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Tabu, Tabuvorwurf und Tabubruch im politischen Diskurs

Hartmut Schröder Florian Mildenberger Florian Mildenberger Hartmut Schröder /

/ 15 Minuten zu lesen

Tabus werden im politischen Diskurs für unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert. Durch den inszenierten Tabubruch stilisieren sich Diskursakteure zu Tabubefreiern und versperren gleichzeitig den Blick auf tief liegende gesellschaftliche Tabus.

Einleitung

In der deutschen Mediensprache und im politischen Diskurs ist das Wort Tabu hochfrequent, seine Semantik aber äußerst unscharf. Spätestens seit der "Möllemann-Debatte" im Frühjahr 2002, in der es darum ging, ob Antisemitismus ein Tabu in Deutschland ist und ob dieses gebrochen werden darf, stellt sich die Frage, was überhaupt politische Tabus sind, und in welcher Weise die Wörter Tabu und Tabubruch heute von den Diskursakteuren gebraucht werden. Der Duden unterscheidet zwei Grundbedeutungen von Tabu im Sprachgebrauch: die völkerkundliche Bedeutung im Sinne eines Verbotes "bestimmte Handlungen auszuführen, besonders geheiligte Personen oder Gegenstände zu berühren, anzublicken, zu nennen, bestimmte Speisen zu genießen" sowie die bildungssprachliche Bedeutung, dass es sich innerhalb einer Gemeinschaft quasi von selbst verbietet, "über bestimmte Dinge zu sprechen, bestimmte Dinge zu tun". Nicht berücksichtigt wird im Duden eine neuere Verwendung des Wortes mit pejorativer Bedeutung im Sinne von "überlebt" und "nicht in die Zeit passend", die in den Medien sowie in der Politik eine zunehmende Rolle spielt. Eine positive Bedeutung bekommen in diesem Zusammenhang Ausdrücke wie "tabulos", "Tabus brechen" und "enttabuisieren", wohingegen Tabus als etwas Negatives und Irrationales erscheinen.

Bei der Beschäftigung mit dem Tabukomplex im politischen Diskurs ist offensichtlich, dass sich der ursprüngliche Tabubegriff der Ethnologie und der Religionswissenschaft (das heißt die erste Bedeutung im Duden) nur bedingt für die Analyse moderner Gesellschaften eignet: In unseren auf Rationalität orientierten Gesellschaften scheint das aus dem sakralen Bereich stammende Tabukonzept eigentlich keinen Platz mehr zu haben. Dennoch finden sich in der Forschungsliteratur hinreichend Belege dafür, dass auch in modernen Gesellschaften Tabus eine wichtige Rolle spielen. Obwohl die Gesellschaft heute im öffentlichen Diskurs Aufgeklärtheit reklamiert, werden unangenehme Themen und Sachverhalte nach wie vor verschleiert beziehungsweise sprachlich durch Umgehungsstrategien euphemisiert.

Funktionen von Tabus

Als Quintessenz der verschiedenen Versuche, den Begriff Tabu sinnvoll auf moderne Gesellschaften anzuwenden, lässt sich zusammenfassen, dass Tabus heute meistens etwas betreffen, was nicht getan, gesagt, gedacht, gefühlt, auch nicht gewusst und berührt werden darf - dennoch aber machbar, sagbar, denkbar, fühlbar, erkennbar und berührbar ist. Ansonsten brauchte es ja nicht durch ein Tabu geschützt zu werden. Tabus markieren also Grenzen des Handelns, Redens und Denkens: Bestimmte Objekte, Institutionen, Themen und Sachverhalte sollen nicht berührt beziehungsweise Handlungen an ihnen nicht vollzogen werden, wobei auch die symbolische Berührung untersagt ist wie beispielsweise im Nenn- oder Abbildtabu.

