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Kommunale Selbstverwaltung in Ost- und Westdeutschland | Lange Wege der Deutschen Einheit | bpb.de

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Kommunale Selbstverwaltung in Ost- und Westdeutschland

Sabine Kuhlmann Jörg Bogumil

/ 11 Minuten zu lesen

Die Kommunen sind wichtiger Teil des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Sie sind "Schulen der Demokratie" und erfüllen gleichzeitig wichtige Aufgaben. Mit dem Systemumbruch mussten die ostdeutschen Kommunen in wenigen Jahren Prozesse bewältigen, die sich in den westdeutschen in vierzig Jahren abgespielt hatten.

Historisches Rathaus im Münster. Auf kommunaler Ebene werden in vielen Politikfeldern politische Entscheidungen getroffen, die die Lebensumstände der Bürger nachhaltig prägen. (© picture-alliance, Bildagentur-online)

Die Rolle der Kommunen im föderalen Mehrebenensystem

Die Kommunen erfüllen im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Doppelfunktion. Zum einen werden auf kommunaler Ebene in vielen Politikfeldern politische Entscheidungen getroffen, die die Lebensumstände der Bürger nachhaltig prägen. Örtliche Lösungen bieten aufgrund ihrer geringen Distanz bessere Mitwirkungsmöglichkeiten für Bürger, sie machen Politik "fassbar". Da die Auswirkungen von Politik, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem besonders anschaulich und konkret erfahrbar sind, besteht hier die Chance, Politik in größerem Umfang mitzugestalten und die Bürger in das politisch-administrative System einzubinden. Die lokale Ebene ist also die Ebene umfassender Mitwirkungsmöglichkeiten.

Aus dieser Perspektive sind die Kommunen einerseits die "Schule der Demokratie". Andererseits kommt den Kommunen mit Blick auf die Aufgabenerfüllung und die Bedeutung für die Lebensverhältnisse der Bürger eine wichtige Funktion der Daseinsgestaltung zu. Aus dieser Perspektive interessieren vor allem die Effektivität und Effizienz kommunaler Leistungen. Durch die Übernahme von Versorgungs-, Leistungs-, Fürsorge-, Vollzugs- und Planungsfunktionen sind Kommunen auch in Zeiten eines europäischen Mehrebenensystems unverzichtbar. Allerdings sind sie, gemessen an ihrer Finanzautonomie und hinsichtlich der administrativen und politischen Kompetenz, die am schlechtesten ausgestattete Politikebene, denn staatsrechtlich sind sie Teil der Länder und unterliegen damit deren Aufsichts- und Weisungsrecht (vgl. ausführlich Bogumil/Holtkamp 2013).

Im Folgenden werden ausgehend vom Umbau der kommunalen Selbstverwaltung in Ostdeutschland nach dem Systemumbruch einige wichtige Reformen im wiedervereinigten Deutschland nachgezeichnet. Der Beitrag endet mit einem Blick auf die Ausgestaltung der kommunalen Demokratie.

Umbau der kommunalen Selbstverwaltung in Ostdeutschland

Mit dem Systemwechsel in der DDR und der deutschen Vereinigung begann ein umfassender gesellschaftlicher und politischer Transformationsprozess, der auch in den Kommunen zu umwälzenden Veränderungen führte. Der institutionelle Umbruch und Neubau der ostdeutschen kommunalen Verwaltungsstrukturen vollzog sich seit dem Untergang des DDR-Staates in einem verwaltungshistorisch beispiellosen "Zeitraffer", wobei die ostdeutschen Kommunen angesichts des einzigartigen Problemdrucks institutionelle Umbruchprozesse in wenigen Jahren zu bewältigen hatten, die sich in den westdeutschen Kommunen in vierzig Jahren abspielten.

