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Vergnügen in der Zeitgeschichte

Hanno Hochmuth

/ 15 Minuten zu lesen

In der zeitgeschichtlichen Forschung sollte auch der historische Wandel der modernen Vergnügungskultur berücksichtigt werden. In der konsequenten Historisierung liegt die spezifische Aufgabe einer Zeitgeschichte des Vergnügens.

Einleitung

Als Hans Rothfels im Jahre 1953 den Begriff der Zeitgeschichte als Epoche der Mitlebenden und deren wissenschaftliche Behandlung definierte, hatte er gewiss nicht das Vergnügen im Sinn. Der Gründungsfigur der westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung ging es vielmehr um das persönliche Betroffensein von den großen politischen Umwälzungen eines universalen Zeitalters, das für ihn im Jahr 1917 begonnen hatte. Wenn wir Zeitgeschichte hingegen mit Thomas Lindenberger gleichsam als Epoche der Mithörenden und Mitsehenden verstehen, dann müssen wir auch die Vergnügungskultur in den Blick nehmen. Denn im audiovisuellen Zeitalter, das etwa zeitgleich mit Rothfels' Epochenzäsur eingesetzt hat, dienen die neuen Massenmedien nicht nur der Vermittlung und Verstärkung politischer Ereignisse und Entwicklungen, sondern vor allem auch der Unterhaltung und dem Vergnügen.

In der Tat erinnern viele Zeitgenossen die jüngere Geschichte vor dem Hintergrund ihrer eigenen popkulturellen Sozialisation. Der gegenwärtige Retrotrend ist insofern mehr als nur eine geschickte Vermarktungsstrategie zur Wiederverwertung früherer Moden und Ausdrucksformen. Er reagiert auch darauf, dass viele Menschen ihre "Zeitheimat" nicht allein an politischen Erfahrungen oder sozialen Errungenschaften festmachen, sondern auch an prägenden Unterhaltungsangeboten, an denen sie zum Teil ihr Leben lang festhalten. Dies gilt in besonderem Maße für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die moderne Massen- und Vergnügungskultur ihren Durchbruch errang und den Alltag der meisten Menschen nachhaltig prägte. Es ist daher wichtig, dass sich auch die zeithistorische Forschung, nachdem sie sich aus gutem Grund lange vorrangig mit den Schattenseiten der deutschen Geschichte beschäftigt hat, dem Thema Vergnügen zuwendet, das zuvor eher in anderen Disziplinen wie der Kulturanthropologie, der Medien- und Literaturwissenschaft und den Cultural Studies untersucht wurde.

Die Etablierung des Forschungsfeldes Vergnügen in der Zeitgeschichte ist indes mit einigen Schwierigkeiten verbunden. So handelt es sich beim Begriff "Vergnügen" zunächst um eine affektive subjektive Rezeptionshaltung, also um ein eher flüchtiges Moment, dem mit den gängigen geschichtswissenschaftlichen Methoden nur schwer beizukommen ist. Vergnügen ist ein aktiver Prozess, der am besten in der reflexiven Verbform "sich vergnügen" zum Ausdruck kommt. Dies gilt gleichermaßen für ein ganzes semantisches Feld von verwandten Begriffen, die alle mehr oder weniger das Gleiche meinen können: unterhalten, feiern, amüsieren, entspannen. Das Problem an diesen Tätigkeits- und Gefühlsumschreibungen ist jedoch, dass sie auf den ersten Blick eine anthropologische Unveränderlichkeit suggerieren. Eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung des Vergnügens in der Zeitgeschichte zielt jedoch vor allem auf den Wandel des Vergnügens, das einer Historisierung bedarf. Ergänzend zum Begriff des "Vergnügens" soll im Folgenden daher auch von Vergnügungskultur die Rede sein, um so den jeweiligen historischen Ort des Vergnügens genauer zu bestimmen.

