Sehr geehrte Damen und Herren,
ich fange mal mit drei Beobachtungen rund um das Spannungsverhältnis von Sport und Demokratie an:
1. Heute in elf Tagen, am 17. Mai 2024, soll im Rahmen des Internationalen Tags gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie ein Gruppen-Outing queerer Fußballer/-innen stattfinden. Ich bin sehr gespannt, wie viele Personen sich tatsächlich outen und welche Reaktionen folgen werden. Ich kann jeden verstehen, der seine sexuelle Orientierung für sich behält. Denn trotz einzelner Outings ehemaliger Fußballspieler – am bekanntesten ist wohl der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger – und zahlreicher Kampagnen mit Titeln wie „Einer von 11 ist schwul“ liegt die öffentlich bekannte Anzahl aktiver homo-, bi- oder transsexueller Fußballer in der Bundesliga konstant bei: Null. Das ist übrigens kein deutscher Sonderweg: Von weltweit geschätzt 300.000 aktiven männlichen Profifußballern leben aktuell nur vier offen homosexuell.
2. Dieses Jahr finden die Olympischen und Paralympischen Spiele in Paris statt, vorher erfreuen wir uns – hoffentlich – an der Fußball-Europameisterschaft der Herren in Deutschland und die nächste Fußball-WM findet dann in Kanada, Mexiko und den Vereinigten Staaten statt. Bei den USA weiß man es ja für die nähere Zukunft nicht so recht, aber eigentlich könnte man erfreut ausrufen: Alles so schön demokratisch. Doch der Rückblick auf die beiden vergangenen Fußball-Weltmeisterschaften in Russland und Katar sowie die Tatsache, dass Saudi-Arabien für 2034 quasi als Gastgeberland feststeht, lassen das demokratische, menschenrechtlich ausgerichtete Herz etwas langsamer schlagen. Auch die Olympischen und Paralympischen Winterspiele fanden 2022 im von der kommunistischen Partei Chinas autoritär regierten Peking statt. Lästige Begleiterscheinungen wie Referenden in der Bevölkerung, Umweltauflagen oder Zugeständnisse an die politische Opposition müssen die Sportverbände in Diktaturen nicht fürchten.
3. Noch ein letztes Beispiel, wieder aus dem Fußball – im Vorfeld der EM sei das ausnahmsweise erlaubt: Im Jerichower Land in Sachsen-Anhalt spielt mit der DSG Eintracht Gladau ein Verein in der Kreisliga, der offensichtlich von Rechtsextremisten unterwandert ist, dessen Spieler öffentlich Hitlergrüße gezeigt und andere körperlich angegriffen haben sollen. Auch wenn die Führungsebene des Fußballverbands Sachsen-Anhalt auf einen Ausschluss des Vereins aus dem Ligabetrieb drängte, hat das zuständige Verbandsgericht nun zähneknirschend – wegen eines Mangels an Beweisen – seine weitere Teilnahme am Spielgeschehen erlaubt. Die gegnerischen Mannschaften pendeln zwischen Empörung und Genervtsein. Viele wollen einfach nur Fußball spielen und „die Politik“ rauslassen.
Die drei Beispiele zeigen, dass es irgendwie hakt mit dem Anspruch, durch Sport Werte zu vermitteln, die im Kern auch demokratische Werte sind: Gleichberechtigung, Pluralismus, Fairness, Anerkennung der Gegner/-innen – diese Ansprüche teilen sich Sport und Demokratie. Gleichzeitig teilen sich beide Sphären die Erkenntnis, die Ideale nicht immer zu erreichen. Doch liegt beileibe nicht alles im Argen. Der Sport ist zweifellos in der Lage, seine Werte zu vermitteln – und tut das auch: Im Sportverein – aber ebenso im Fitnessstudio, auf dem guten alten Trimm-Dich-Pfad oder auf der Wiese im Park – kommen Menschen zusammen, die ansonsten vielleicht eher in unterschiedlichen sozialen Blasen leben, um gemeinsam ihren sportlichen Interessen nachzugehen. In der Regel ganz unabhängig davon, wen sie lieben oder wählen, wo sie herkommen, wie sie aussehen oder ob sie viel oder wenig Geld haben.
Auch die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen an autoritäre Staaten ist keineswegs rundheraus zu verdammen. Zunächst sind auch die OECD-Staaten nicht in jeder Hinsicht demokratische Musterknaben, die als leuchtende Vorbilder strahlen. Die Todesstrafe im kommenden Fußball-WM-Gastgeberland USA oder beim letzten Gastgeber der Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio 2021 sind mit dem demokratischen Prinzip der Menschenwürde kaum zu vereinbaren. Rechtsstaatliche und damit ebenso demokratische Prinzipien spielten auch keine große Rolle bei den korruptionsgeplagten Olympischen und Paralympischen Winterspielen in Salt Lake City 2002 oder – man muss gar nicht in die Ferne schweifen – der als Sommermärchen verklärten Fußball-WM 2006 in Deutschland. Es besteht also kein Anlass, vom hohen Ross Urteile zu sprechen. Zudem ist ja weiterhin die olympische Idee wirkmächtig, dass sportlicher Wettstreit Systemunterschiede überbrücken und die olympischen Werte des Sports vielleicht so auch in autoritär regierte Gesellschaften tragen kann. Wie Sie später in der Podiumsdiskussion voraussichtlich noch hören werden, sind selbst Menschenrechtsorganisationen keineswegs der Meinung, dass nur Demokratien Gastgeberländer sein dürfen. Ein gewisser Widerspruch bleibt jedoch bestehen zwischen dem Anspruch, Werte durch Sport zu vermitteln, und Ausrichterstaaten, die diese Werte im Alltag mit Füßen treten.
