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Die Fiskalkrise und die Einheit Europas | Europa | bpb.de

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Die Fiskalkrise und die Einheit Europas

Wolfgang Streeck Jens Beckert Wolfgang Streeck Jens Beckert /

/ 26 Minuten zu lesen

Demokratische Staaten haben heute einen zweiten Souverän in Gestalt der internationalen Finanzmärkte. Mit dem Übergang in eine Austeritätsgemeinschaft sollen dessen Ansprüche dauerhaft befriedigt werden.

Einleitung

Die Finanzkrise von 2008 und die anschließende, bis heute andauernde Fiskalkrise der westlichen Industriegesellschaften haben ein Maß an Turbulenz in die nationale und internationale Politik gebracht, wie man es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gekannt hat. Rasch erreichten die Erschütterungen auch die Europäische Union, die gerade dabei war, sich nach den Rückschlägen der Volksabstimmungen über ihren später nicht mehr so genannten "Verfassungsvertrag" neu zu organisieren. Die nach 2008 sprunghaft gestiegene Verschuldung der europäischen Nationalstaaten ließ das Vertrauen ihrer Gläubiger in deren Zahlungsfähigkeit schwinden und gab Anlass zu immer dringlicheren Forderungen der "Märkte" nach Garantien gegen Verluste durch Zahlungsausfälle oder einseitige "Umstrukturierungen" der staatlichen Schuldenlast. Da Staaten ihre Schulden laufend refinanzieren müssen, konnten die Gläubiger ihrem gewachsenen Misstrauen durch immer höhere und zunehmend nach Staaten differenzierte Renditeforderungen strategisch Ausdruck geben und so ihren Wünschen Nachdruck verleihen.

Steigende Refinanzierungskosten erhöhen die Gefahr einer Insolvenz der von ihnen betroffenen Staaten. Wenn nur ein Staat zahlungsunfähig wird, kann dies die Risikoaufschläge für alle anderen Staaten erhöhen, was deren fiskalische Konsolidierungsanstrengungen erschweren oder aussichtslos machen kann; als Folge steigen die Risikoaufschläge weiter. Fernwirkungen dieser Art sind vor allem dann zu befürchten, wenn die beteiligten Staaten einer gemeinsamen Währungsunion angehören. Im Prinzip spricht dies aus deren Sicht für eine kollektive Lösung, bei der die stärkeren Staaten für die Schulden der schwächeren einstehen. Eine solche Lösung wird auch von den Gläubigern vorgezogen, am besten zusammen mit strikten Sparauflagen, um so die Nachrangigkeit der sozialen Rechte der Bevölkerung gegenüber den Eigentumsrechten der Kreditgeber langfristig zu sichern. Allerdings muss bei der "Rettung" eines Staates durch andere geklärt werden, wie groß der Beitrag des zu rettenden Staates und seiner Gläubiger sein soll und wie die Kosten auf die übrigen Staaten verteilt werden sollen. Auch könnte ein sogenannter bail-out bewirken, dass sich staatliche Schuldner und private Gläubiger in Zukunft weiterhin unverantwortlich verhalten, weil sie sich für den Notfall auf die Solidarität der Staaten untereinander beziehungsweise das Eigeninteresse der noch zahlungsfähigen Staaten glauben verlassen zu können. Hiergegen bedarf es institutioneller Sicherungen, die allerdings im Verhältnis zwischen souveränen Staaten schwerer aufzubauen sind als im Zivilrecht oder gegenüber den Gebietskörperschaften eines Zentralstaats.

In den Jahren 2010 und 2011 bedrohten die internationalen Finanzmärkte ausgewählte Staaten der Eurozone nacheinander mit Zinserhöhungen und der Verweigerung von Refinanzierungskrediten, um die EU und ihre wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten zu zwingen, immer größere "Rettungsschirme" aufzuspannen - offiziell für die von Insolvenz bedrohten Mitgliedstaaten, tatsächlich aber für deren Geldgeber. Dabei wurden diese zunehmend anspruchsvoller, sowohl hinsichtlich der Durchsetzung von Sparmaßnahmen zur Haushaltskonsolidierung in den Schuldnerstaaten als auch bezüglich der von den reicheren Staaten abzugebenden Garantien und des Ausmaßes der internationalen Kontrollen über die Haushalte der Schuldnerstaaten. Allerdings gelang es den "Märkten" bis Ende 2011 nicht, eine vollständige Absicherung ihrer Forderungen durchzusetzen, etwa in Gestalt eines Rechts für die Europäische Zentralbank (EZB), unbegrenzt zinsgünstige Anleihen an von Zahlungsunfähigkeit bedrohte Mitgliedstaaten auszugeben. Stattdessen folgte ein Gipfel dem anderen, wobei immer neue Pläne für einen Interessenausgleich zwischen "Märkten" und Staaten sowie zwischen den prospektiven Empfängern und Gebern zwischenstaatlicher Unterstützung zuerst in Umlauf gebracht und dann von den Gläubigern als unzulänglich zurückgewiesen wurden. Wir verzichten darauf, die verschiedenen, einander jagenden Vorschläge zur Überwindung der Schuldenkrise und zur Verteidigung der Währungsunion im Einzelnen zu diskutieren und halten lediglich fest, dass sie immer rascher von immer neuen Entwicklungen und Forderungen überholt wurden. Ein vorläufiger Höhepunkt der Suche nach einem für alle Länder der Währungsunion ebenso wie für die "Märkte" annehmbaren Plan zur Krisenbeilegung war der mehrmals verschobene und mit großem diplomatischem Aufwand vorbereitete Brüsseler Gipfel vom 27. Oktober 2011.