In seinen "Fünf Prinzipien der Konstitution sozialen Lebens" postulierte der Soziologe Karl Otto Hondrich ein "Tabu-Prinzip", das besagt, dass es in allen Gemeinschaften ein überlebenswichtiges "Verbergen" von bestimmten Dingen gibt, die nicht benannt beziehungsweise kommuniziert werden sollen: "Gruppen und Gesellschaft könnten nicht bestehen, wenn alle ihre inneren Widersprüche und Übel sich offenbarten. Sie ausdrücklich zu 'verbieten' würde nichts nützen, ja die Sache eher schlimmer machen. (...) Demgegenüber verhindert das 'Tabu-Prinzip' mit seinen tiefen Gefühlen von Ekel und Abscheu, dass das Böse überhaupt benannt und berührt wird." Tabus sichern somit die Überlebens- und Zukunftsfähigkeit einer Gemeinschaft, indem sie solche Dinge ausblenden beziehungsweise verdecken, die eine Bedrohung für eine positive Identität und Lebensausrichtung des Einzelnen sowie der Gruppe darstellen könnten: dunkle Seiten der Geschichte, Tod, Krankheit, die Frage nach dem Sinn des Lebens und vieles mehr. Tabus können als Bewältigungsmechanismus verstanden werden beziehungsweise als psychosoziale Strategie "zur individuellen wie auch kollektiven Identitätsbildung". Sie beziehen sich auf zentrale Werte der Gesellschaft, die besonders geschützt werden sollen. Michel Foucault hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es "keine Kultur auf der Welt (gibt), in der alles erlaubt ist", und meint, "dass der Mensch nicht mit der Freiheit, sondern mit der Grenze und der Scheidelinie des Unübertretbaren beginnt".

Tabu als Sprechanreiz

Ein Tabu in diesem Verständnis ist heilig, darf nicht verletzt und kann allenfalls indirekt thematisiert werden. Doch schon Sigmund Freud erkannte, dass Tabus nur für diejenigen sinnvoll erscheinen, die mit ihnen sozialisiert wurden. Für Außenstehende erscheinen sie häufig unverständlich, nicht nachvollziehbar oder falsch und werden infolgedessen unabsichtlich gebrochen. Gleichwohl können Tabuisierungen aber auch als Anreize für Diskurse gesehen werden, worauf wiederum Foucault aufmerksam gemacht hat: Tabus markieren Möglichkeiten der Überschreitung, und diese Markierungen sind nicht zufällig, sondern bezogen auf die Kontexte der Tabuisierung zumeist durchaus nützlich. Darauf weist Foucault am Beispiel der Sexualität im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert hin - einer Zeit, in der Sexualität stark tabuisiert wurde, in der aber auf der anderen Seite die Sexualwissenschaft erst entstand, Sexualität und ihre Formen in Zeitschriften, Artikeln, Büchern, erotischen und pornografischen Publikationen, in Beichtstühlen und intimen Geständnissen ausführlich kommuniziert wurden. Über die Tabuisierungen, die als Sprechanreize fungieren, so Foucaults Schlussfolgerung, konnte Sexualität erst objektiviert und verwaltbar gemacht werden; er stellt diese Objektivierung in einen Zusammenhang mit einer notwendig gewordenen Bevölkerungspolitik.

Bei dem Versuch, den Begriff Tabu näher zu definieren und auf den politischen Diskurs anzuwenden, ist es sinnvoll, zwischen verbalen und nonverbalen Tabus zu unterscheiden. Nonverbale Tabus sind Teil des "sozialen Kodex einer Gemeinschaft, der festschreibt, welche Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausgeführt werden sollen".