Doch auch im Hinblick auf den Begriff "Vergnügungskultur" gibt es mehrere Bezeichnungen, die häufig synonym gebraucht werden. Der Begriff der "Freizeitkultur" betont eine wichtige Voraussetzung, um sich jenseits der Arbeitswelt zu vergnügen, klammert jedoch aus, dass Vergnügen für viele Anbieter auch Arbeit bedeutete. "Massenkultur" akzentuiert die enorme Verbreitung der Vergnügungsangebote im 20. Jahrhundert, schleppt jedoch in gewisser Hinsicht immer noch den "Schund"-Diskurs mit sich, den die bürgerlichen Eliten zur Delegitimierung der "Massendemokratie" führten. "Populärkultur" wird meist ähnlich verwendet und bezeichnet nach Kaspar Maase die "verbreitete und im Gegensatz zur Hochkultur eingeordnete kommerzielle Kunst und Unterhaltung". In dieser Abgrenzung zur so genannten "ernsthaften" Kunst liegt das Problem, dass der Begriff der "Populärkultur" wie derjenige der "Unterhaltung" eine binäre Kategorie darstellt, die den konstruierten Gegensatz von "U- und E-Kultur" ungewollt perpetuiert. Demgegenüber ist "Vergnügungskultur" ein offenerer Begriff, der zudem nicht nur die leichter fassbare Angebotsseite betont, sondern auch die Praktiken und die Rezeption des Vergnügens in den Blick nimmt.

Vergnügungskultur wird hier als die Summe dessen verstanden, was zu einer bestimmten Zeit als Vergnügen angeboten, praktiziert und wahrgenommen wurde. Dabei zielte die Vergnügungskultur meist auf kommerziellen Erfolg und richtete sich an ein breites Publikum, das sich die unterhaltsamen Angebote auf eigensinnige Weise aneignete. Vergnügungskultur war in der Regel öffentlich zugänglich, umfassend verfügbar und häufig Gegenstand politischer Vereinnahmung, Kontrolle oder Ablehnung. Im Folgenden sollen einige Perspektiven auf die öffentliche, private und politische Dimension des Vergnügens vorgestellt werden, die in jüngeren Arbeiten zur Vergnügungskultur entstanden sind und Anknüpfungspunkte für die zeithistorische Forschung bieten können.

Öffentliches Vergnügen

Die moderne Vergnügungskultur entstand um 1900. Neben ältere Formen des Vergnügens wie Wirtshäuser, Sommergärten und das Theater traten neue Angebote wie Tanzpaläste, Vergnügungsparks und vor allem das Kino. Während der langen Jahrhundertwende (etwa 1870-1930) erlebte das Vergnügen eine beispiellose Expansion. Dabei handelte es sich in erster Linie um urbanes Vergnügen, denn die moderne Vergnügungskultur entstand zunächst in den Großstädten und verwandelte diese mitunter erst in Metropolen. Voraussetzung hierfür waren die Urbanisierung und die Ausdehnung und Abtrennung der Freizeit, die eine neuartige Unterhaltungsindustrie entstehen ließen. Dieses urbane Vergnügen war um die Jahrhundertwende zumeist ein öffentliches, denn wer die vielfältigen Unterhaltungsangebote genießen wollte, musste sich in der Regel in den öffentlichen Raum begeben.

Diese Grundzüge der Vergnügungskultur um 1900 werden untersucht in einem Band über die "Tausend Freuden der Metropole". Den Herausgebern und Autoren geht es zum einen um die konsequente Verräumlichung des Vergnügens im Sinne des spatial turns. So werden einzelne Orte, Räume und Schauplätze des metropolitanen Vergnügens in den Blick genommen, mit anderen Stadtvierteln, Städten oder Metropolen verglichen und auf Transferbeziehungen untersucht. Zum anderen wird argumentiert, dass die moderne Vergnügungskultur nicht nur ein Resultat der raschen Verstädterung um 1900 war, sondern umgekehrt auch zur "inneren" Urbanisierung beigetragen habe, indem sie Erfahrungen der Großstadtbewohner aufgriff und das neuartige Leben in der Stadt zum Thema machte.