Beschlossen wurde ein Maßnahmenpaket aus gemeinsamen Garantien der Eurostaaten zur Absicherung von Staatsanleihen europäischer Krisenländer, Ausgabenkürzungen insbesondere in Griechenland und einem freiwilligen partiellen Verzicht der Banken auf Rückzahlung der von ihnen gehaltenen griechischen Staatsanleihen. Die Beschlüsse wurden von den Finanzmärkten zunächst mit erheblichen Kursaufschlägen honoriert. Die Börsenkurse stiegen innerhalb weniger Tage um über zehn Prozent, Bankaktien gar um mehr als das Doppelte. Die Euphorie währte jedoch nur kurz. Am 1. November kündigte der griechische Premierminister Giorgos Papandreou überraschend eine Volksabstimmung über die von ihm in Brüssel versprochenen Sparmaßnahmen an. Damit waren sämtliche Beschlüsse des Gipfels wieder in Frage gestellt. Nahezu unbemerkt geblieben war allerdings, dass die Kurse an den Finanzmärkten bereits am Tag vor der Ankündigung Papandreous wieder gefallen und zugleich die Risikoaufschläge auf italienische Staatsanleihen auf ein neues Rekordniveau gestiegen waren. Genauere Lektüre der Brüsseler Beschlüsse hatte gezeigt, dass die geplante "Hebelung" des europäischen Rettungsfonds alles anderes als gesichert war und die Ratingagenturen kaum von der Freiwilligkeit des Beitrags der Gläubiger zu überzeugen gewesen wären. Damit war das Vertrauen der Gläubiger wieder dahin, und vor allem Deutschland und Frankreich sahen sich veranlasst, die griechische Volksabstimmung zu verhindern und so schnell wie möglich die Zweifel der "Märkte" an den von der italienischen Regierung versprochenen Ausgabenkürzungen zu beschwichtigen. Zu diesem Zweck erzwangen sie innerhalb weniger Tage den Rücktritt von Papandreou (9. November) und seinem italienischen Amtskollegen Silvio Berlusconi (12. November) und ihre Ersetzung durch in der internationalen Finanzwelt angesehene Finanztechniker, Lukas Papademos in Griechenland und Mario Monti in Italien - ein in der europäischen Nachkriegsgeschichte einmaliger Vorgang.

Bemerkenswert muss erscheinen, dass der Umstand, dass Monti nach seiner Zeit als Mitglied der Europäischen Kommission, in der er unter anderem die Zerschlagung des deutschen öffentlichen Bankensystems vorantrieb und als Berater bei Goldmann Sachs tätig gewesen war, seinem Avancement an die Spitze der italienischen Regierung offenbar nicht im Weg stand. Freilich hatte der ebenfalls gerade ernannte Präsident der EZB, Mario Draghi, noch vor wenigen Jahren für dieselbe Bank gearbeitet, und sogar als Chef ihrer europäischen Niederlassung. Goldman Sachs hatte übrigens mit dem zweiten von "Europa" eingesetzten Konkursverwalter, Papademos, vertrauensvoll zusammengewirkt, als dieser noch Präsident der griechischen Zentralbank war. Damals hatte sich die griechische Regierung bekanntlich durch kreative Buchführung unter Anleitung ihrer amerikanischen Berater die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion gesichert. Auch die Erinnerung hieran war anscheinend nicht geeignet, das "Vertrauen" der "Märkte" und Regierungen zu beeinträchtigen - möglicherweise im Gegenteil.

Allerdings war es mit dem Austausch des Führungspersonals allein nicht getan. Auch nach der Verabschiedung von Papandreou und Berlusconi gingen die Risikoaufschläge für griechische und italienische Anleihen nicht zurück. Offenbar wollten die "Märkte" zunächst einmal Taten sehen. Zur Verdeutlichung wurden als erstes portugiesische Anleihen auf Ramschniveau heruntergestuft, dann Frankreichs AAA-Status (Bestnote bei der Kreditwürdigkeit) als fraglich deklariert und schließlich, am 23. November, erstmals bei einer Auktion von Schuldverschreibungen deutsche Papiere in größerem Umfang liegengelassen. Ende des Monats gingen dann Berichte um, denen zufolge die europäischen Banken wie schon in der Finanzkrise 2008 aufgehört hätten, sich untereinander Geld zu leihen, und von den amerikanischen Banken keinen Kredit mehr bekämen; zugleich warnten Unternehmen der "Realwirtschaft" vor einer bevorstehenden "Kreditklemme" nach dem Muster von 2008. Die Rufe der Geldgeber nach außergewöhnlichen Notstandsmaßnahmen, vorbei an den bestehenden europäischen Institutionen, wurden lauter denn je.

Ebenso wie der Brüsseler Gipfel und die Absage des griechischen Referendums hatten die Regierungswechsel in Italien und Griechenland die Lage für kaum mehr als 24 Stunden zu beruhigen vermocht. Der Grund ist, dass derzeit niemand, auch nicht nach dem Geschmack der Finanzbranche handverlesene "Experten" wie Draghi, Papademos und Monti, eine überzeugende Antwort auf die Frage anzubieten hat, wie die dauerhafte Bedienung der ins Unermessliche gewachsenen Schuldenstände der europäischen Staaten, von den USA und Japan zu schweigen, vertrauensbildend zu gewährleisten sei.

Schnelle Lösungen sind nötig, um eine Stabilisierung der Refinanzierungskosten auf hohem Niveau zu verhindern. Zwar sind steigende Risikoaufschläge für die Gläubiger ein effektives politisches Druckmittel; zugleich aber sind sie wirtschaftlich riskant. Ähnliches gilt für Sparmaßnahmen in Gestalt von staatlichen Ausgabenkürzungen: Zwar sind sie geeignet, das Vertrauen der Anleger wiederherzustellen, dazu aber müssen sie erst einmal gegen den Widerstand der jeweiligen Bevölkerung durchgesetzt werden, und zwar auf Dauer. Darüber hinaus können sie das Wachstum beeinträchtigen; nur Wachstum aber kann das Schuldenproblem nachhaltig lösen. Das alles beherrschende Problem, für das weder Regierungen und Zentralbanken, noch die großen Investmentfonds eine Lösung zu haben scheinen, ist die Erfindung eines Wachstumsmodells für den gegenwärtigen Kapitalismus, das trotz tiefgehender Einsparungen bei den öffentlichen Ausgaben und harter Einschnitte in Reallöhne und soziale Sicherung gut genug funktioniert, damit seine Kreditgeber wieder ausreichend Vertrauen in seine langfristige Zahlungsfähigkeit entwickeln können.