Verbale Tabus sind Themen, über die entweder gar nicht oder nur in etikettierter Form kommuniziert werden soll, aber auch sprachliche Ausdrücke, die vermieden beziehungsweise durch andere Ausdrücke (Euphemismen) ersetzt werden sollen. Hinsichtlich der verbalen Tabus unterscheidet der Sprachwissenschaftler Stephen Ullmann drei unterschiedliche Motivationen: Sie können durch Furcht, durch Feinfühligkeit oder durch Anstand bedingt sein. Der Typus "Tabu aus Furcht", der - so Ullmann - kennzeichnend für "Naturvölker" ist, spielt in den modernen westlichen Gesellschaften nur noch eine geringe Rolle, wenngleich Relikte davon in den meisten Sprachen erhalten geblieben sind. Wichtiger geworden sind die "Tabus aus Feinfühligkeit" und die "Tabus aus Anstand". "Tabus aus Feinfühligkeit" sind durch Rücksichtnahme motiviert und spielen insbesondere in den Bezugsfeldern Tod, Krankheit und bei anderen (körperlichen und geistigen) Unvollkommenheiten eine wichtige Rolle. "Tabus aus Anstand" sind durch Scham-, Peinlichkeits- und Anstandsgefühle motiviert und betreffen bestimmte Körperteile, Körperausscheidungen und Körperfunktionen sowie die Sexualität.

Diesen drei - bei Ullmann genannten - Motivationen fügte Nicole Zöllner einen weiteren Typus hinzu, den sie "Tabus aus sozialem Takt" nennt. Gemeint sind damit ideologisch motivierte Tabus, die in einem engen Zusammenhang zu political correctness stehen und einen bedeutenden Einfluss auf den Sprachgebrauch ausüben. Die besonderen Funktionen von verbalen Tabus im Verhältnis zu nonverbalen Tabus bestehen darin, dass sie:

  • die Tabuisierung der unter einem absoluten Tabu stehenden Handlungen unterstützen und absichern ("Darüber spricht man nicht, und man tut es nicht"); ein Beispiel für diesen Typ ist das Inzesttabu;

  • tabuisierte Handlungen durch eine bestimmte Etikette ermöglichen beziehungsweise im Nachhinein sanktionieren, indem sie diese im Einverständnis mit allen Beteiligten verhüllen beziehungsweise beschönigen ("Darüber spricht man nicht offen, man tut es aber unter Wahrung der vorgeschriebenen Etikette"); ein Beispiel für diesen Typ sind die Sexualität und andere Körperfunktionen;

  • tabuisierte Handlungen verschleiern, wobei das Einverständnis der Beteiligten nicht vorausgesetzt wird, sondern durch die Vortäuschung eines Sachverhaltes erst ermöglicht werden soll ("Das macht man eigentlich nicht - wenn man es macht, dann spricht man nur in einer versteckten Weise darüber beziehungsweise man gibt es für etwas anderes aus"); zu diesem Typ gehören Tabus im Bereich Politik und Wirtschaft, wie etwa von "Spenden" statt von "Schmiergeld" oder von "Operation" statt von "Krieg" zu sprechen.

Tabus in der Politik

Die Beispiele zeigen, dass Tabus auch im Bereich der Politik anzutreffen sind, wobei sowohl direkte Handlungen als auch Kommunikation und Sprache gemeint sind. Für den Politikwissenschaftler Anton Pelinka sind politische Tabus Axiome beziehungsweise nicht hinterfragbare Glaubenssätze, "die potentiell Schmerzhaftes zudecken sollen": Sie "helfen mit, eine politische Kultur aufzubauen. Heroische Personen, heroische Leistungen, heroische Momente werden unter Vernachlässigung einer differenzierten Sichtweise mystifiziert. Das Heroische dient der Verankerung von Wertvorstellungen, von denen dann wiederum Verhaltensmuster begleitet und durchgesetzt werden. Tabuisiert ist dabei die unvermeidliche Schattenseite des Heroischen." Tabuisierte Bereiche in der Politik sind neben bestimmten Personen und Orten auch Themen wie Sucht, Armut, Ungleichheit oder Korruption.