Ein sozialhistorisch bedeutsamer Aspekt der modernen Vergnügungskultur, der sich um die Jahrhundertwende herauszubilden begann, war das egalisierende Potenzial des großstädtischen Vergnügens. Die Vergnügungsorte stellten einen öffentlichen Raum dar, in dem verschiedene soziale Schichten relativ konfliktfrei zusammenkommen konnten. Dies galt nicht nur für die einschlägigen innerstädtischen Vergnügungsviertel, die sowohl Touristen als auch Besucher aus der ganzen Stadt anzogen, sondern auch für gewöhnliche Wohnbezirke, in denen die soziale Segregation durch schichtenübergreifende Vergnügungsangebote punktuell überwunden wurde. Dieses "Kiezvergnügen" in der Metropole, zu dem vor allem Kneipen, Theater und Kinos gehörten, konnte somit ein Raum der sozialen Begegnung sein und sozialintegrativ wirken. Auf der anderen Seite gab es jedoch auch Vergnügungsorte, welche die sozialen Trennlinien abbildeten und reproduzierten. Pierre Bourdieu hat prägnant hervorgehoben, dass im Konsum von Unterhaltungsangeboten ganz besonders auf die "feinen Unterschiede" geachtet wurde. Dass das Vergnügen umgekehrt auch zur Nivellierung sozialer Ungleichheit und zur Integration von Minoritäten und Migranten beigetragen hat, ist dagegen eine neu formulierte Erkenntnis der Metropolenforschung. Die moderne Vergnügungskultur diente also sowohl der Distinktion als auch der sozialen Inklusion.

Beim öffentlichen Vergnügen um die Jahrhundertwende handelte es sich in vielen Fällen um Freilichtvergnügen. Hierzu zählten die zahlreichen Sportveranstaltungen unter freiem Himmel, die vielen Bier- und Sommergärten sowie die regelmäßigen Hof- und Straßenfeste. Ein großer Teil dieser Vergnügungen hat im Laufe des 20. Jahrhunderts entweder seinen Charakter gewandelt oder ist ganz verschwunden. Das gilt etwa für die traditionellen Volksfeste oder für die klassischen Vergnügungsparks in den Großstädten, die zur Jahrhundertmitte in eine große Krise gerieten und als Themen- und Erlebnisparks auf dem Lande wiedererfunden wurden. Dies verweist auf den anhaltenden Trend zur Erlebnisorientierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von dem nicht nur etablierte Vergnügungsorte wie das Kino (Lasershows) oder das Fußballstadion (Fankultur) erfasst wurden, sondern auch vormals streng bürgerliche Bildungsinstitutionen wie das Museum (Lange Nacht der Museen) oder das Symphonieorchester (Klassik Open Air), die sich der modernen Eventkultur geöffnet haben und damit selbst öffentliche Orte des populären Vergnügens geworden sind.

Privates Vergnügen

Der wichtigste Trend in der Zeitgeschichte der Vergnügungskultur war die zunehmende Verhäuslichung des Vergnügens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hierzu trugen vor allem das Radio und das Fernsehen, aber auch die neuen privaten Abspielmöglichkeiten für unterschiedliche Ton- und Bildträger bei. Damit expandierte das Vergnügen ins Private und fand seinen Raum in den eigenen vier Wänden. Das private Vergnügen war dabei nicht nur den neuen audiovisuellen Massenmedien, der Ausdehnung der Freizeit und der gestiegenen Kaufkraft geschuldet, sondern auch dem Leben in der Stadt. Denn erst die Stadt bot zunächst die Voraussetzung zu einer Entfaltung von Öffentlichkeit und Privatheit. Umgekehrt wirkte der private Konsum der Massenmedien zurück auf das Land. An der "inneren" Urbanisierung der Dörfer, Gemeinden und Kleinstädte im Verlaufe des 20. Jahrhunderts hatte das private Vergnügen, was sich heute kaum mehr von dem in der Stadt unterscheidet, einen großen Anteil, indem es auch auf dem Land die Trennung von öffentlichem Raum und Privatsphäre beförderte.

