten. Zu Recht riet Wolfgang Zeh bereits 1992 in seinem "Fürstenspiegel für Abgeordnete", auf solche Floskeln zu verzichten: "Einen Gegensatz zwischen politisch und parteipolitisch zu behaupten ist sachfremd und demokratiewidrig." Wenn parteipolitische Argumentation im Bundestag gemaßregelt wird, werden politisch interessierte Menschen parteipolitisches Engagement eher meiden. Medien formieren die sogenannte Partei der Nichtwähler, eine amorphe Masse, die nichts gemein hat mit einer Partei. Sie hofieren entgegen üblichen Gepflogenheiten die Inaktiven und verweigern damit den parteipolitisch Aktiven die Anerkennung, was auf in diesen Medien vorherrschende Anti-Parteien-Affekte schließen lässt.

Politische und mediale Vorbilder erzeugen zusammen ein Klima, das die Menschen nicht für parteipolitisches Engagement sozialisiert, sondern ihnen im Gegenteil ein gutes Gefühl gibt, wenn sie der Parteipolitik entsagen.

Erscheinungsbild der Parteien

Die Protestkultur ist ein Teil der deutschen Geschichte und kann zu schwierigen Beziehungen zwischen Bürgern und Parteien führen. Die rechte Protestbewegung in der Weimarer Zeit ging in eine "Partei neuen Typs" über, die NSDAP, und beseitigte mit den Parteien die Demokratie. In den 1970er Jahren äußerte sich das politische Engagement in Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegungen. Zugleich strömten die Menschen in die politischen Parteien, und es entstand 1980 eine neue Bundespartei, Die Grünen. Wie sich das "Wutbürgertum" in einer Parteiendemokratie entwickeln wird, hängt wesentlich vom Erscheinungsbild der Parteien ab: Lädt es zum Mitmachen ein, oder schreckt es ab?

Mit dem Schwinden der traditionellen, auch emotionalen Bindung an politische Parteien ist die Sicht auf die Parteien zweckrationaler und kritischer geworden. Parteipolitisches Engagement muss in die Sinn- und Identitätsfindung der Menschen passen. Mit dem Parteieintritt verbinden die einen eine berufliche Perspektive, andere die Chance auf politische Partizipation. Letztere sind es, die eine Parteiendemokratie lebendig halten. Um sie kann nur eine Partei erfolgreich werben, die im Rahmen der politischen Willensbildung des Volkes in ihrer inneren Ordnung demokratischen Grundsätzen folgt und eine Willensbildung von unten nach oben pflegt.

Bundesparteitage sind Orte der abschließenden Willensbildung in Parteien, und sie haben sich insbesondere bei den alten Volksparteien gewandelt. Ihre Dramaturgie bemüht sich vermehrt um die Regiebücher der Fernsehsender, weniger um die Antragsbücher der Delegierten. Nicht der Diskussion wird Raum gegeben, sondern den Beifallsstürmen für die Parteiführung und ihre Reden. Parteitage verkommen so zu Akklamationsparteitagen, auf denen von Kommissionen vorbereitete Papiere geräuschlos abgesegnet (etwa die "Agenda 2010" in der rotgrünen, das "Ende der Wehrpflicht" in der schwarzgelben Koalition) und Spitzenpositionen nach den Vorgaben des medialen Politikerrankings vergeben werden und nicht im parteiinternen persönlichen und programmatischen Wettstreit. Solche Parteitage sind nicht mehr der abschließende Höhepunkt einer innerparteilichen Willensbildung. Nach innen tragen sie wenig zur parteipolitischen Identitätsfindung bei, nach außen verwässern sie das unverwechselbare programmatische Parteiprofil. "Die(se) Angst vor innerparteilicher Diskussion ist eine Gefahr für die Volksparteien (...). Es wird ein geistiges Sultanat errichtet, innerhalb dessen das Denken verödet. Die Sequenz ist unausweichlich: Uniform, konform, chloroform." Auf diese Weise organisierte Parteien stoßen insbesondere Menschen mit politisch-inhaltlichem Ehrgeiz ab.