Dabei lassen sich zwei Phasen unterscheiden: Die erste setzte mit den demokratischen Kommunalwahlen noch in der DDR am 6. Mai 1990 und dem Inkrafttreten der neuen DDR-Kommunalverfassung vom 17. Mai 1990 ein ("Gründungsphase"). Seit Mitte 1990 durchliefen die kommunalen Strukturen im Übergang von der zentralistischen DDR-Staatsorganisation zur Integration in das föderative Verfassungs-, Rechts- und Aufgabenmodell der Bundesrepublik einen grundlegenden institutionellen Neubau. Einerseits wird dabei eine Wiederaufnahme deutscher Verfassungstradition sowie eine rechtliche Angleichung an das Kommunalmodell der Bundesrepublik sichtbar. Andererseits lassen vor allem die basisdemokratischen und partizipativen Elemente der DDR-Kommunalverfassung (Bürgerantrag, Bürgerentscheid, Bürgerbegehren) ein bewusstes Anknüpfen an die "friedliche Revolution" des Jahres 1989 erkennen. Bereits diese Prozesse zeugen von Eigenentwicklung und innovativer Abwandlung des westdeutschen Modells.

Mit Beginn der zweiten kommunalen Wahlperiode (Dezember 1993 in Brandenburg, Juni 1994 in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen) vollzog sich eine zweite Veränderungswelle, die durch neue Kommunalverfassungen der ostdeutschen Bundesländer, die Kreisgebietsreformen und schließlich die unter dem Stichwort "Neues Steuerungsmodell" geführte Verwaltungsmodernisierungsdebatte ausgelöst wurde. Die Kommunalgesetzgebung der neuen Länder veränderte die institutionellen Rahmenbedingungen der Kommunalverwaltungen nochmals erheblich und setzte die Kreise und Städte unter einen erneuten Veränderungsdruck.

Vor allem für die ostdeutschen Landkreise bedeuteten die seit 1994 in den neuen Bundesländern vollzogenen Kreisgebietsreformen praktisch eine Neugründung. Räumliche Zusammenführung, Neuaufbau und Konsolidierung der Verwaltungsstrukturen waren neben der Neuordnung der Kreisinfrastruktur und der kreislichen Aufgaben die vordringlichsten Aufgaben der neu gewählten Leitungskräfte. Die dramatischen personalstrukturellen Umbrüche und Anpassungsprozesse, die in den ostdeutschen Kommunen nach dem Systemumbruch stattfanden, werden darin deutlich, dass die Zahl der Kommunalbediensteten zwischen 1991 und 1995 um ein Drittel abnahm (von 662000 auf 438000) und die "Beschäftigtendichte" von 42 auf 28 Beschäftigte pro 1.000 Einwohner von 1991 bis 1995 zurückging.

Die neue kommunale Positionselite in Ostdeutschland setzte sich mehrheitlich aus Seiten- und Quereinsteigern zusammen, die nach dem Umbruch aus verwaltungsfremden Berufsbereichen, insbesondere Wirtschaftsbetrieben, Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen rekrutiert wurden und über ein vorwiegend technisch-naturwissenschaftlich geprägtes Ausbildungsprofil verfügten. Sowohl bei den gewählten Kommunalpolitikern als auch beim administrativen Führungspersonal dominierten technische, naturwissenschaftliche oder medizinische Ausbildungsabschlüsse gegenüber juristisch-verwaltungsbezogenen. Darin kam eine nahezu spiegelbildliche Umkehrung des Qualifikationsprofils in den Kommunen der alten Bundesländer zum Ausdruck.

Zusammenfassend lässt sich einerseits festhalten, dass der politisch-administrative Transformationsprozess einerseits stark durch die Integrationslogik des als Beitritt nach Paragraf 23 GG vollzogenen Einigungsprozesses bestimmt war, die vor allem in der Anfangsphase in einer weitgehenden Übernahme des westdeutschen Institutionenmodells ihren Ausdruck fand. Andererseits werden in den lokalen Ausformungen dieses Modells und den variierenden Strategien seiner Institutionalisierung wichtige Dimensionen einer ostdeutschen Eigenentwicklung augenfällig. Neuere Modernisierungsprojekte lassen zudem Ansätze institutioneller Innovation erkennen.