Doch kommen wir zurück nach Deutschland: Schon seit vielen Jahren positionieren sich der Deutsche Olympische Sportbund und die Deutsche Sportjugend klar und unmissverständlich gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Der DOSB und die dsj haben sich und ihre Mitglieder unter anderem dazu verpflichtet, Personen, die sich entsprechend äußern, von ihren Gremien und Veranstaltungen auszuschließen, nicht an Veranstaltungen mitzuwirken, die von rechtsextremistischen Akteuren organisiert werden, ausgrenzenden Äußerungen zu widersprechen und transparent mit rechtsextremistischen Unterwanderungsversuchen umzugehen. Die Deutsche Sportjugend erklärt „Fairness, Vielfalt, Freiwilligkeit und Demokratie“ zu „Maßstäben“ eines „jugendorientierten und gesunden Sport[s]“ und eines „verantwortungsbewussten Umgang[s] miteinander“. Im Umfeld der Proteste gegen Rechtsextremismus und die AfD sind DOSB und dsj im März dem Bündnis „Zusammen für Demokratie“ beigetreten, einem breiten Zusammenschluss von kirchlichen, gewerkschaftlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Akteuren.
Das sind zielführende und unterstützenswerte Maßnahmen. Doch im sportlichen Vereinsalltag mit Mitgliedern, die einen Querschnitt der Gesellschaft darstellen und einer größtenteils rechtsextremistischen Partei, die in Umfragen je nach Region zwischen 15 und 35 Prozent Zustimmung erhält, befindet sich diese Strategie – gelinde gesagt – im Härtetest. Vor dieser Herausforderung steht der Sport selbstverständlich nicht allein. Auch und vor allem die politische Bildung, deren Aufgabe ja insbesondere die Stärkung der Demokratie ist, befindet sich in einer außergewöhnlichen Situation. An beide, an den Sport ebenso wie an die politische Bildung, wird oft herangetragen, sie müssten „neutral“ sein. Doch das ist nicht so. Wir müssen Kontroversität zulassen und dürfen nicht einseitig parteiisch sein. Wir müssen allerdings klarstellen, wie weit Kontroversität geht. Gegenüber unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Auffassungen sollten wir in unseren Angeboten sicherlich eine professionelle Haltung annehmen. Gegenüber den Grundwerten der Demokratie, die sich – wie gesagt – mit denen des Sports in großen Teilen überschneiden, dürfen wir nicht neutral sein. Eine rassistische Äußerung widerspricht diesem Minimalkonsens und sie darf nicht geduldet werden. Wer demokratische Verfahren ablehnt, dem oder der muss weder in der politischen Bildung noch im Sport eine Bühne geboten werden.
Ich kann und will das Spannungsverhältnis von Sport und Demokratie hier nicht in ganzer Breite aufmachen. Den Job übernehmen im Laufe der Fachtagung andere besser als ich. Ein Anliegen aus der Sicht der historisch-politischen Bildung möchte ich aber dennoch einbringen – wenn ich schon die Möglichkeit habe, vor so vielen Sport- und Politikinteressierten zu sprechen: Zahlreiche deutsche Institutionen haben in den vergangenen Jahren ihre Verstrickungen im nationalsozialistischen Deutschland professionell aufarbeiten lassen. Neben Behörden, Banken, Industrie und Forschungseinrichtungen auch Sportverbände und -vereine wie zum Beispiel der Deutsche Fußball-Bund oder der FC Bayern München. Es ist nicht so, dass die Rolle des Sports im Nationalsozialismus vollkommen unterbelichtet ist – im Gegenteil! Doch der damalige Vorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbunds Alfons Hörmann hat 2020 selbst festgestellt, dass eine intensivere Aufarbeitung der NS-Vergangenheit seiner Dachorganisation notwendig sei. Wie genau der Vorgänger des DOSB im Nationalsozialismus, der Deutsche Olympische Ausschuss, mit dem Regime verstrickt war, wurde meines Wissens seither nicht umfassend untersucht. Ich würde mich freuen, wenn dieser Faden nochmal aufgenommen wird. Davon können der Sport in Deutschland, aber auch die politische Bildung, die die Ergebnisse dann in ihren Angeboten weiter bearbeiten kann, nur profitieren.
Nun wünsche ich Ihnen aber eine erfolgreiche und erkenntnisreiche Fachtagung, sowohl in Köln als auch digital vor Ihren Bildschirmen!