Opfer dieser elitär-demokratischen Führungsmethoden sind zuerst die unteren Parteigliederungen. Sie brauchen ehrenamtliches Engagement für kommunale Projekte, deren Unterstützung auch allein über Bürgerinitiativen möglich wäre und einer Parteimitgliedschaft nicht bedürfte. Örtliches Engagement wird nur von jenen mit parteipolitischem Engagement verbunden, welche die Gesamtgesellschaft im Blick haben und über die exklusiven innerparteilichen Willensbildungsprozesse deren Entwicklung beeinflussen wollen. Sie suchen in den Parteien keine berufliche Perspektive, sondern sie werden von politischen Zielen angespornt. Ihr politisches Engagement ist es, das die Gesellschaft als parteipolitische Gesellschaft stetig nährt und auf diese Weise für eine lebendige Verbindung zwischen Volk und Staatsorganen sorgt. Demotivierende Parteiführungen schrecken diese politisch Interessierten ab und zerstören von oben nach unten die Parteiendemokratie.

Vordemokratische Zeiten auf dem Vormarsch

Der Deutsche Bundestag ist das einzige Bundesorgan, das direkt vom Volk gewählt wird. Ihm gibt das Grundgesetz auf, das ganze Volk, nicht nur Teile des heterogen zusammengesetzten Volkes, zu vertreten. Das Ziel allen parteipolitischen Engagements ist die mit einem Wahlsieg verbundene Übernahme der Regierungsverantwortung. Es ist die Chance, über politische Programme mehrheitlichen Volkswillen Wirklichkeit werden zu lassen. In der Verantwortung des Bundestags und der Parteien liegt es, dass die Menschen sich in der Politik vertreten, sich als Beteiligte und nicht nur als Betroffene sehen. Doch die Bundespolitik sendet andere Signale aus. Die Rolle des Parlaments gerät aus dem öffentlichen Blick, und insbesondere die Parteien, welche die Regierung stellen, büßen Authentizität ein.

Das repräsentative parlamentarische Regierungssystem, das dem Bundestag gegenüber der Exekutive theoretisch eine starke Stellung verleiht, entwickelt sich zu Lasten des Parlaments. Die in den Medien beliebte Tendenz zur Personalisierung von Politik hat nach innen und nach außen eine negative Wirkung. Im Unterschied zum Gros der Abgeordneten haben Regierungen zu den Medien einen kurzen Draht. Sie nutzen ihren exklusiven Medienzugang, verbreiten politische Vorhaben häufig zunächst über mediale Kanäle und stellen sie erst danach den Entscheidungsgremien in den Parteien und Fraktionen vor. Nicht die gewählten Volksvertreter wägen die politischen Vorhaben ab, sondern allen voran die Medien als eine Art Ersatzvolk.

Es entsteht eine mediale Macht des Faktischen, die insbesondere die Mehrheitsfraktionen, die mit ihrer Regierung die Geschicke des Staates zu lenken haben, der Chance auf eine notwendige, auch kritische Diskussion beraubt. Denn die auf Auflagen und Quoten schielenden, somit krisenverliebten Journalisten stilisieren Meinungsverschiedenheiten in einem politischen Lager gerne als großes Zerwürfnis hoch bis hin zu Zweifeln an der Regierungsfähigkeit. An einer ungestörten Machtausübung interessierte Regierungsmitglieder nutzen diese bekannten medialen Reflexe, preschen öffentlich vor und fordern mit Verweis auf das andernfalls zu erwartende verheerende Medienecho Gefolgschaft ein. Sie erhalten auf diese Weise faktisch eine alleinige Deutungshoheit über den Partei- und Fraktionswillen und widersprechen diesem öffentlichen Eindruck nicht. Für die zunehmende Aufdringlichkeit der Exekutive steht symbolisch die aufgebauschte Kreation des Vizekanzlers, den es nach dem Grundgesetz gar nicht gibt.

Nach innen zerstört dieses Zusammenspiel von medialen und politischen Alphatieren die demokratische Struktur der Regierungsfraktionen und auch der Parteien. Durch die ständigen Wiederholungen von scheinbar personalisierten Machtstrukturen in den Medien strömt dieses Führungsmodell in die politische Kultur über und betoniert den Eindruck politischer Alleinherrschaft. Nach außen vermittelt sich Politik so als Chefsache professioneller politischer Manager, von deren Entscheidungen Menschen betroffen, an denen sie aber nicht beteiligt sind. Es entsteht der Eindruck einer geschlossenen Gesellschaft, die eine Partizipation vieler auszuschließen scheint.