In dieser Hinsicht haben Tabus für eine Zivilgesellschaft auch etwas Problematisches, denn sie können gesellschaftliche Entwicklungen hemmen oder auch behindern. In Deutschland war beispielsweise in den 1950er und 1960er Jahren die jüngste Vergangenheit (Zweiter Weltkrieg und Holocaust) weitgehend tabu, so dass statt Vergangenheitsbewältigung eher kollektive Verdrängung kultiviert wurde. Täter und Opfer konnten beziehungsweise durften nicht thematisieren, was geschehen war. Das Tabu der Vergangenheit, das Alexander und Margarete Mitscherlich aus psychologischer Sicht als "Denkhemmung" beschrieben haben, musste gebrochen werden, wenn eine Gesellschaft nicht die Augen vor der Realität verschließen wollte. Der Tabubruch erfolgte durch die Generation der Kinder der Opfer und Täter - vor allem durch die Studentenbewegung und die "68er".

Wie sehr Multiplikatoren in den Medien dazu beitragen können, aus scheinbar gesicherter wissenschaftlicher Forschung und ihrer gut gemeinten Popularisierung einen Tabubruch herbeizuschreiben, ließ sich in den 1990er Jahren anhand der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" ("Wehrmachtsausstellung") beobachten. Diese bildgewaltige Wanderausstellung, organisiert vom Hamburger Institut für Sozialforschung, thematisierte die Verstrickung unzähliger, sich selbst bis dato als unwissend, unschuldig oder naiv titulierender ehemaliger Soldaten der deutschen Wehrmacht in den Holocaust. Trotz fachlicher Fehler im Detail erlangte die Präsentation ungeahnte Popularität, obwohl im Grunde nichts Neues vorgestellt wurde. Es wurde jedoch ein Tabu verletzt - das von den Tätern selbst, die mit dem Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands in ihrer Rolle als Politiker, Journalisten oder Manager beschäftigt gewesen waren, selbst aufgestellt worden war -, welches lautete: "Hitler war allein an allem schuld."

Dieses Tabu wurde zwar schon durch die Forschungen namhafter Historiker in den 1970er Jahren gebrochen, doch aufgrund der damals noch recht hohen Dichte von Tätern, Mitläufern und Mitwissenden wurden die jeweiligen Forschungsergebnisse unter den Lebenden nicht breiter rezipiert. Nun aber kam es verspätet zu einer großen gesamtgesellschaftlichen Debatte. Die Täter waren bereits größtenteils gestorben, so dass der Tabubruch leichter fiel. Außerdem war die Gruppe der Verantwortlichen verhältnismäßig klein und klar umrissen. Sie betraf lediglich die Frontsoldaten, also einen Teil der Bevölkerung, dem das Töten generell nicht fremd war.

Die Bedeutung dieses Umstandes wird besonders verifizierbar anhand der Rezeption des Werkes des Historikers Götz Aly über den von ihm so benannten "Hitlers Volksstaat". In dieser Studie wies er nach, wie nicht etwa die "Täter in Uniform", sondern "ganz normale Bürger" von der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn persönlich profitierten. Eine breite Diskussion hierüber fand, außer in Fachkreisen, kaum statt. Denn dies hätte eine ganze Reihe weiterer Tabus verletzt: die Unwissenheit der Menschen über den Nationalsozialismus im Allgemeinen und die Judenvernichtung im Besonderen, die Opferrolle als Verlierer des Krieges und "Ausgebombte", die Frage der Entschädigung oder auch die Diskussion in jeder Familie, woher nun welches "Erbstück" genau stammte. Tabus können scheinbar in Deutschland nur dann abgelöst beziehungsweise gebrochen werden, wenn es nicht zu viele Lebende betrifft.

Tabuvorwurf

Tabus in Bezug auf die Vergangenheitsproblematik (Verweigerung von Diskursen über die Vergangenheit) führten in den 1960er Jahren zu dem Begriff Tabuvorwurf. Dort, wo bestimmte unangenehme Sachverhalte im Interesse gesellschaftlicher Gruppen nicht kommuniziert wurden und Aufklärung verweigert wurde, wurde der Vorwurf des Totschweigens und der Verheimlichung laut. Ganz allgemein impliziert der Begriff Tabuvorwurf Misstrauen gegenüber "der grundsätzlichen Kommunikationsbereitschaft" der anderen Diskussionspartei.

Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer warf den deutschen Intellektuellen damals vor, "mit dem Tabuvorwurf allzu schnell bei der Hand" zu sein, und ging davon aus, dass die Verwendung des Tabuvorwurfs dem Linksintellektuellen in Deutschland vertrauter sei als seinem konservativen Widersacher: "Der Linksintellektuelle (...) versteht sich als Anwalt der öffentlichen Diskussion aller relevanter Probleme. Er verabscheut die Ausklammerung, die Verdrängung, das Schweigegebot. Er hält es für eine seiner wesentlichen Aufgaben, Tabus aufzuspüren, Verschleierungen zu enthüllen, das Schweigen zu brechen, Tabus zu zerstören. Wenn heute auch konservative Publizisten den Tabuvorwurf erheben, so nur, weil sie meinen, auf diese wirksame zeitgemäße Waffe der Polemik nicht verzichten zu können: Sie drehen den Tabu-Spieß einfach um."

So werden im heutigen Sprachgebrauch Tabuvorwürfe aus allen politischen Richtungen geäußert und sind keineswegs mehr ein Markenzeichen von Linksintellektuellen, worauf Heinrich Bodensieck bereits 1966 hingewiesen hat: "Bei Tabu und Totschweigen handelt es sich also durchaus um Ausdrücke, die jeder seinem Gegner vorhalten kann. Wer sie verwendet, kann mit den Vorwürfen zugleich darauf verweisen, wem er die Verantwortung für eine Tabuisierung zuweist."

Einen neuen Typ des Tabuvorwurfs hat später der FDP-Politiker Jürgen Möllemann geprägt, in dem er dem politischen Gegner Tabus im Sinne von Ausklammerungen und Verschleierungen unterstellte und diese dann selber im Interesse der vermeintlich manipulierten Öffentlichkeit gebrochen hat. In der "Möllemann-Debatte" im Jahr 2002 um den neuen Antisemitismus wurde sichtbar, dass es in der Politik und Mediensprache einen Typus des kombinierten Tabuvorwurfs und Tabubruchs gibt, bei dem sowohl Vorwurf als auch Bruch aus Gründen der Medienwirksamkeit inszeniert sind.

Diese Inszenierung sieht im Detail folgendermaßen aus: Ein Vertreter der Partei A konstatiert, dass in der Gesellschaft ein Tabu X existiert, das von allen vorbehaltlos eingehalten werde. Dieses Tabu sei aber - so Partei A - eine Ausklammerung beziehungsweise eine Verschleierung und für die Gesellschaft schädlich und unsinnig. Der Tabuvorwurf wird geäußert. Der Vertreter der Partei A fordert nun "mutig" dazu auf, dieses Tabu zu brechen, und geht mit eigenem Beispiel voraus: Der Tabubruch erfolgt. Als Ergebnis des Tabubruchs wird die Überwindung einer Denkhemmung beansprucht, der vermeintliche Tabubrecher also zum Aufklärer und Befreier erklärt.

In der "Möllemann-Debatte" bedeutete dies, dass Antisemitismus zum vermeintlichen Tabu in Deutschland erklärt wurde, dieses Tabu dann infrage gestellt und schließlich gebrochen wurde, um sozusagen wieder zu einem "Normalzustand" in der Politik zurückzukehren. Dabei geht es freilich weniger um Tabubruch, "sondern um die Entstigmatisierung rechter Ideologie". Denn Antisemitismus war und ist in Deutschland kein Tabu, und die Ablehnung von Antisemitismus hat nichts mit Tabuisierungen zu tun; sie stellt vielmehr einen ganz normalen moralischen Standard dar, dass man eben nicht aus rassistischen Gründen andere diskriminiert, benachteiligt und verfolgt.