Die Kehrseite der zunehmenden Verhäuslichung des Vergnügens war der partielle Niedergang öffentlicher Vergnügungsorte. Das markanteste Beispiel hierfür ist das Kinosterben, das in der Bundesrepublik in dem Moment einsetzte, als das Fernsehen ab etwa 1957 seinen Siegeszug durch die deutschen Wohnzimmer antrat. Für das Fernsehen galt dabei wie zuvor schon für das Radio, dass die neuen audiovisuellen Massenmedien zwar zunächst als publizistische Medien konzipiert worden waren, die in erster Linie der Information und kulturellen Bildung der Bevölkerung dienen sollten. Genutzt wurden die neuen Medien jedoch vor allem zur Unterhaltung, die für die Mehrzahl der Radio- und Fernsehkonsumenten von Beginn an die Hauptsache darstellte. Die Mediengeschichte der Bundesrepublik und letztlich auch der DDR wird in vielen Untersuchungen als sukzessive Reaktion der Programmverantwortlichen auf den verbreiteten Publikumsgeschmack beschrieben. Beschleunigt durch die Einführung des dualen Rundfunksystems (Privatradios, RTL, Sat 1) passten sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter dem Wunsch nach Unterhaltung in starkem Maße an. Auch in dieser Hinsicht vollzog sich also eine starke Privatisierung des Vergnügens.

Deutlich wird hier die Macht der Konsumenten. Dies gilt nicht nur für das Radio und das Fernsehen, sondern auf sehr unmittelbare Weise auch für die neuen Tonträger. Die Platzierung in den Charts und die hieraus abgeleiteten Erfolgsaussichten beim Publikum entschieden darüber, was überhaupt produziert wurde. Zu Hause wiederum führten die neuen Abspiel- und Aufnahmegeräte (Tonbandgeräte, Kassettenrekorder, Walkman) zu einer immer stärkeren Selbstbestimmung der Musikkonsumenten, die nun selbst entscheiden konnten, was sie wann, wo und in welcher Zusammenstellung hören wollten. Dies ist die vielleicht prägendste Erfahrung privaten Vergnügens, die mehrere Generationen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf je eigene Art und Weise gemacht haben. Hiermit verbanden sich wiederum neue, stärker öffentlich angelegte Vergnügungsangebote wie Diskos und Rockkonzerte, für die in der Bundesrepublik ein differenzierter Markt entstand, über den nicht zuletzt auch die jugendlichen Konsumenten mit ihrer gestiegenen Kaufkraft entscheiden konnten. Der neue Massenkonsum von Vergnügungsangeboten hatte insofern durchaus einen demokratischen Aspekt.

Politisches Vergnügen

Vergnügen im 20. Jahrhundert besaß in mehrfacher Hinsicht eine politische Dimension. Bei der modernen Vergnügungskultur handelt es sich um mehr als nur ein vorpolitisches Konsumphänomen. So wurde in den Cultural Studies hervorgehoben, dass das populäre Vergnügen für die Konsumenten durchaus einen politischen Charakter besitzt, wenn es in einem widerspenstigen Verhältnis zur hegemonialen Ordnung steht. Hieran anknüpfend schreibt auch Uta G. Poiger in ihrer vergleichenden Studie zur Populärkultur in der deutschen Nachkriegszeit ganz im Sinne der feministischen 68er-Formel, dass das private Vergnügen an Jazz und Rock durchaus politisch war. Vor allem der Tanz zu den heißen Rhythmen des Rock'n'roll durchbrach die vorherrschenden Normen von race, class und gender und diente damit der politischen Emanzipation proletarischer Jugendlicher von einer gesellschaftlichen Werteordnung, die in Ost und West trotz des Systemgegensatzes noch tief in der Vorkriegszeit verwurzelt war.