Völker und Märkte

Die Fiskalkrise der Währungsunion stellt die kontinentaleuropäische Variante einer weltweiten Entwicklung in den reichen Demokratien dar, in deren Verlauf ein zweiter Souverän in Gestalt der internationalen "Finanzmärkte" zu den Staatsvölkern und mit diesen konkurrierend hinzugetreten ist. Heute ist offenkundig und fast schon selbstverständlich, dass die gewählten Regierungen der Länder des demokratischen Kapitalismus zwei Herren auf einmal dienen müssen, deren Ansprüche oft nicht gegensätzlicher sein könnten. Während die Bürger auf die Einlösung des impliziten Gesellschaftsvertrags der Vergangenheit über soziale Sicherheit und eine in ihren Augen gerechte Verteilung bestehen, dringen die Kreditgeber auf eine glaubwürdige und dauerhafte Absicherung ihrer Forderungen als Bedingung für eine weitere Finanzierung der überschuldeten Nationalstaaten. Das sich hier entwickelnde Wechselspiel zwischen Bürgern, Staaten und Finanzinvestoren, in dem die Regierungen zu Vermittlern zwischen der Logik demokratischer Politik einerseits und den Gesetzen globaler Finanzmärkte andererseits werden, ist von enormer Komplexität und bisher kaum verstanden; sicher ist nur, dass seine Analyse eine fundamentale Revision traditioneller Vorstellungen von demokratischer Politik in den Industriegesellschaften des Westens und darüber hinaus erfordern wird.

Im Folgenden wollen wir die Frage diskutieren, welche Auswirkungen die neue Konfiguration auf den europäischen Einigungsprozess und die EU als internationale Organisation vermutlich haben wird. Dabei lässt sich zunächst festhalten, dass die "Finanzmärkte" seit Beginn der Krise darauf drängen, dass die größeren und reicheren Staaten Europas sich als Ausdruck europäischer "Solidarität" bereiterklären, für andere, vom Staatsbankrott bedrohte Staaten Bürgschaften zu übernehmen oder auf andere Weise für sie einzustehen, um den Kreditinstituten eine möglichst vollständige Bedienung und Rückzahlung ihrer Kredite zu gewährleisten. Zugleich geht es ihnen darum, dass im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen institutionelle Kontrollen gegenüber den Schuldnerstaaten aufgebaut werden, die diese dazu zwingen, gegenüber ihren Bürgern als Inkassoagenturen ihrer Gläubiger aufzutreten. Deren wichtigstes Druckmittel sind dabei die von ihnen für die laufende Refinanzierung der nationalen Schuldenstände verlangten Zinssätze, mit denen die "Märkte" das jeweilige Maß ihres "Vertrauens" differenziert kommunizieren können, sowie die Möglichkeit, im äußersten Fall gänzlich aus dem Markt für Staatsanleihen auszusteigen. Insoweit die Sicherung der vergebenen Kredite die Verwandlung der Staaten- in eine Haftungs- und Austeritätsgemeinschaft und damit eine Beschneidung der Souveränität der demokratischen Nationalstaaten erfordert, trifft sich das Interesse der "Finanzmärkte" mit dem der Brüsseler EU-Bürokratie an einer Stärkung der supranationalen gegenüber der nationalen Ebene der europäischen Politik.

Die globale Finanz- und Fiskalkrise ereilte die EU in einer schwierigen Übergangsphase und zwingt sie, sich kurzfristig und gleichzeitig einer Anzahl von Grundfragen ihrer institutionellen und politischen Konstruktion zu stellen, die sie bisher vermieden hatte und lieber weiter auf die lange Bank geschoben hätte, weil jede von ihnen schon unter Normalbedingungen auf eine gefährliche Sollbruchstelle des Integrationsprozesses verwies. Zu den Problemen, die angesichts des Insistierens der Finanzmärkte nicht länger verdrängt werden können, gehören das Verhältnis der Währungsunion zur EU und die Einwirkungsrechte derjenigen Mitgliedstaaten der EU, die der Währungsunion nicht angehören, auf die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik; die Rolle der Politik in Gestalt einer nach französischen Vorstellungen funktionierenden "europäischen Wirtschaftsregierung" innerhalb der Währungsunion gegenüber der nach deutschen Vorstellungen gegen Politik isolierten EZB; das Verhältnis zwischen dem reichen Norden und dem wirtschaftlich rückständigen Süden der Union; die Rolle der nationalen Parlamente gegenüber dem Europäischen Parlament und allgemein das Verhältnis von demokratischer Beteiligung und technokratischer Verwaltung im integrierten Europa; sowie die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Nationalstaaten und Union und auf Unionsebene zwischen der "Gemeinschaftsmethode" der Kommission und den intergouvernementalen Verabredungen im Rat oder zwischen einzelnen Regierungen.

Alle diese Fragen, über die in der Union tiefe Meinungsverschiedenheiten bestehen, werden von den in der Krise zu treffenden Entscheidungen in der einen oder anderen Weise aufgeworfen. Dabei erklärt der unfertige und fundamental umstrittene Zustand der europäischen Konstruktion den improvisierten Charakter und das ständige Nachhinken der europäischen Reaktionen auf die Forderungen der "Märkte", die ihrerseits eine schnelle und möglichst irreversible Beantwortung der offenen Fragen der europäischen Integration im Sinne einer dauerhaften Institutionalisierung von gemeinsamer europäischer Haftung und nationaler Haushaltsdisziplin verlangen.

Niemand kann heute sagen, ob und wie die durch die Krise auf die Tagesordnung gesetzten europäischen Verfassungsfragen unter dem Druck der Finanzmärkte einerseits und der Bürger andererseits in Zukunft beantwortet werden. Ereignisse wie die Ablösung der Regierungen in Griechenland und Italien durch Vertrauenspersonen der internationalen Finanzinvestoren waren noch kurz vor ihrem Eintreten unvorstellbar. Weitere bislang unvorstellbare Ereignisse und Entwicklungen können nicht ausgeschlossen werden, nicht einmal ein Zusammenbruch der Finanzwirtschaft mit der Folge einer langanhaltenden globalen Rezession, mit Auswirkungen, die dann wirklich jedes Vorstellungsvermögen übersteigen würden. Wenn wir nachfolgend davon ausgehen, dass ein dramatischer Bruch der wirtschaftlichen und institutionellen Kontinuität nicht stattfinden wird, dann nicht, weil wir ihn ausschließen, sondern weil sich nur so überhaupt über die in den nächsten Jahren politisch zu bearbeitenden Problemlagen nachdenken lässt.