Entwicklungslinien und Reformen im wiedervereinigten Deutschland

Kommunalverfassungsreformen

Das deutsche Kommunalsystem blieb – von Ausnahmen abgesehen – lange Zeit durch das Grundmuster repräsentativer Demokratie geprägt. Erst mit den Kommunalverfassungsreformen der 1990er Jahre wurde eine Bresche in das überkommene Prinzip repräsentativer lokaler Demokratie geschlagen. Darin fand auch die lokaldemokratische Aufbruchsstimmung der Umbruchszeit sichtbaren Ausdruck. War die direkte Wahl des Bürgermeisters bis zum Beginn der 1990er Jahre ausschließlich in Bayern und Baden-Württemberg bekannt, folgten – beginnend mit Hessen im Jahre 1990 – alle anderen deutschen Flächenländer bis 1999 diesem Modell, vielfach verbunden mit der kommunalverfassungsgeschichtlich völlig neuen Möglichkeit der Bürgermeisterabwahl durch ein kommunales Referendum (recall). Neben dem Personalplebiszit wurde auch das Sachplebiszit (Bürgerbegehren, Bürgerentscheid) in die Gemeindeverfassungen aller deutschen Bundesländer aufgenommen, welches bis dahin 25 Jahre lang in Baden-Württemberg ein in Westdeutschland einsamer Sonderling geblieben war.

Erst mit der Novellierung der Gemeindeordnung vom 2. April 1990 machte Schleswig-Holstein den Anfang einer Folge von Gesetzgebungsverfahren, in deren Ergebnis bis 1999 (Mecklenburg-Vorpommern) bindende Referenden für Gemeinden in allen deutschen Flächenländern eingeführt wurden. Darüber hinaus sehen alle ostdeutschen sowie die meisten westdeutschen Flächenländer (außer Baden-Württemberg, Hessen und dem Saarland) lokale Referenden auch für die Landkreise vor, womit ein der deutschen Kreisverfassungstradition bis dato völlig unbekanntes Instrument eingeführt worden ist.

Insgesamt wurden damit auf lokaler Ebene die vorher über 40 Jahre vorherrschenden repräsentativ-demokratischen Formen politischer Entscheidungsfindung durch direktdemokratische Formen ergänzt. So erfuhr die kommunale Verfassungswelt bei allen weiterbestehenden Unterschieden eine kaum für möglich gehaltene Vereinheitlichung. Dies ist umso beachtenswerter, als es sich hierbei um einen dezentralen politischen Entscheidungsprozess handelt, denn die Kommunalverfassungen liegen in der Zuständigkeit der Bundesländer.

Die duale Rat-Bürgermeister-Verfassung (baden-württembergischer Prägung) ist formal zur Leitverfassung in Deutschland geworden. Gemeint ist damit eine duale Kompetenzverteilung, wonach Verwaltungschef und Ratsvertretung über je eigene Entscheidungsrechte verfügen, ergänzt um die Möglichkeit bindender lokaler Referenden. Ein direkt gewählter Bürgermeister ist nunmehr überall Verwaltungschef und muss sich nur in Hessen im Magistrat absprechen (kollegiale anstatt monokratischer Leitung). Nach wie vor bestehen allerdings innerhalb dieser Leitverfassung z.T. erhebliche Unterschiede im Zusammenspiel der Institutionen zwischen einzelnen Bundesländern (vgl. Tabellen 1 und 2)