Darauf hat Jürgen Habermas vehement hingewiesen, der in Möllemanns Versuch geradezu eine Irreführung und zugleich einen sprachlichen Trick sieht: Die Ablehnung von Antisemitismus sei nämlich ein mühsamer und diskursiv durchgesetzter Standard in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, habe also überhaupt nichts mit Verdrängung, Ausklammerung oder Verschleierung zu tun: "Die heute verbreitete Verurteilung des Antisemitismus ist deshalb kein Ausdruck einer blinden, affektstabilisierten Abwehrhaltung, sondern das Ergebnis von kollektiven Lernprozessen."

Der inszenierte Tabubruch

Ein aktuelleres Beispiel für einen inszenierten Tabuvorwurf-Tabubruch ist die Debatte um Thilo Sarrazins (ehemaliges Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank) Buch "Deutschland schafft sich ab", in der sich dieser in ähnlicher Weise wie Möllemann zum Tabubrecher und Befreier stilisiert und geradezu den Blick auf gesellschaftliche Tabus versperrt. Denn seit den 1970er Jahren wird in der Bundesrepublik die Existenz von Parallelwelten suggeriert, in denen "Deutsche" und "Ausländer", "Migranten" oder "Gastarbeiter" leben. Eine Hinterfragung dieser Festlegung unterblieb und wurde mit einem Tabu belegt, an das sich Akteure aller politischen Parteien bis heute weitgehend halten und so auch ihre Anhängerschaft beeinflussen.

Selbst ernannte Tabubrecher gibt es nicht selten in unserer Gesellschaft. Da gibt es diejenigen, die behaupten, sie würden etwas Weltbewegendes tun, wenn sie beispielsweise die Verrohung der sexuellen Sitten in der Welt der Erwachsenen anprangern. Doch ein Blick in die sexualwissenschaftliche Forschung zeigt, dass sich Sex meist innerhalb von festen Gemeinschaften abspielt. Das Problem ist meist nicht zu viel "Lust", sondern zu wenig. Oder es preschen gelegentlich, aber immer wieder, Schwadroneure aus rechten Zirkeln vor und brüsten sich mit dem "Tabubruch", den Holocaust oder andere Verbrechen des Nationalsozialismus bestreiten zu wollen - was allerdings kein Tabubruch ist, sondern lediglich von schlechter Bildung zeugt. Ein Blick in die Berichte einfacher Soldaten und gehobener Offiziere von der Front, aus dem Hinterland oder der Heimat, wann, wo und wie sie Juden, Sinti und Roma oder vorgebliche Partisanen ermordet haben, hätte weiter geholfen. Leider verbrennen diese vorgeblichen "Tabubrecher" Bücher eher, als dass sie diese lesen.

Tabus als Waffe

In einer zunehmend vielschichtigen Welt, in der Informationen vielfach allgemein verfügbar sind, erscheint es vielen Akteuren, die über öffentliche Diskurse bestimmen (wie in Zeitungen, Fernsehen, Rundfunk oder auch Politiker), geboten, gewisse Tabus zu wahren, die aber gleichzeitig vor allem dazu dienen, tiefer gehende Probleme zu verhüllen. In diesem Zusammenhang werden zu Tabus deklarierte Phänomene scheinbar aufgebrochen, faktisch jedoch nur durch neue ersetzt oder aber Sachverhalte als Tabus vorgestellt, selbst wenn sie keine sind. Denn Tabus können auch eine wichtige Waffe in der Lenkung öffentlichkeitswirksamer Diskussionen sein.

Ein Beispiel ist die anschwellende Debatte um den "sexuellen Missbrauch" von Kindern und Jugendlichen, die seit einigen Jahren im Gang ist. Hier werden kulturell tief verwurzelte Tabus berührt und zugleich soziale, kulturelle oder gesellschaftliche Zusammenhänge oder Problemlagen, die allein für sich jederzeit diskutiert werden könnten, in die Tabuzone aufgenommen, um tiefer gehende Fragen zu unterbinden. Der Begriff des "sexuellen Missbrauchs" stellt an sich schon ein Problem dar, weil er voraussetzt, dass es in der Gesellschaft einen anerkannten "Gebrauch" von Kindern durch Erwachsene gibt - denn ohne Gebrauch kein Missbrauch. Dies wird jedoch nicht thematisiert, sondern mit einem Tabu belegt.