Im nächsten Abschnitt versuchen wir diese kurz zu umreißen. Danach wenden wir uns der Frage zu, ob mit einer Auflösung der Währungsunion oder einem Ausscheiden ihrer am höchsten verschuldeten Mitgliedstaaten zu rechnen ist - eine Entwicklung, die wir nicht für unmöglich, aber aufgrund der Interessenlagen der beteiligten Parteien für unwahrscheinlich halten. Anschließend diskutieren wir die gegenwärtig auf dem Weg befindliche Reorganisation der EU in Gestalt einer faktischen Neukonstituierung der Währungsunion als Fiskalunion und als neue Art von politischer Union. Dabei gehen wir davon aus, dass die erheblichen Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die zu der gegenwärtigen Schuldenkrise geführt haben, auch auf längere Sicht nicht verschwinden werden. In diesem Zusammenhang erinnern wir daran, dass die Aufnahme Griechenlands, Portugals und Spaniens in die Europäische Gemeinschaft in den 1980er Jahren in erster Linie ein politisches Projekt mit dem Ziel der Stabilisierung der liberalen Demokratie, aber auch der Verhinderung einer möglichen Machtübernahme durch die radikale Linke war und insofern einer auch wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entmachtung der alten Oberschichten im Wege stand. Wir schließen mit Anmerkungen über das Verhältnis von nationaler Souveränität und politischer Demokratie in einer unter dem Vorzeichen institutionalisierter Austerität weiterentwickelten Europäischen Union.

Entwicklungsprobleme einer europäischen Haftungs- und Austeritätsgemeinschaft

Gegen Ende des Jahres 2011 hatten sich in der europäischen Krisenpolitik drei Problemkomplexe ineinander verschlungen, von denen in normalen Zeiten jeder allein genügt hätte, die politische Handlungsfähigkeit der europäischen Eliten und Institutionen voll in Anspruch zu nehmen: die gefährlich nah gerückte Insolvenz der südeuropäischen Schuldnerstaaten und die als Folge zu befürchtende weltweite Banken- und Vermögenskrise; die Suche nach einer verlässlichen ordnungspolitischen Institutionalisierung fiskalischer Disziplin in den nach dem Diktum der "Märkte" überschuldeten Mittelmeerländern, zum Zweck der Rückgewinnung des Vertrauens der Kreditgeber ebenso wie zur Sicherung der Zustimmung der Wähler in den nördlichen Mitgliedstaaten zu der von den "Märkten" geforderten internationalen Rettungsaktionen; sowie die längerfristige Neubestimmung des Verhältnisses von nationaler Souveränität und Demokratie einerseits und internationalen Gemeinschaftsverpflichtungen und supranationalen Kompetenzen in der EU andererseits. Was dabei die aktuelle Krise der Staatsfinanzen und der Refinanzierung der in der Vergangenheit aufgehäuften Staatsschulden angeht, so mussten zuerst die "Märkte" beruhigt, zugleich soziale Unruhen in den betroffenen Ländern verhindert und die Bürger derjenigen Länder besänftigt werden, die für die Rettung zu bezahlen haben werden. Bei Letzteren handelt es sich in erster Linie um Deutschland, das sich zunehmend von den übrigen Mitgliedstaaten, aber auch den USA, gedrängt sieht, durch umfangreiche Transfers in den Mittelmeerraum fortdauernd seinen guten europäischen Willen unter Beweis zu stellen.

Für die Bundesregierung war diese Situation alles andere als einfach. Vor allem Deutschlands engster Verbündeter, Frankreich, bestand darauf, dass die Bundesrepublik ihren Widerstand gegen im Wesentlichen von ihr zu finanzierende oder doch mindestens zu garantierende Rettungsmaßnahmen aufgab. Der Grund hierfür war, dass das französische Bankensystem mehr als jedes andere von einer Umstrukturierung der Staatsschulden der Mittelmeerländer betroffen wäre und die französische Regierung deshalb eine Herabstufung ihrer Bonität durch die Ratingagenturen, und damit einen Anstieg ihrer eigenen Refinanzierungskosten befürchten musste und muss. Allerdings braucht nicht nur Frankreich Deutschland, sondern Deutschland braucht seinerseits Frankreich, wenn nicht aus finanziellen Gründen, dann zur Verdeckung seiner zunehmend hegemonialen Stellung in Europa. Als Folge war die Regierung Angela Merkels seit Mitte des Jahres 2011 damit beschäftigt, immer neue Vorschläge der französischen Regierung zu einer für die deutschen Wähler nach französischer Ansicht akzeptablen, weil zunächst kaum oder gar nicht sichtbaren Entschuldung der Mittelmeerländer auf deutsche Kosten möglichst diskret zurückzuweisen oder zu verzögern. Dass der deutsche Widerstand den "Märkten" nicht gefallen konnte, liegt auf der Hand.

Der zweite Problemkomplex schließt hier unmittelbar an. Aus der Perspektive der deutschen Regierung ist eine "Rettung" der Schuldnerländer mit deutschen Bürgschaften oder deutschem Geld nur gegen strikte und möglichst strafbewehrte Auflagen für deren künftige Haushaltsführung denkbar. Die dafür erforderlichen Institutionen aber standen und stehen in den europäischen Vertragswerken nicht zur Verfügung, und freiwillige Selbstverpflichtungen durch Regierungschefs wie Papandreou oder Berlusconi konnten die Lücke nicht schließen, selbst wenn sie ernsthaft gegeben worden wären. Ebenso wie die französische Regierung 2011 einen großen Teil ihrer Zeit darauf verwendete, immer neue Formen eines möglichst unauffälligen zwischenstaatlichen Finanztransfers zu erfinden, wurde in Deutschland nach Möglichkeiten einer wirksamen, zugleich aber die Gefühle der Betroffenen schonenden institutionellen Verankerung von Austerität in den Schuldnerländern gesucht, die man der heimischen Öffentlichkeit als Garantie dafür anbieten konnte, dass von Deutschland gegebene Bürgschaften nicht in Anspruch genommen werden müssten und sich die disziplinlose Kreditaufnahme des vergangenen Jahrzehnts nicht wiederholen würde. Die Schwierigkeit dabei war und ist, dass Institutionen dieser Art nicht nur in Brüssel, sondern auch in den betroffenen Ländern selber und dort sehr wahrscheinlich gegen den Widerstand der Bevölkerung geschaffen werden müssten, etwa in Gestalt von konstitutionellen "Schuldenbremsen".