Tab. 1: Regelungen zur Direktwahl der Bürgermeister im Bundesländervergleich

Tab. 1: Regelungen zur Direktwahl der Bürgermeister im Bundesländervergleich
Direktwahl des Bürgermeisters (BM)Abwahl des Bürgermeisters (BM)
BundeslandAmtsdauer BM (Jahre)Wahlperiode Rat (Jahre)Vorschlag vonAbwahl möglichBB-Quorum in % der WählerRR-Quorum der Gemeinde-vertreterBE-Quorum in % der Wähler
Baden-Württemberg 85Enein
Bayern 66P/Wnein
Brandenburg 85E/P/Wja25/20/152/3-Mehrheit25
Hessen 65E/P/Wja2/3-Mehrheit30
Mecklenburg-Vorpommern 7–95E/P/Wja2/3-Mehrheit33,3
Niedersachsen 85E/P/Wja3/4-Mehrheit25
Nordrhein-Westfalen 55E/P/Wja20/17,5/152/3-Mehrheit25
Rheinland-Pfalz 85E/P/Wja2/3-Mehrheit30
Saarland 105E/P/Wja2/3-Mehrheit30
Sachsen 75E/P/Wja33,3/203/4-Mehrheit50
Sachsen-Anhalt 75E/P/Wja3/4-Mehrheit30
Schleswig-Holstein 6–85E/PRja202/3-Mehrheit20
Thüringen 65E/P/Wja2/3-Mehrheit30
Tabellenbeschreibung

BB=Bürgerbegehren; BE=Bürgerentscheid; RR=Ratsreferenden; E=Eigenbewerbung; P=durch Partei; W=durch Wählergruppe; PR=von im Rat vertretenen Parteien

Quelle: Bogumil/Holtkamp 2013: 32, aktualisiert

Die Unterschiede betreffen vor allem die Kompetenzverteilung zwischen Kommunalvertretung und Verwaltung, die Wahlzeit des Bürgermeisters, die Leitung der Gemeindevertretung (Bürgermeister oder Vorsitzender der Vertretungskörperschaft), die Möglichkeiten des Kumulierens (ein Kandidat auf einer Liste kann mehrere Teilstimmen erhalten) und des Panaschierens (Teilstimmen können auf Kandidaten konkurrierender Listen verteilt werden) sowie die Durchführungsbedingungen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden. Zur Beschreibung dieser stark variierenden kommunalen Entscheidungsstrukturen im Rahmen der dualen Rat-Bürgermeister-Verfassung hat sich das Begriffspaar "Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie" durchgesetzt (vgl. Bogumil/Holtkamp 2013: 167 und Kapitel unten)

Tab. 2: Regelungen zu kommunalen Referenden im Bundesländervergleich

BundeslandBB Unterschriften-quorum (in%)Prüfung der Zulässigkeit durchZulässige ThemenRR (erforderliche Ratsmehrheit)BE Zustimmungs-quorum (in%)
Baden-Württemberg 4,5–7Gemeindevertretung2-2/3-Mehrheit20
Bayern 3–10Gemeindevertretung1-einfache Mehrheit10–20
Brandenburg 10Gemeindevertretung5+*25
Hessen 3–10Gemeindevertretung2-2/3 Mehrheit15-25
Mecklenburg-Vorpommern 2,5-10Gemeindevertretung + Kommunalaufsicht5+einfache Mehrheit25
Niedersachsen 5-10Verwaltungsausschuss5+20
Nordrhein-Westfalen3–10Gemeindevertretung3-2/3-Mehrheit10–20
Rheinland-Pfalz5–9Gemeindevertretung5+einfache Mehrheit15
Saarland 5–15Gemeindevertretung5+30
Sachsen 5–10Gemeindevertretung2+2/3-Mehrheit25
Sachsen-Anhalt 4,5–15Gemeindevertretung5+2/3-Mehrheit20
Schleswig-Holstein 4-10Kommunalaufsicht2-einfache Mehrheit8-20
Thüringen 4,5–7Gemeindevertretung1-2/3-Mehrheit10–20
Tabellenbeschreibung