Auch wenn die in der Wissenschaft übliche Unterscheidung zwischen "Entscheidungspolitik" und "Darstellungspolitik" diese Entwicklung der medialen Gesellschaft nahezu legitimiert, geht es im Grunde um die willfährige Anpassung demokratischer Regeln in der Politik an die niederschwelligen Aufmerksamkeitsregeln der Medien. Diese mögen ihr respektloses Eindringen in die demokratische Kultur unter kurzfristigen wirtschaftlichen Aspekten als Erfolg sehen, langfristig wird es auch ihnen zum Nachteil gereichen. Pressefreiheit ist nicht nur eine unverzichtbare Voraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft, sondern auch nur in ihr garantiert. Zudem sind Marktgesetzlichkeiten nicht der Grund für die im Grundgesetz geschützte Pressefreiheit. Die Freiheit der Medien dient der Meinungsbildungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, was die verfassungsnormative Erwartung impliziert, "dass Presse und Rundfunk auch Transport-Medien für eine möglichst vielfältige, darunter auch authentische, Darstellung von Politik - ihrer Gegenstände und ihrer Akteure - sind". Medien sind also aufgefordert, die demokratischen Willens- und Entscheidungsfindungsprozesse spannend und authentisch darzustellen.

Erklärten Regierungsmitglieder die kontroverse politische Debatte im eigenen politischen Lager zu einer demokratischen Selbstverständlichkeit, könnten sie die Medienaufmerksamkeit dementsprechend steuern, und die Regierungsfraktionen müssten nicht so geräuschlos arbeiten, dass sie öffentlich nicht wahrgenommen werden. Das öffentliche Ritual, die Opposition kritisiert und die Regierungsfraktionen loben und preisen ihre Regierung, lässt das Interesse an demokratischen Vorgängen ermüden und vermittelt den Eindruck, dass die lebendige Parteiendemokratie in dem Moment erstarrt, in dem es besonders auf sie ankommt: nämlich wenn Parteiprogramme in Regierungspolitik übergehen.

Der Eindruck einer geschlossenen Gesellschaft wird verstärkt durch parlamentsferne Entscheidungen auf europäischer Ebene, deren Arbeitsweise Regierungen national durch die Berufung von außerparlamentarischen Kommissionen und Gipfeltreffen fortzusetzen scheinen. Sie lassen ihre politischen Vorhaben von in Hinterzimmern tagenden Gruppen erarbeiten oder diskutieren. Demokratisch nicht legitimierte Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft werden mit der Lösung politischer Aufgaben betraut. In Konsensrunden sollen gesellschaftliche Konflikte einer sachgerechten Lösung zugeführt werden. Parteien und Parlamente haben in dieser politischen Praxis keine tragende Rolle mehr. Im "verhandelnden" Staat gaukeln Regierungen dem Volk vor, sie hätten für das Parlament Abschlussvollmacht. Und in der Tat sind von Regierungen eingesetzte Konsensrunden nur dann sinnvoll, wenn Parlamente dem Kompromiss auch zustimmen. Wenn Parlamente von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen und nur noch als formales Beschlussorgan eingesetzt werden, handelt es sich de facto nicht mehr um ein repräsentatives parlamentarisches Regierungssystem. Unsere Demokratie ist de facto immer weniger eine Parteiendemokratie. Scheinbar überparteiliche Expertengremien drängen sich in den Vordergrund und lassen die gewählte Volksvertretung und die Parteien ohnmächtig erscheinen. Konsenspropaganda kann Interessengegensätze und Meinungsunterschiede in der Gesellschaft, auch in den Parteien, zwar unterdrücken, aber nicht eliminieren. Darum frustriert sie, motiviert aber nicht.