Hinzu kommt, dass Änderungen der europäischen Verträge erfahrungsgemäß Jahre dauern und an nur einem einzigen Mitgliedstaat scheitern können, während die Verhinderung einer Insolvenzkrise im Mittelmeerraum immer dringlicher wurde und wahrscheinlich auch ohne vorherige Garantien der geforderten strikten Haushaltsdisziplin in den Schuldnerländern wird stattfinden müssen. In der Tat war 2011 die Angst der deutschen Regierung deutlich zu erkennen, bei einer Zuspitzung der Krise in Vorleistung gehen zu müssen und dafür dann bei der fälligen Vertragsrevision keine Gegenleistungen mehr verlangen zu können.

Allerdings, und drittens, wäre es mit lediglich ordnungspolitischen Eingriffen in das Regelwerk der Europäischen Währungsunion ohnehin nicht getan. Auch wenn, was wahrscheinlich ist, die sich abzeichnenden Rettungsinterventionen als Notstandsmaßnahmen des deutsch-französischen Direktoriums stattfinden werden, werden sie weitreichende Folgen für die künftige institutionelle Struktur nicht nur der Währungsunion, sondern der EU insgesamt und für die in ihr herrschende Machtbalance haben. Europapolitisch ist die gegenwärtige Schuldenkrise zweifellos das, was man in der Sprache des historischen Institutionalismus eine critical juncture nennt. Jeder Schritt, den die Akteure heute tun, wird Folgen haben für das künftige Verhältnis zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Mitgliedsländern, zwischen Nationalstaaten und Europäischer Kommission, zwischen der in Entstehung begriffenen intergouvernementalen "Wirtschaftsregierung" und der EZB, zwischen europäischen Institutionen und weltweiten Finanzmärkten und, nicht zuletzt, zwischen staatlicher Souveränität und Demokratie, auf nationaler ebenso wie auf supranationaler Ebene. Dabei spricht alles dafür, dass es eine Neuformierung des integrierten Europa als Austeritätsgemeinschaft geben wird, in Weiterentwicklung seiner mit dem Vertrag von Maastricht besiegelten Verwandlung in eine Liberalisierungsgemeinschaft. Die Frage, die dabei zur Beantwortung ansteht, ist keine geringere als die, wie die zukünftige EU mit der auf absehbare Zeit zementierten Übermacht der internationalen Finanzmärkte, dem enormen wirtschaftlichen Gefälle zwischen ihren Mitgliedstaaten, der wirtschaftlichen und politischen Dominanz Deutschlands, dem entsprechenden und sich bereits abzeichnenden Bedeutungsverlust der Kommission sowie der Neutralisierung der nationalen Demokratie durch inter- und supranationale Institutionen, die in erster Linie den Kapitalmärkten verpflichtet sind, umgehen wird.

Zerbricht die Währungsunion?

Ließe sich die Krise dadurch beenden, dass Griechenland und, wenn nötig, andere Schuldnerländer aus der Währungsunion ausscheiden? Tatsächlich hat ja die gemeinsame Währung die schwächeren Mitglieder der Eurozone ein Jahrzehnt lang daran gehindert, wie früher periodisch ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertung wiederherzustellen. Dennoch scheint es in Griechenland, Spanien und Portugal bis jetzt keine nennenswerten Bestrebungen in Richtung einer Rückkehr zu nationaler Währungsautonomie zu geben. Dies dürfte vordergründig an den unabsehbaren Risiken eines Austritts oder Ausschlusses liegen, insbesondere der Möglichkeit eines Zusammenbruchs des jeweiligen Bankensystems, dem zu erwartenden faktischen Ausschluss aus dem internationalen Finanzsystem und einer Entwertung der Ersparnisse der noch im Lande verbliebenen Vermögen. In Griechenland scheint es insbesondere die von den politischen Parteien vor allem repräsentierte Mittelschicht zu sein, die unter allen Umständen in der Währungsunion bleiben will. Man kann vermuten, dass dies auch an der durch den Euro symbolisierten Zugehörigkeit zu den wohlhabenden und demokratischen Gesellschaften Westeuropas liegt. Insbesondere bei den politischen Eliten dürfte auch die Erwartung eine Rolle spielen, dass die reichen Mitglieder der Währungsunion auch in Zukunft in irgendeiner Form Ausgleichszahlungen an die weniger reichen werden leisten müssen und leisten werden.

Auch der Norden des Kontinents, nicht zuletzt Deutschland, würde sich mit einer Entlassung des Südens in eine erneuerte nationale Währungsautonomie schwer tun. Wenn die griechischen Banken die Auswanderung aus dem Euroland nicht überstehen sollten, müsste eine unabsehbare Anzahl nordeuropäischer Banken gerettet werden, vor allem in Frankreich. Niemand weiß, was das die Steuerzahler und die "Realökonomie" des Nordens kosten würde - vermutlich nicht weniger und wahrscheinlich mehr als die Übernahme der griechischen Staatsschulden durch die EZB oder irgendeinen "Rettungsschirm". Auch die Exportsektoren der Nordstaaten, Deutschlands vor allem, wären betroffen; für sie sind die Fixierung der Wechselkurse innerhalb der Währungsunion und der durch die südlichen Länder gedrückte Kurs des Euro nach außen jeden - ohnehin von den Steuerzahlern ihrer Länder - zu entrichtenden Preis wert. In diesem Sinne und mit dieser Begründung fordern auch die deutsche Sozialdemokratie und die deutschen Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, was sie "europäische Solidarität" nennen - die für sie einschließt, dass deren Empfänger sich bis auf weiteres fiskalisch und sozialpolitisch unter Brüsseler Kuratel stellen lassen müssen.