BB = Bürgerbegehren; BE = Bürgerentscheid; RR = Ratsreferenden, Einstufung bei zulässigen Themen von 1=sehr viele bis 6=sehr wenige

Quelle: Mehr Demokratie e.V. 2019: 11, eigene Bearbeitung

Gebietsreformen

Die Größe der Kommunen variiert zwischen den Bundesländern erheblich. Während es im vereinten Deutschland bundesweit 11.054 Gemeinden (Stand 2018) gibt, sind es z.B. in NRW nur 396, aber in Bayern immer noch 2.056 Kommunen. Die Gründe liegen darin, dass es unterschiedliche historische Ausgangslagen gibt und dass kommunale Gebietsreformen in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich durchgeführt wurden. Gebiets- bzw. Territorialreformen sind tiefgreifende und fast immer umstrittene Umstrukturierungen von Verwaltungen unterhalb der nationalen Ebene.

Während in Westdeutschland die Gebietsreformen vor allem in den 1970er Jahren durchgeführt worden sind und es seitdem nur noch vereinzelt und praktisch nur auf freiwilliger Basis zu kleinen Veränderungen kam, wurde in allen ostdeutschen Bundesländern seit den frühen 1990er Jahren die Anzahl der Gemeinden und der Kreise deutlich reduziert. Nach einer ersten Konsolidierungswelle Mitte der 1990er Jahre verschärfte die anhaltende Strukturschwäche und die seitens der EU auferlegte Schuldenbremse die schwierige Lage vieler öffentlicher Haushalte. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern führte dies ab 2007 zu einer zweiten Welle von Gebietsreformen. Die letzten Reformversuche in Brandenburg und Thüringen in den Jahren 2014 bis 2017 sind dagegen gescheitert. In der Summe ist es dennoch, wenn auch nach Bundesländern unterschiedlich, zu einer erheblichen Reduzierung von Kommunen und Kreisen in einem ähnlichen Ausmaß wie bei den früheren Gebietsreformen in Westdeutschland gekommen.

Tab. 3: Gemeindegebietsreformen in Ostdeutschland

Anzahl der Gemeinden 1990Anzahl der Gemeinden 2001/2003Anzahl der Gemeinden 2017Reduzierung um
Mecklenburg-Vorpommern 1.11799475333%
Sachsen-Anhalt1.3491.28921884%
Thüringen1.6991.01784950%
Brandenburg 1.77542241776%
Sachsen 1.62354042274%

Quelle: eigene Zusammenstellung

Tab. 4: Kreisgebietsreformen in Ostdeutschland

Anzahl der Kreise 1990Anzahl der Kreise 2000Anzahl der Kreise 2017Reduzierung seit 1990
Mecklenburg-Vorpommern 31126-80%
Sachsen-Anhalt 372111-70%
Thüringen 351717-51%
Brandenburg 381414-63%
Sachsen 482210-79%

Quelle: eigene Zusammenstellung

Dass die kommunale Gebietsstruktur in Ostdeutschland mit durchschnittlich 4.700 Einwohnern pro Kommune immer noch kleinteiliger ist als in Westdeutschland mit durchschnittlich 8.000 Einwohnern, liegt an der historischen Ausgangssituation. Denn auch in ihrer Gebietsgröße klein gehalten, ließen sich in der DDR die Kommunen als lokale "Organe der Staatsmacht" von dieser wirksamer kontrollieren (Wollmann 1998, S. 150).