Natürlich brauchen Regierungen, Parteien und Parlamentsfraktionen außerparlamentarische Beratung. Die politische Abwägung aber können dem Deutschen Bundestag weder die Fachwelt noch mächtige Gruppeninteressen abnehmen. Über den richtigen Weg sollte zuvörderst in der parteipolitischen Auseinandersetzung entschieden werden, und dieser Wettstreit muss sichtbar bleiben. Außerparlamentarische Expertengremien verändern die Parteiendemokratie. Die politische Neugierde richtet sich nicht mehr auf das Parlament und die Parteien. Andere als die Gewählten scheinen die politischen Geschicke eines Landes maßgeblich zu beeinflussen. Diese Gunst bleibt einigen Privilegierten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Lobbyismus vorbehalten, die Mehrheit des Volkes bleibt draußen. Wie in vordemokratischen Zeiten wird das Volk in eine Zuschauerdemokratie überführt, und privilegierte Eliten drängen sich in den Vordergrund. Parteien als ständige Verbindung zwischen Volk und Staatsorganen geraten aus dem Blick und finden in der Folge keine engagierten Mitglieder mehr.

Mündige Bürgerinnen und Bürger spüren, ob sie von politischen Führungen ehrlich zum Mitmachen eingeladen oder im Grunde ausgeladen werden. Schmollend wenden sie sich von den Parteien ab. Die verbliebenen Parteiführungen könnten es sich dann in den oberen Etagen der Parteihäuser bequem machen und die Parteien schleichend von Mitglieder- in Berufspolitikerparteien überführen. Solche Parteien wären keine lebendige Verbindung zwischen Volk und Staatsorganen mehr, würden die "Wutbürger" vermehren oder ließen Raum für neue politische Gruppierungen, sofern diese Hoffnungen auf mehr Transparenz und Demokratie machen. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September 2011 wurde die Piratenpartei zum Teil so wahrgenommen und mit überraschenden 8,9 Prozent der Stimmen in das Abgeordnetenhaus gewählt.

Dauerndes Wutbürgertum würde die Parteiendemokratie schwächen und zementierte das gestörte Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern zu den Parteien. Erfolgreiche neue Parteien hingegen kanalisieren Stimmungen und neue Bewegungen in die Parteien- und parlamentarische Demokratie. Für die Stabilität einer Parteiendemokratie ist es jedoch auf Dauer nicht förderlich, wenn sich jede neue gesellschaftliche Strömung nur über eine Parteigründung Gehör verschaffen kann. Die Integrationsfunktion von Volksparteien würde bald schmerzlich vermisst werden.

Am schlimmsten allerdings wäre es, wenn das Volk sein Interesse an der Parteiendemokratie verlöre. Dann bliebe Raum für andere, den Staat für sich professionell zu nutzen. Wirtschafts- und finanzstarke Lobbyisten würden nicht zögern. Die Parteiendemokratie ginge dann in einen Gefälligkeitsstaat über.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: Werner Kolhoff, Erst das Land, dann die Partei, in: Saarbrücker Zeitung vom 25.4.2009, online: www.saarbruecker-zeitung.de/sz-themen/Erst-das-Land-dann-die-Partei;art2825,2874304,0 (29.7.2011).

  2. Vgl. Edith Niehuis, Die Demokratiekiller. Fehlentwicklungen in der deutschen Politik, Berlin 2011, S. 32ff.

  3. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 19684, S. 115.

  4. Vgl. Gunter Hofmann/Werner A. Perger, Richard von Weizsäcker im Gespräch, Frankfurt/M. 1992, S. 135-182.

  5. Ebd., S. 142.

  6. Vgl. E. Niehuis (Anm. 2), S. 47ff.

  7. Wolfgang Zeh, Fürstenspiegel für Abgeordnete. Einige Bitten an Parlamentarier, bestimmte Floskeln und Behauptungen zu vermeiden, in: Helmut Herles/Friedrich W. Husemann (Hrsg.), Politikverdrossenheit. Schlagwort oder Zeichen der Krise?, Bonn 1993, S. 28.

  8. Heiner Geißler, Erfolgsfaktoren für Volksparteien mit Zukunft, in: Andreas Khol/Reinhold Lopatka/Wilhelm Mollerer (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Schüssel, Wien 2005, S. 276.

  9. Wolfgang Hoffmann-Riem, Politiker in den Fesseln der Mediengesellschaft, in: Politische Vierteljahresschrift, 41 (2000) 1, S. 125.

Dr. phil., geb. 1950; Mitglied des Deutschen Bundestages 1987-2002, Parlamentarische Staatssekretärin 1998-2002; Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin 2007-2010. E-Mail Link: niehuis.berlin@t-online.de