Die politischen und pädagogischen Eliten reagierten auf die neuartige Vergnügungskultur der Nachkriegsjugend zunächst mit den gleichen Ressentiments und bekämpften das populäre Vergnügen als "Schund und Schmutz", weil es nicht den traditionellen bildungs- wie kleinbürgerlichen Vorstellungen von Kultur und gehobener Unterhaltung entsprach. In der DDR wurden die westlich orientierten juvenilen Vergnügungen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zudem als "ideologische Diversion des Klassenfeindes" gebrandmarkt und somit doppelt politisch aufgeladen. Dies verweist auf einen Grundzug der Vergnügungskultur im 20. Jahrhundert, der vielfach die Grundlage für deren quellenmäßige Überlieferung bildete: Das Vergnügen wurde stark politisiert, und zwar sowohl durch die rechte als auch durch die linke Kulturkritik. Während das konservative Establishment die populäre Vergnügungskultur zumindest bis zur Jahrhundertmitte als Beleg für die fehlende Reife der breiten Masse und damit als Argument gegen deren politische Partizipation anführte, versuchte die linke Kulturkritik im Kontext der Frankfurter Schule zu zeigen, dass die Vergnügungen der modernen kapitalistischen Kulturindustrie das Bewusstsein und das unabhängige Denken der Konsumenten manipulieren.

Tatsächlich dienten Vergnügungsangebote im 20. Jahrhundert auch zur politischen Manipulation der Massen. Erwähnt sei hier nur die gezielte Indienstnahme unterhaltsamer Genres für Propagandazwecke im Nationalsozialismus. Die politische Dimension des Vergnügens in der Zeitgeschichte geht jedoch weit über diesen Aspekt hinaus und vereint verschiedene Facetten; es konnte sowohl affirmativ als auch subversiv sein. Dies zeigt ein neuer Band zum Vergnügen in der DDR. Vergnügen wird hier weder ausschließlich als Instrument der Manipulation noch allein als Gegenwelt zur Diktatur verstanden, welche die Zwänge und Enge der DDR überlebbar werden ließ; es wird vielmehr als integraler Bestandteil des alltäglichen Lebens begriffen. So gab es staatliche Vergnügungen, die das Volk für den Staat und die Partei einnehmen sollten (FDGB-Urlaubsreisen), ebenso wie vermeintlich unpolitische Vergnügungen, die einen Freiraum von den vielfältigen Zumutungen der SED bildeten (FKK). Zum eskapistischen Vergnügen in der DDR gehörten nicht zuletzt der Alkohol und das Westfernsehen. Dabei sollte deren weit verbreiteter Konsum weder als Realitätsflucht noch als widerständiges Verhalten und Ursache für das Scheitern der DDR interpretiert werden. Der zunächst eher unpolitische Konsum von Alkohol und Westmedien konnte trotz seiner starken Politisierung durchaus auch systemstabilisierend wirken.

Auch in der Bundesrepublik wurden populäre Vergnügungen zunächst vielfach politisiert. Nur wichen hier die alten antiamerikanischen Reflexe gegenüber der "westlichen" Vergnügungskultur zunehmend einem offeneren Verhältnis. Neben der politischen Westintegration trug hierzu die marktwirtschaftliche Entdeckung der jugendlichen Konsumenten als zahlungskräftige und ernstzunehmende Käuferschicht populärer Vergnügungsangebote bei. Zudem wurde das deviante Verhalten juveniler Delinquenten, das sich vielfach mit populären Vergnügungen verband, nun in einem starken Maße als alterstypische und lediglich vorübergehende Erscheinung psychologisiert, entkriminalisiert und damit entpolitisiert. Auf diese Weise wurden die proletarischen Bevölkerungsschichten und ihr Verständnis von Vergnügen gesellschaftlich integriert. Klassengegensätze lösten sich in dem Maße auf, wie bürgerliche Eliten begannen, sich selbst auf spielerische Weise populären Vergnügungsangeboten zu öffnen. Insofern trug die Vergnügungskultur in der Bundesrepublik zur breiten Akzeptanz der westlichen Nachkriegsordnung bei.