Managementreformen/Neues Steuerungsmodell

Ein weiterer Reformschub ging Ende der 1990er Jahre von der Diskussion um die Einführung des "Neuen Steuerungsmodells" (NSM) aus, das sich binnen kurzer Zeit als eingedeutschte Variante von New Public Management (NPM) zum Referenzmodell lokaler Modernisierung entwickelte. Im Unterschied zum seit den 1980er Jahren unter dem Stichwort "New Public Management" (NPM) geführten internationalen Reformdiskurs wurde das NSM hierzulande jedoch eher als eine Alternative zu Privatisierungen und neo-liberalem Minimalstaat gesehen, indem es stärker auf Binnenreformen als auf Privatisierung und Ausgliederung von Aufgaben (Outsourcing) setzte. Ziel war eine betriebswirtschaftlich angeleitete, grundlegende Modernisierung und Steigerung der Effizienz- und Effektivität der öffentlichen Verwaltung. Erreicht werden sollte dies durch umfassende Reorganisation, u.a. die Einführung von Ergebnissteuerung und leistungsbezogenem Management (Performance Management), von Leistungs- und Zielvereinbarungen (Kontraktmanagement), die Dezentralisierung von Ressourcenverantwortung, Berichtswesen und Controlling sowie eine klarere Trennung von Politik (Rat) und Verwaltung.

Die Reformbewegung gestaltete sich in ost- und westdeutschen Kommunen recht unterschiedlich. Während sie sich in westdeutschen Kommunen seit Beginn der 1990er Jahre wie ein Buschfeuer verbreitete, waren die verwaltungspolitischen Strategien der ostdeutschen Kommunen zunächst vorrangig auf den Aufbau und die Konsolidierung traditioneller (bürokratischer) Verwaltungsstrukturen gerichtet. Hingegen spielten Managementreformen kaum eine Rolle. Angesichts der spezifischen Transformationsprobleme in Ostdeutschland erblickten die Akteure in der NSM-Diskussion lange Zeit eine luxuriöse Modeerscheinung der westlichen Verwaltungswelt. Die teilweise rückblickend geäußerte Kritik, im Zuge des Institutionentransfers seien veraltete westliche Verwaltungsmodelle in ostdeutsche Kommunen eingeführt worden, trifft somit empirisch betrachtet zu.

Gleichwohl griff die NSM-Modernisierungsdiskussion auf die ostdeutschen kommunalen Arenen über, was nicht zuletzt durch die sich zuspitzenden Haushaltsengpässe und Einsparzwänge motiviert war. Faktisch kam es im Verlauf der 1990er Jahre zunehmend zur Angleichung an die Modernisierungspraxis in den westdeutschen Kommunen. Dies gilt vor allem für die (größeren) Städte, während die ostdeutschen Kreise aufgrund des umfassenden Strukturumbruchs der Kreisneugliederung – von einzelnen Vorreitern abgesehen – der Entwicklung zunächst "hinterherliefen".

Eine Evaluation des NSM aus dem Jahre 2007 ergab, dass 92 Prozent der deutschen Kommunen seit den neunziger Jahren Maßnahmen der Verwaltungsmodernisierung durchgeführt haben. Zu diesem Zeitpunkt war kein West-Ost-Gefälle mehr feststellbar. Jedoch wurde die Frage, wie modernisiert wird, und insbesondere, ob dabei das NSM als Reformleitbild im Vordergrund stehen soll, von ost- und westdeutschen kommunalen Akteuren unterschiedlich beantwortet. Von den deutschen "Reformkommunen" hat sich eine überwältigende Mehrheit (82%) am NSM als Reformleitbild orientiert, wobei jedoch diese Orientierung am NSM in westdeutschen stärker als in ostdeutschen Städten und eher in großen Städten und Kreisen als in den kleineren Kommunen festzustellen ist.