Angela Merkels durchaus rätselhaftes Diktum, "Scheitert der Euro, so scheitert Europa", dient gewiss auch dazu, das national und international immer wieder verlangte "leidenschaftliche Bekenntnis" zur europäischen Einigung abzugeben. Zugleich aber deutet es an, dass Deutschland als Exportland an einem Europa ohne feste Wechselkurse das Interesse verlieren könnte. Und schließlich und vor allem soll es wohl innerhalb Deutschlands die Angst vor außenpolitischer Isolation in der Mitte Europas wachhalten, diesmal als Folge eines mangelnder deutscher Nachgiebigkeit zugerechneten Scheiterns der Währungsunion. Unser Eindruck ist, dass die deutsche Regierung aus wirtschaftlichen wie politischen Gründen bereit ist, für den Fortbestand der Währungsunion erhebliche Opfer zu bringen, und dass die gegenwärtigen Auseinandersetzungen vor allem darum geführt werden, wie hoch der von Deutschland zu entrichtende Preis sein wird und ob institutionelle Formen gefunden werden können, die diesen gegenüber der deutschen Wählerschaft möglichst verstecken. Allerdings muss das nicht heißen, dass die Währungsunion am Ende nicht doch scheitern könnte: Unter den gegenwärtigen turbulenten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sind Unfälle jederzeit möglich.

Rückkehr des Neo-Funktionalismus

Viel spricht dafür, dass die kommenden Jahre eine erneute Beschleunigung des durch die Volksabstimmungen über den Verfassungsvertrag ins Stocken geratenen europäischen Integrationsprozesses bringen werden, und zwar trotz dramatisch gesunkener Europa-Begeisterung der Bevölkerung. Schon in der Vergangenheit funktionierte die europäische Integration ja dann am besten, wenn sie sich unabhängig vom Willen der Europäer durch "Überschwappen" (spill-over in der Sprache der neo-funktionalistischen Integrationstheorie ) aus bereits integrierten Bereichen in noch nicht integrierte Nachbarbereiche vollzog. Etwas von dieser Art scheint zurzeit in Gestalt einer von den Geberländern Deutschland und Frankreich erzwungenen, schleichenden Erweiterung der Währungs- in eine Fiskalunion, mit oder ohne Vertragsänderung, und damit in der Tat in eine Art von "politischer Union" bevorzustehen. Dies jedenfalls ist das immer weniger unausgesprochene Versprechen einer wachsenden Zahl von Europa- und anderen Politikern, die nach einer attraktiven politischen Begründung für die Verteidigung der Währungsunion suchen. Allerdings vermuten wir, dass das Ergebnis jedenfalls den Wünschen derer kaum entsprechen wird, die sich das geeinte Europa als einen demokratischen, die sozialen Rechte seiner Staatsbürger schützenden Verfassungsstaat vorstellen.

Die sich abzeichnende Erweiterung der Währungsunion zu einer Fiskalunion wird davon geprägt sein, dass Nord- und Südeuropa nach mehr als zehn Jahren gemeinsamer Währung wie in einer unglücklichen Ehe weder ohne einander noch miteinander auskommen können. Zwei lange verdrängte Sachverhalte fordern heute ihr Recht: dass eine Währungsunion unter Ungleichen immer auch eine Transferunion sein muss, weil ohne eine Art von Länderfinanzausgleich unterschiedlich leistungsfähige Regionen immer weiter auseinanderwachsen müssen, und dass die Mitgliedschaft in einer internationalen Transferunion auf Kosten der fiskalischen Selbstbestimmung sowohl der Empfänger- als auch der Geberländer geht. Was jetzt "Rettungsschirm" heißt, wird, wenn die Rettung gelingt, in irgendeiner Form unter neuem Namen, etwa als neuer "Marshallplan", weiterbestehen. Um Dauerversuchungen für andere wirtschaftlich schwache Staaten auszuschließen, wird es darüber hinaus der Institution eines europäischen Finanzministers, oder besser Finanzkommissars, bedürfen. Zugleich müsste die Politik im Norden ihre Wähler dazu bewegen, Transfers in die südlichen und später vermutlich auch die südöstlichen und östlichen Regionen der Union zuzulassen, während ihnen gleichzeitig einschneidende "Reformen" ihrer sozialen Rechte zugemutet werden.

Beides dürfte die europäische Politik, staatlich wie zwischenstaatlich, extremen Belastungen aussetzen. Anders als in einem national verfassten Währungsgebiet muss in der EU finanzielle Disziplin gegenüber nominell souveränen Nationalstaaten durchgesetzt werden. Dies kann nur eine äußerst prekäre Operation sein, mit einem äußerst begrenzten Legitimitätsvorrat. Die Suspendierung der parlamentarischen Demokratie in Griechenland und Italien hat dort Technokraten an die Regierung gebracht, die, wenn sie die ihnen von außen diktierten fiskalischen Auflagen durchzusetzen versuchen, als Agenten der internationalen Finanzmärkte, der Brüsseler Behörden oder der deutschen Bundesregierung erscheinen können. Schon jetzt sind Deutschland und seine Kanzlerin bei der Bevölkerung der Mittelmeerländer wegen ihrer als starr, unbarmherzig und arrogant wahrgenommenen Haltung zunehmend verhasst. Der Zeitpunkt ist abzusehen, an dem sich Demonstrationen und Generalstreiks sich nicht mehr gegen die einheimische, sondern gegen die deutsche Regierung richten werden. Möglicherweise ist in Berlin und Brüssel in Vergessenheit geraten, dass Demokratie nicht nur Forderungen und Ansprüche hervorbringt, sondern auch besser als Technokratien und Protektoratsverwaltungen geeignet ist, Enttäuschungen zu verarbeiten. Dass Kommissionspräsident José Manuel Barroso oder Merkel eine Menschenmenge auf dem Syntagma-Platz oder der Piazza Navona davon überzeugen könnten, dass sie sich auf Jahrzehnte mit höheren Steuern, niedrigeren Renten und steigenden Krankenkassenbeiträgen abfinden soll, ist nur schwer vorstellbar. Vorstellbar ist hingegen, dass die gegenwärtigen Technokratien als government of last resort ihre Legitimation bald einbüßen und eine Situation der demokratischen Unregierbarkeit entsteht, in der es statt um Demokratie nur noch um die Herstellung von Ordnung geht.