Das nächste, stets bemühte Tabu ist, dass die Verbrechen nicht innerhalb der Familien, Freundeskreise oder Verwandtschaften geschehen, sondern durch außenstehende, sozial nicht verankerte Personen, die "Pädophilen". Dabei wird unterschlagen, dass durch die Sexualforschung seit langem belegt ist, dass die Verbrechen zumeist innerhalb der verwandtschaftlichen und sozialen Bindungsgefüge geschehen. Denn dadurch würden gleich mehrere Tabus verletzt: die juristische und politische Sanktionierung der Familie als per se besonders schützenswerte Institution oder die unantastbare Rolle der Eltern als Erziehungsberechtigte; schließlich wird auch nicht die Frage gestellt, warum, wo und unter welchen Umständen die Verbrechen geschehen. Dies würde nämlich eine Kette weiterer Tabubrüche produzieren: die Hinterfragung sozialer Missstände, bedingt durch das Versagen von Verwaltung, Staat oder staatlicher Instanzen (wie Schule oder Arbeitsmarktpolitik). Eine derartige Vertiefung der Debatte, die auch Fragen nach der gesellschaftspolitischen Rolle von Multiplikatoren (etwa im Fernsehen oder in den Printmedien) provozieren könnte, scheint nicht im Interesse der dominierenden Diskursakteure zu sein.

Im Ganzen würde eine intensive und tabulose Auseinandersetzung mit der Problematik wahrscheinlich dazu führen, dass grundlegende Wertmaßstäbe, auf denen das politische System der Bundesrepublik Deutschland ruht, diskutiert würden. Da erscheint es sinnvoller und abkürzender, ein anderes Tabu zu brechen: die Unschuldsvermutung des Angeklagten sowie die Tatsache, dass sowohl in öffentlichen wie strafrechtlichen Debatten keine sexuelle Veranlagung, sondern die sexuelle Handlung diskutiert wird. Doch nun ist es die "Pädophilie" per se, die verfolgt wird, von der es, wie bei einer tödlichen Seuche, keine Heilung geben soll. Hier wird ein Mensch, ein bestimmter Typus verantwortlich gemacht, weil er durch seine Handlungen die scheinbar sichere, hermetische Tabuwelt bedroht. Sein direktes Opfer spielt in diesem Zusammenhang nur insoweit eine Bedeutung, als es Teil dieser Entwicklung ist.

Einige abschließende Thesen

Das Wort Tabu ist in der deutschen Mediensprache und im politischen Diskurs außerordentlich vage und ambivalent. Seine weite Verbreitung verdankt es aber vielleicht gerade dieser Vagheit und Ambivalenz, wodurch es sich durch die Diskursakteure für verschiedene Zwecke funktionalisieren lässt.

Tabuisierung und Enttabuisierung, Tabuvorwurf und Tabubruch, Sehnsucht nach Tabus und Lust nach Tabuverletzungen bilden einen Komplex, der zu jeder Gemeinschaft gehört und sowohl Stabilität und Wandel als auch Stillstand und Grenzenlosigkeit ermöglichen kann.

Was sagen Tabus über unsere Gesellschaft aus? Sie machen deutlich, dass sie notwendig sind, solange Menschen in verantwortlichen Positionen, aber auch "Otto Normalverbraucher" auf der Straße nicht willens oder fähig sind, Dinge beim Namen zu nennen, gleiche Maßstäbe für jeden anzuwenden und sich vorschneller Einschätzungen zu enthalten.