Ausblick

Gegenwärtig wird in der zeithistorischen Forschung viel über den sozioökonomischen Strukturwandel seit den 1970er Jahren diskutiert. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass nach dem Ende der wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Expansion ein neuer Boom einsetzte. Trotz oder gerade aufgrund der vielfältigen neuen Krisenwahrnehmungen und Enttäuschungen erlebte die Vergnügungskultur in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten eine zweite Expansionsphase, die wiederum neue Arbeit generierte. Sie ist geprägt von der Diversifizierung und Digitalisierung des Vergnügens. Privatfernsehen, Multimedia und Internet verweisen nicht nur auf das Ende der Gutenberg-Galaxis, sondern stehen zunehmend auch für die tendenzielle Auflösung des Unterschieds von Anbietern und Konsumenten, deren Alltag und Freizeitverhalten sich fundamental verändert hat. Der Wandel der Vergnügungskultur ist somit schon für sich allein genommen ein wichtiger Gegenstand für die zeithistorische Forschung, der zudem die Erinnerung und die eigene historische Verortung der Zeitgenossen ernst nimmt.

Das Vergnügen in der Zeitgeschichte bietet darüber hinaus eine originelle Perspektive, um neue Antworten auf alte historische Fragen zu finden. Dies gilt nicht nur für so naheliegende Themen wie die Konsumgeschichte, sondern auch für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit oder für den Charakter und Wandel von Demokratie und Diktatur. So gewährt etwa die Untersuchung des Vergnügens in der DDR neue Einsichten in die gesellschaftlichen Widersprüche der zweiten deutschen Diktatur. Vergnügen als Gegenstand zeithistorischer Forschung darf dabei nicht mit apologetischer Schönfärberei verwechselt werden, denn das Vergnügen in der Zeitgeschichte war ebenso den Herrschaftsstrukturen unterworfen, wie es zu deren Veränderung beitragen konnte. Auch die traditionell politikzentrierte Zeitgeschichtsschreibung sollte daher die Geschichte des Vergnügens mit einbeziehen.

Neben der politischen Dimension des Vergnügens gibt es weitere Dimensionen, die für die zeithistorische Forschung relevant sind. Die Frage nach der Ästhetik des Vergnügens im 20. Jahrhundert erscheint ebenso vielversprechend wie eine Untersuchung der körperlichen Dimension des Vergnügens und der Kommodifizierung der Konsumenten, die etwa danach fragen würde, warum Menschen begannen, sich gezielt einer existenziellen Angst auszusetzen, indem sie sich freiwillig in eine Achterbahn begaben oder an einem Bungeeseil in die Tiefe stürzten. Im neuen Feld der Geschichte der Emotionen sollte neben Phänomenen wie Ehre und Liebe auch das Gefühl des Vergnügens berücksichtigt werden. Dabei kommt es jeweils darauf an, das Vergnügen auf seinen historischen Wandel hin zu untersuchen. In dieser konsequenten Historisierung liegt die spezifische Aufgabe einer Zeitgeschichte des Vergnügens.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1 (1953) 1, S. 1-8.

  2. Vgl. Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen, 1 (2004) 1, S. 72-85.

  3. Vgl. Simon Reynolds, Retromania. Pop Culture's Addiction to its Own Past, London 2011.

  4. Der Begriff der "Zeitheimat" bildete einen zentralen Diskussionsgegenstand auf der wissenschaftlichen Konferenz "Pop-History. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären", die vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam in Verbindung mit dem Arbeitskreis Popgeschichte veranstaltet wurde und vom 3. bis 5.11.2011 in Berlin stattfand.

  5. Für die kulturanthropologische Forschung siehe v.a. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt/M. 1997. Einführend zu den Cultural Studies siehe Jan Engelmann (Hrsg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt/M.-New York 1999.

  6. Vgl. Richard Dyer, Only Entertainment, London-New York 20022, S. 1-9.

  7. Zum Begriffsfeld vgl. Hans-Otto Hügel (Hrsg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart-Weimar 2003, bes. S. 23-90.

  8. Vgl. Kaspar Maase, Was macht Populärkultur politisch?, Wiesbaden 2010, S. 79-111.

  9. Ebd., S. 79.

  10. Diese Definition basiert auf Tobias Becker/Johanna Niedbalski, Die Metropole der tausend Freuden. Stadt und Vergnügungskultur um 1900, in: Tobias Becker/Anna Littmann/Johanna Niedbalski (Hrsg.), Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011, S. 7-20, hier: S. 13-15.