Wäre es denkbar, einen zukünftigen europäischen Finanzausgleich so zu organisieren, dass er wirken würde wie angeblich der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg: als Auslöser aufholenden und angleichenden Wachstums? Die historische Erfahrung spricht dagegen. Die Strukturfonds der EU haben die Wettbewerbsfähigkeit der Mittelmeerstaaten in der Vergangenheit nicht dauerhaft verbessern können, und ihre Ablösung durch billige Kredite nach Einführung des Euro hat überwiegend Spekulationsblasen und Scheinwachstum hervorgebracht. Auch in Deutschland, innerhalb eines konsolidierten Nationalstaats mit vergleichsweise starken zentralen Eingriffsmöglichkeiten, haben in den mehr als zwei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung öffentliche Subventionen in einer Höhe, wie sie zwischenstaatlich selbst in Europa völlig unvorstellbar wäre, die angestrebte Angleichung von Wirtschaftskraft und Einkommen in Ost und West nicht bewirken können.

Noch dramatischer und einschlägiger ist die Situation in Italien, wo der Mezzogiorno seit mehr als einem halben Jahrhundert wie ein Klotz am Bein der nationalen Politik hängt, trotz kostspieligster Anstrengungen, ihn in die moderne (nord-)italienische Wirtschaftsgesellschaft zu integrieren. Mittlerweile wird immer öfter gefragt, ob das Steckenbleiben des Modernisierungsprozesses im Süden Italiens nicht durch die Subventionspolitik des italienischen Zentralstaats mitverursacht worden ist, etwa dadurch, dass finanzielle Transfers statt für Investitionen in eine moderne Infrastruktur dazu verwendet wurden, die politische Loyalität der alten Oberschichten und mit ihr die Wählerstimmen der in semi-feudalen Verhältnissen festsitzenden Landbevölkerung zu kaufen. Im Übrigen war die großzügige Alimentation des italienischen Südens durch den Zentralstaat lange Zeit nur mit Hilfe der Regionalfonds der EU möglich. Seit diese ausbleiben, hat sich der Widerstand der Wähler im Norden gegen die Unterstützungszahlungen an den Süden zu einem hoch brisanten Sezessionismus weiterentwickelt. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu vermuten, dass diese kritische Schwelle im Verhältnis zwischen europäischen Nationalstaaten schneller erreicht würde als innerhalb des immerhin durch die gemeinsame Erfahrung einer nationalen Revolution zusammengehaltenen italienischen Nationalstaats.

Nationale Demokratie, supranationale Regierung

Die bevorstehende vertragliche oder faktische Weiterentwicklung der Europäischen Währungsunion in eine Fiskalunion neuen Typs dürfte auf einen Neustart des europäischen Integrationsprozesses hinauslaufen. Die ever closer union, die heute im Entstehen begriffen zu sein scheint, wird die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten mehr denn je einschränken; in den Augen überzeugter "Europäer", aber auch in denen der "Märkte", ist das eine gute Nachricht. Als Problem könnte freilich gelten, dass zusammen mit der nationalen Souveränität auch die Effektivität der nationalen Demokratie beschnitten wird; nur ein in seiner Willensbildung souveräner Staat kann ja zugleich ein demokratischer Staat sein. In den Empfängerländern der sich abzeichnenden europäischen Finanzverfassung werden Haushaltskommissare und Repräsentanten der internationalen Finanzmärkte diktieren, welcher Teil des Sozialprodukts in den kommenden Jahrzehnten noch für sozialpolitische Modifikationen von Marktresultaten zur Verfügung stehen wird. Zugleich muss in den Geberländern durch internationale Verpflichtungen und durch vor dem Druck des Volkes geschützte nationale Institutionen gesichert werden, dass der zu erwartende Unwille der Wähler über ihre nicht enden wollende Besteuerung zugunsten ihrer nationalen Exportindustrien und der Währungsunion nicht auf die Haushalts- und Europapolitik der demokratisch gewählten Regierungen durchschlagen kann.

Ob die zurzeit in die Wege geleitete technokratische Disziplinierung der europäischen Nationen zur Durchsetzung von Austerität im Süden und Kollektivhaftung ("Solidarität") im Norden gelingen wird, steht dahin. Die Alternative allerdings - eine Verschiebung der auf nationaler Ebene gegenstandslos werdenden Demokratie auf die supranationale Ebene, um derentwillen demokratisch inspirierte Integrationsbefürworter die Erosion der nationalen Demokratie ebenso sehnlich herbeiwünschen wie die Kapitalmärkte und die Brüsseler Technokraten - erscheint illusorisch, weil sie vielleicht nicht für die Empfänger-, auf jeden Fall aber für die Gebernationen und ihre Wirtschaft unakzeptabel wäre. So bleibt die Demokratie in Europa eng an den Nationalstaat und seine Souveränität gebunden, die im Begriff sind, in der sich unter dem Krisendruck weiterentwickelnden Währungs- und Fiskalunion und einer nach den Bedürfnissen der internationalen Finanzindustrie geformten politischen Union gemeinsam unterzugehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein Anstieg, der bekanntlich auf die Rettung der nationalen Bankensysteme und die Konjunkturprogramme zur Sicherung der Beschäftigung während der globalen Finanzkrise zurückging.

  2. Haftung für die Verschuldung anderer Mitgliedstaaten.

  3. Auch die Risikoaufschläge stiegen weiter. Mitte November waren die Unterschiede zu den deutschen Risikoaufschlägen für alle Euro-Staaten höher als je zuvor nach Einführung der gemeinsamen Währung; für Italien lagen sie bei 5,2 und für Spanien bei 4,5 Prozent.