Tabus werden manchmal mit Höflichkeit verwechselt, doch ihre Anwesenheit, ihre Instrumentalisierung und ihre Verwertung sagen weniger über die Tabus selbst als über die Gesellschaft und ihre Akteure aus. Wer tabuloses Verhalten attackiert, hat weder begriffen, was ein Tabu ist, noch, was eine Gesellschaft ausmachen sollte.

Je mehr Tabus es gibt, und je stärker sie gewahrt werden, desto tiefer steckt eine Gesellschaft in selbst verschuldeter Unmündigkeit fest. Daran tragen einige Protagonisten besondere Schuld, ohne Schuld ist jedoch niemand, der sich den Tabus nicht entgegenstellt. Das kann im persönlichen Umfeld erfolgen oder in sozialen Gefügen. Nichts ist so wirkmächtig wie Schwarmintelligenz - oder Gruppendummheit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dietrich Hartmann, Sprache und Tabu heute, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, 42 (1990), S. 148.

  2. Vgl. Hartmut Kraft, Tabu, Düsseldorf-Zürich 2004, S. 10.

  3. Karl Otto Hondrich, Wie sich Gesellschaft schafft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.6.2003.

  4. Vgl. H. Kraft (Anm. 2), S. 114.

  5. Vgl. Werner Betz, Tabu, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 23, Mannheim 1978, S. 146.

  6. Michel Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, S. 123.

  7. Vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu, Frankfurt/M. 1974.

  8. Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1983.

  9. Nicole Zöllner, Der Euphemismus im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch des Englischen, Frankfurt/M. 1997, S. 25f.

  10. Vgl. Stephen Ullmann, Semantics, Oxford 1962, S. 196ff.

  11. Vgl. N. Zöllner (Anm. 9), S. 52.

  12. Anton Pelinka, Tabus in der Politik, in: Peter Bettelheim/Robert Streibel (Hrsg.), Tabu und Geschichte, Wien 1994, S. 21, S. 24.

  13. Vgl. Horst Reimann, Tabu, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres Gesellschaft, 7. völlig neu bearbeitete Auflage, Freiburg i. Br. 1989, S. 421.

  14. Vgl. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München-Zürich 1967.

  15. Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Vernichtungskrieg, Ausstellungskatalog, Hamburg 1996.

  16. Vgl. Götz Aly, Rasse und Klasse, Frankfurt/M. 2003, S. 123.

  17. Ders., Hitlers Volksstaat, Frankfurt/M. 2005.

  18. Andreas Musolff, Sind Tabus tabu?, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 60 (1987), S. 17.

  19. Kurt Sontheimer, Tabus in der deutschen Nachkriegspolitik, in: Hans Steffen (Hrsg.), Die Gesellschaft in der Bundesrepublik, Göttingen 1970, S. 202f.

  20. Kurt Bodensieck, Tabuvorwurf in der Bundesrepublik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, (1966) 12, S. 712.

  21. Elisabeth Niejahr, Der Anstifter, in: Die Zeit vom 29.5.2002.

  22. Jürgen Habermas, Tabuschranken, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.6.2002.

  23. Vgl. Gunter Schmidt et al., Spätmoderne Beziehungswelten, Wiesbaden 2006.

  24. Vgl. Volkmar Sigusch, Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit, Frankfurt/M. 2011, S. 17.

  25. Vgl. Gabriele Amann/Rudolf Wipplinger (Hrsg.), Sexueller Missbrauch, Tübingen 2005; Wilhelm Körner/Albert Lenz (Hrsg.), Sexueller Missbrauch, Bd. 1, Göttingen 2004.

Dr. phil., geb. 1954; Professor für Sprachgebrauch und Therapeutische Kommunikation an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/O., Postfach 1786, 15207 Frankfurt/O. E-Mail Link: schroeder@europa-uni.de

Dr. phil., geb. 1973; Außerplanmäßiger Professor für Geschichte der Medizin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/O. (s.o.). E-Mail Link: mildenberger@europa-uni.de