  11. Vgl. ebd., S. 7ff.

  12. T. Becker et al. (Anm. 10).

  13. Das einflussreiche Konzept der "inneren" Urbanisierung geht zurück auf Gottfried Korff, Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur "inneren" Urbanisierung, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hrsg.), Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361.

  14. Vgl. Hanno Hochmuth/Johanna Niedbalski, Kiezvergnügen in der Metropole. Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten, in: T. Becker et al. (Anm. 10), S. 105-136.

  15. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.

  16. Vgl. Peter Jelavich, Wie "jüdisch" war das Theater im Berlin der Jahrhundertwende?, in: T. Becker et al. (Anm. 10), S. 87-104.

  17. Vgl. etwa Cornelia Kühn, Sozialistische Folklore? Der Stralauer Fischzug in Berlin zwischen 1954 und 1962, in: Deutschland Archiv, (2011) 10, online: www.bpb.de/themen/529HQN,0,Der_Stralauer_Fischzug_in_Berlin_zwischen_1954_und_1962.html (5.12.2011).

  18. Vgl. Sacha Szabo (Hrsg.), Kultur des Vergnügens. Kirmes und Freizeitparks - Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nicht-alltäglicher Orte, Bielefeld 2009.

  19. Vgl. Winfried Gebhardt, Gemeinschaften ohne Gemeinschaft. Über situative Event-Vergemeinschaftung, in: Ronald Hitzler/Anne Honer/Michaela Pfadenhauer (Hrsg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Wiesbaden 2008, S. 202-213.

  20. Vgl. Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Opladen 1998 (Orig. 1961).

  21. Zur Konfiguration der industriellen Vorstadt durch die "Massenkultur" vgl. Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Logik der Transgression. Masse, Kultur und Politik im Wiener Fin-de-Siècle, in: Roman Horak et al. (Hrsg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, Bd. I, Wien 2000, S. 97-168, hier: S. 99f.

  22. Vgl. Axel Schildt, Der Beginn des Fernsehzeitalters. Ein neues Massenmedium setzt sich durch, in: ders./Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 477-492.

  23. Vgl. Michael Meyen, Hauptsache Unterhaltung. Mediennutzung und Medienbewertung in Deutschland in den 50er Jahren, Münster 2001.

  24. Vgl. etwa Knut Hickethier, Geschichte des deutschen Fernsehens, unter Mitarbeit von Peter Hoff, Stuttgart-Weimar 1998; Michael Meyen, Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR, Berlin 2003.

  25. Vgl. Klaus Nathaus, Turning Values into Revenue. The Markets and the Field of Popular Music in the US, the UK and West Germany (1940s to 1980s), in: Historical Social Research, 36 (2011) 3, S. 136-162.

  26. Vgl. K. Maase (Anm. 8), S. 111.

  27. Vgl. Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.

  28. Vgl. Rainer Winter, Spielräume des Vergnügens und der Interpretation. Cultural Studies und die kritische Analyse des Populären, in: J. Engelmann (Anm. 5), S. 35-48, hier: S. 41.

  29. Vgl. Uta G. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000.

  30. Vgl. K. Maase (Anm. 8), S. 79-111.

  31. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung - Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 198813.

  32. Vgl. etwa Patrick Merziger, Nationalsozialistische Satire und "Deutscher Humor". Politische Bedeutung und Öffentlichkeit populärer Unterhaltung 1931-1945, Stuttgart 2010.

  33. Vgl. Ulrike Häußer/Marcus Merkel (Hrsg.), Vergnügen in der DDR, Berlin 2009.

  34. Vgl. ebd., S. 11.

  35. Vgl. Thomas Kochan, Blauer Würger. So trank die DDR, Berlin 2011; Hanno Hochmuth, Politisiertes Vergnügen. Zum Konflikt um das Westfernsehen an Schulen in der DDR, in: U. Häußer/M. Merkel (Anm. 33), S. 287-303.

  36. Vgl. U.G. Poiger (Anm. 29).

  37. Vgl. Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992.

  38. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.

  39. Vgl. Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft, 35 (2009), S. 183-208.

M.A., geb. 1977; Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent der Direktion am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam. E-Mail Link: hochmuth@zzf-pdm.de