Kann die Leitbildwirkung des NSM im Allgemeinen als unbestritten gelten, so ergibt sich jedoch hinsichtlich der konkreten Umsetzung des Reformkonzepts ein differenziertes Bild. Zum einen orientierten sich mehr als 60 Prozent der Städte nur an einzelnen Elementen des NSM, wohingegen die Kommunen, die ihre Reformaktivitäten am Gesamtkonzept des NSM ausrichten, klar in der Minderheit blieben (15%). Außerdem gab es nach zehn Jahren NSM-Reform kein einziges Reformelement, dessen Umsetzung die Mehrheit der deutschen Kommunen abgeschlossen hatte. Diese "Implementationslücke" hängt indes auch mit konzeptionellen Schwächen und Problemen des Reformmodells selbst zusammen. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die NSM-Ziele einer verbesserten Kundenorientierung, einer Leistungssteigerung (verkürzte Verfahren) und eines "Kulturwandels" (Kosten- und Leistungsdenken) am ehesten erreicht worden sind. Außerdem sind durch Dezentralisierung und Performanzmanagement für die Mitarbeiter Anreize zu effizienterem und wirtschaftlicherem Handeln entstanden. Allerdings konnte die vorgesehene klarere Trennung von Politik und Verwaltung ebenso wenig erreicht werden wie die Stärkung der Strategiefähigkeit des Rates. Auch die erhofften Einsparungen sind weitgehend ausgeblieben.

Kommunale Demokratie

Die Ausgestaltung kommunaler Demokratie ist von verschiedenen Bestimmungsfaktoren abhängig: der Gemeindegröße, dem institutionellen Zuschnitt der Kommunalverfassungen, lokalen politisch-kulturellen Faktoren und persönlichen Konstellationen. Da die Bundesländer sowohl unterschiedliche Kommunalverfassungen und Gemeindegrößen als auch unterschiedliche politisch-kulturelle Prägungen aufweisen, ist es nicht verwunderlich, dass kommunale Entscheidungsstrukturen erheblich variieren.

Zur Beschreibung dieser zwischen den Bundesländern stark variierenden kommunalen Entscheidungsstrukturen wird, wie oben angedeutet, das Begriffspaar »kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie« verwandt, das zwei unterschiedliche Typen der repräsentativen Demokratie auf der kommunalen Ebene abbildet. In der kommunalen Konkordanzdemokratie wird in der Gemeindevertretung kaum zwischen Opposition und Regierung unterschieden und ist die Fraktionsdisziplin aus Sicht der Ratsmitglieder geringer ausgeprägt, während der Bürgermeister als "exekutiver Führer" dominiert. Demgegenüber zeichnet sich kommunale Konkurrenzdemokratie durch einen starken Parteienwettbewerb und einen weniger einflussreichen Bürgermeister aus.

Angelehnt an diese idealtypische Unterscheidung können die Flächenländer mittels eines Konkordanzindex zugeordnet werden (Bogumil und Holtkamp 2013, S. 167, Bogumil/Holtkamp 2016). Danach dominieren konkordanzdemokratische Muster eher in baden-württembergischen, rheinland-pfälzischen und den meisten ostdeutschen Kommunen, während in NRW, dem Saarland und Hessen konkurrenzdemokratische Konstellationen prägend sind. Die anderen Bundesländer werden zwischen diesen Polen verortet (Niedersachsen, Bayern, Schleswig-Holstein). Insgesamt ist in Deutschland ein Trend zur kommunalen Konkordanzdemokratie zu beobachten, begünstigt durch die Kommunalverfassungsreformen und die zunehmende Schwäche der Parteien. Letzteres zeigt sich auch daran, dass die Verfahrensbedingungen für Bürgerbegehren in der Tendenz immer bürgerfreundlicher werden.

Bemerkenswert ist die weitgehend einheitliche Einordnung der ostdeutschen Kommunen als Konkordanzdemokratien. Ursächlich hierfür sind einerseits kleinere Gemeindegrößen, ferner Kommunalverfassungen, die den Einfluss von Parteien eher begrenzen, und eine politische Kultur, welche die Konkordanzdemokratie begünstigt. So zeigt sich z.B. bei Haushaltsberatungen in sächsischen Kommunen, dass es die angenommene ideologische Trennung in ein bürgerliches und ein linkes Lager so dort nicht gibt. Die grundlegenden Interessen und Ziele der Parteien und Entscheidungsträger sind in wichtigen stadtpolitischen Fragen häufig miteinander vereinbar bzw. parteigebundene Partikularinteressen werden gesamtstädtischen Interessen untergeordnet. Parteien haben zwar unterschiedliche Ausgabepräferenzen oder Einnahmeprioritäten, es dominieren aber die Ziele Haushaltsausgleich und Kreditvermeidung (vgl. Bogumil/Holtkamp 2016).