  4. Vgl. George Soros, The Crisis & the Euro, in: The New York Review of Books, 57 (2010) 13.

  5. Vgl. Richard Swedberg, How the European Debt Crisis Got Out of Control, unveröffentlichtes Manuskript 2011.

  6. Dies gilt auch nach den Gipfel-Beschlüssen vom 11. Dezember 2011, die für diesen Artikel nicht mehr im Einzelnen berücksichtigt werden konnten. Allerdings ändern sie an den hier vertretenen Einschätzungen ebenso wenig wie sie die "Märkte" und die Ratingagenturen beeindrucken konnten. Wie nach den vorangegangenen Gipfeln ging das Spiel mit den Länderratings und Refinanzierungs-Zinssätzen weiter, obwohl die Regierungschefs, wenn auch eher stillschweigend, endgültig auf eine Beteiligung der Investoren an der Sanierung der Schuldnerstaaten verzichteten. Darüber hinaus verständigte sich der Gipfel auf schärfere Sanktionen für Euro-Staaten mit zu hoher Neuverschuldung sowie auf einen Austeritätspakt zwischen den Mitgliedstaaten der EU, mit Euro oder ohne, nach Art der deutschen Schuldenbremse. Wegen des Widerstands Großbritanniens soll dieser völkerrechtlich statt europarechtlich vereinbart werden. Ferner wurden die diversen "Rettungsschirme" weiter ausgebaut und zusätzliche Unterstützungszahlungen an die Schuldnerländer beschlossen, die über den Internationalen Währungsfonds geleitet werden sollen. Schon wenige Tage nach dem Gipfel tauchten Zweifel auf, ob die geplanten Maßnahmen überhaupt politisch durchsetzbar und rechtlich haltbar sein und wie sie überhaupt im Kleingedruckten aussehen würden - von ihrer langfristigen wirtschaftlichen oder gar kurzfristigen fiskalischen Wirksamkeit ganz zu schweigen.

  7. Nach dem Ende der griechischen Obristenherrschaft und im Zuge der portugiesischen Nelkenrevolution (1974) sowie nach dem Tod Francos (1975). In Italien stand damals die Aufnahme der Kommunistischen Partei in die Regierung zur Debatte, was zu einem "eurokommunistischen" Mittelmeerraum geführt hätte.

  8. Der Stand Anfang Dezember 2011 waren Überlegungen, die Pflichten der zu "rettenden", vom Bankrott bedrohten Schuldnerländer durch zwischenstaatliche Verträge unterhalb der Gemeinschaftsebene festzulegen, nach Art des "Schengen-Abkommens". Hilfsgelder oder Bürgschaften würden nur Staaten gewährt, die entsprechende Verträge unterschreiben. Vgl. das Interview mit Ex-Außenminister Joseph Fischer unter der Überschrift "Vergesst diese EU", in: Zeit-Online vom 19.11.2011: www.zeit.de/2011/46/Interview-Fischer (5.12.2011).

  9. Vgl. Ruth Berins Collier/David Collier, Shaping the Political Arena: Critical Junctures, the Labor Movement, and Regime Dynamics in Latin America, Princeton 1991.

  10. Vgl. Martin Höpner/Armin Schäfer, A New Phase of European Integration: Organized Capitalism in Post-Ricardian Europe, in: West European Politics, 33 (2010) 2, S. 344-368.

  11. Vgl. Fritz W. Scharpf, Monetary Union, Fiscal Crisis and the Pre-Emption of Democracy, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 9 (2011) 2, S. 163-198.

  12. Das operative Wort heißt hierzulande "durchgreifen" und wird von der Bundeskanzlerin ebenso oft und gerne verwendet wie von der SPD- oder der IG Metall-Führung. Vgl. auch den Unternehmensberater Roland Berger im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 15.11.2011: "Dazu bedarf es aber auch eines europäischen Finanz- und Wirtschaftsministers und eines europäischen Haushaltskommissars, die tatsächlich durchgreifen können." Hierzu der französische Ökonom Jean-Paul Fitoussi in der New York Times vom 2.11.2011: "It's as if the Europeans - or Merkel and Sarkozy alone - believed that they were in control of the people of Greece. But this is a democracy. In Greece, and even in Italy, you cannot expect to rule without the support and consent of the people. And you can't impose an austerity program for a decade on a country, and even choose for them the austerity measures that country must implement."

  13. Das Gründungsdokument der Schule ist Ernst B. Haas, The Uniting of Europe, Stanford 1958.

  14. Ein erheblicher Unterschied zu den USA besteht darin, dass es keinen europäischen Arbeitsmarkt gibt und geben wird. Aufgrund sprachlicher und anderer kultureller Unterschiede ist die Arbeitskräftemobilität trotz formaler Freizügigkeit viel geringer, so dass ein wirtschaftlicher Ausgleich über sie nicht stattfinden kann.

  15. Vgl. Fiona Ehlers et al., Unheimlich deutsch, in: Der Spiegel Nr. 49 vom 5.12.2011, S. 108 ff.

  16. Der "Rettungsplan" des deutschen Sachverständigenrats vom Oktober 2011 sieht vor, den italienischen Zinssatz auf Staatsanleihen mit europäischen Mitteln von sieben auf vier Prozent herunter zu subventionieren. Wie Italien sich auf dieser Grundlage sanieren soll, erklärte Sachverständigenratsmitglied Beatrice Weder di Mauro in der Süddeutschen Zeitung vom 14.11.2011: "Italien würde (...) dennoch einen harten Sparkurs fahren und etwa 4,5 Prozent Primärüberschuss über 25 Jahre erzielen müssen." Also über ein Vierteljahrhundert. Damit es dem Leser nicht die Sprache verschlägt, fährt Weder di Mauro fort: "Machbar ist das." Allerdings setzt die Realisierung von Omnipotenzfantasien dieser Art als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung einen gegenüber seinen Bürgern omnipotenten Staat voraus.

  17. Vgl. Fritz W. Scharpf, Integration versus Legitimation: Der Euro. Thesen, unveröffentlichtes Manuskript 2011; Wolfgang Streeck, A Crisis of Democratic Capitalism, in: New Left Review, (2011) 71, S. 1-25.

Dr. phil. Dr. h.c., geb. 1946; Geschäftsführender Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (s.o.); Professor am Seminar für Soziologie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln. E-Mail Link: streeck@mpifg.de

Dr. phil., geb. 1967; Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG); Professor am Seminar für Soziologie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln; MPIfG, Paulstraße 3, 50676 Köln. E-Mail Link: beckert@mpifg.de