Hier könnte es für die Kommunalpolitik in Deutschland zu einem Institutionentransfer in umgekehrter Richtung kommen. Nachdem bereits im Gefolge der Einführung der ostdeutschen Kommunalverfassungen Institutionen zurück nach Westdeutschland transferiert wurden (Direktwahl der Bürgermeister, kommunale Referenden), könnten westdeutsche Parteien in kleineren Gemeinden notgedrungen auch auf ostdeutsche konkordante Wettbewerbsmuster zurückgreifen, wollen sie sich nicht aus der Fläche zurückziehen. So gesehen ist der Institutionentransfer keine Einbahnstraße von West nach Ost. Vielmehr können gerade die lokalen westdeutschen Parteien in Zeiten rückläufiger Mitgliederzahlen und schwindender Parteiidentifikation der Wähler im Umgang mit niedrigem Organisationsgrad vor Ort und der erstarkten parteilosen Konkurrenz von Ostdeutschland lernen.

Quellen / Literatur

Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars 2013: Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine praxisorientierte Einführung. Bonn. Bundeszentrale für politische Bildung. Band 1329.

Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars (Hrsg.) 2016: Kommunale Entscheidungsstrukturen in Ost- und Westdeutschland. Zwischen Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie, Wiesbaden: Springer Verlag.

Ebinger, Falk/Bogumil, Jörg 2016: Von den Blitzreformen zur neuen Behutsamkeit Verwaltungspolitik und Verwaltungsreformen in den Bundesländern, in: Hildebrandt, Achim/Wolf, Frieder (Hrsg.) 2016; Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich, Baden-Baden, S. 139-160.

Holtkamp, Lars 2008: Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie – Parteien und Bürgermeister in der repräsentativen Demokratie. Reihe "Gesellschaftspolitik und Staatstätigkeit" Band 30. Wiesbaden.

Kuhlmann, Sabine/Schwab, Oliver (Hrsg.) 2017: Starke Kommunen – wirksame Verwaltung: Fortschritte und Fallstricke der internationalen Verwaltungs- und Kommunalforschung. Wiesbaden.

Kuhlmann, Sabine et. al 2011: Dezentralisierung des Staates in Europa. Auswirkungen auf die kommunale Aufgabenerfüllung in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Wiesbaden: VS.

Kuhlmann, Sabine/Seyfried, Markus/Siegel, John 2018: Wirkungen kommunaler Gebietsreformen. Stand der Forschung und Empfehlungen für Politik und Verwaltung. Modernisierung des öffentlichen Sektors ("Gelbe Reihe"), Bd. 42. Berlin/Baden-Baden: edition sigma/Nomos.

Mehr Demokratie e.V. (Hrsg.) 2019: Bürgerbegehrensbericht 2018, Berlin (https://www.mehr-demokratie.de/buergerbegehrensbericht/)

Wollmann, Hellmut 1998: Um- und Neubau der Kommunalstrukturen in Ostdeutschland, in: Ders./ Roland Roth (Hrsg.), Kommunalpolitik (bpb Schriftenreihe Band 356), 2. Auflage, Bonn, S. 149 – 167.

Fussnoten

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Weitere Inhalte

Prof. Dr. Sabine Kuhlmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für "Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation" an der Universität Potsdam, Externer Link: www.uni-potsdam.de.

Prof. Dr. Jörg Bogumil, Lehrstuhl für öffentliche Verwaltung, Stadt- und Regionalpolitik der Ruhr-Universität Bochum. Externer Link: www.sowi.rub.de