Nicht-institutionalisierte politische Beteiligung und Protestverhalten

1. Beteiligung kommt mehr und mehr ohne Organisation aus – zum Wandel von Partizipation
Ohne politische Partizipation, so lautet eine zentrale Annahme der Demokratietheorie, ist demokratische Politik nicht vorstellbar. Allerdings hat sich in Deutschland, wie in anderen postindustriellen Gesellschaften auch, seit den späten 1960er Jahren ein Wandel im Beteiligungsverhalten der Bevölkerung vollzogen: Zur politischen Partizipation gehören in modernen Demokratien inzwischen neben den etablierten und seit langem institutionalisierten, d.h. rechtlich geregelten Formen (z. B. Teilnahme an Wahlen oder Mitgliedschaft in Parteien) auch weniger verfasste bzw. nicht-institutionalisierte Formen politischer Einflussnahme.Hierzu gehören z. B. Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Hausbesetzungen bis hin zu Ausdrucksformen zivilen Ungehorsams. An den derart insgesamt erweiterten Formen politischer Partizipation sind zugleich die Ausprägungen eines gewandelten Beteiligungsmusters erkennbar, für das die Forschung den Begriff "partizipatorische Revolution" (Max Kaase, 1984) geprägt hat. Gemeint ist damit ein Beteiligungsmuster, das durch "die Entinstitutionalisierung politischer Beteiligung und die Erweiterung des politischen Beteiligungsrepertoires" gekennzeichnet ist (van Deth 1997: 294).

2. Nicht-institutionalisierte Partizipation in Ost- und Westdeutschland in Zahlen und Daten
Auch solche jüngeren Formen politischer Partizipation werden in Deutschland mittels Umfragen und medial vermittelter Ereignisdaten systematisch erfasst, und auch sie gehen ein in die Beurteilung des politischen Interesses sowie in das Maß politischer Beteiligung (vgl. Abbildung "Politische Beteiligung"). Das Ausmaß solcher nicht-institutionalisierter Aktivitäten politischer Partizipation war in Ost- und Westdeutschland in den 1990er Jahren nahezu stabil und steigt mit Beginn der 2000er Jahre an. Diese Steigerung hebt sich deutlich ab von der Beteiligungsdichte bei herkömmlichen institutionalisierten Aktivitäten politischer Partizipation (z. B. in Parteien oder der Kommunalpolitik), wo eine vergleichbare Dynamik nicht vorhanden ist. Das Maß der Beteiligung ist im gleichen Zeitraum vielmehr relativ konstant geblieben bzw. ist rückläufig geworden. Was die Häufigkeit politischer Partizipation angeht, sind keine markanten Unterschiede zwischen Ost und West festzustellen (vgl. Weßels 2008, S. 392).
Auch die allgemeinen Bevölkerungsumfragen der Sozialwissenschaften (ALLBUS) belegen ein stetiges Anwachsen der Beteiligung an nicht-institutionalisierten, früher oftmals als "unkonventionell" bezeichneten Aktivitäten (vgl. Tabelle "Nicht institutionalisierte Formen politischer Partizipation"). Sie erfassen seit 1980 diese Formen politischer Partizipation wie z. B. die Mitarbeit in Bürgerinitiativen oder die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen, an Blockaden und Besetzungen. Solche Aktivitäten sind heute häufig selbstverständlicher und verbreiteter als die Hinwendung zu institutionalisierten Formen politischer Aktivität, weshalb die Bezeichnung "unkonventionell" kaum noch zutrifft und mittlerweile durch das Attribut "nicht-institutionalisiert" verdrängt worden ist. Auch dieser Befund gilt für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen.
3. Protest als besondere Spielart
Einige dieser Spielarten politischer Partizipation, nämlich Formen des Protests, verstärken sich in Ost- und Westdeutschland. Als nicht-institutionalisiertes Protestereignis zählt, einer gängigen Definition zufolge, eine "kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist" (Rucht 2003, S. 23). Zu solchen Aktionen gehören etwa Blockaden, Boykotte, Sit-ins und Streiks sowie Massenversammlungen (Neidhardt/Rucht 2001, S. 28). Kollektiver und öffentlicher Protest ist zugleich ein bevorzugtes Mittel der Einflussnahme seitens sozialer Bewegungen. Soziale Bewegungen, die eine kollektive Form bürgerschaftlichen Engagements darstellen, zielen, anders als thematisch begrenzte Protestkampagnen, die sich auf ein bestimmtes Politikfeld oder gegen einen konkreten Missstand richten, auf die Änderung der wertbezogenen oder materiellen Grundlagen von Gesellschaft (vgl. Rucht 2003, S. 23). Dabei wird zwischen "alten" und "neuen" sozialen Bewegungen unterschieden. So verfolgten die alten sozialen Bewegungen (z. B. die Arbeiterbewegung) primär materielle Ziele, die sich auf die Produktionssphäre richten (wobei es auch immer um das Einfordern von nicht nur materieller Anerkennung gegangen ist). Hingegen streben neue soziale Bewegungen (wie z. B. die Umwelt-, die Anti-Atomkraft-, die Frauen- oder die Friedensbewegung) vorrangig postmaterialistische Ziele (Selbstverwirklichung, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen u.ä.) an, die in der Reproduktionssphäre verwirklicht werden sollen. Die alten sozialen Bewegungen sind darüber hinaus meist in einem formal verfassten Großverband wie Parteien oder Gewerkschaften organisiert, während die neuen sozialen Bewegungen oft dezentral, d.h. in informellen Gruppen, Initiativen und Netzwerken organisiert sind.4. Was "neben Institutionen" begann, nimmt tendenziell selbst institutionelle Gestalt an

5. Anlässe und Teilnehmer
Der Protest als Mittel der Einflussnahme und Selbstdarstellung ist nicht allein sozialen Bewegungen vorbehalten. Auch einzelne informelle Gruppen, Parteien, Verbände, Unternehmen und andere nicht-staatliche Organisationen sowie einzelne Personen artikulieren ihren Protest. Das Ausmaß von Protest wird durch zwei zentrale Größen erfasst: erstens durch die Zahl der Protestereignisse und zweitens durch die Zahl der an Protesten Teilnehmenden. Beide Größen sind von Bedeutung, da nicht von einer auf die andere geschlossen werden kann (Rucht 2003, S. 31). Die Zahl der Proteste und die Zahl der Protestteilnehmer haben sich nicht gleichförmig entwickelt (vgl. Rucht 2006, S. 189; Abbildung "Entwicklung Zahl von Protesten und Protestteilnehmern 1950-1997"): Während die Zahl der Proteste von 1950 bis 1996 stetig wuchs, bis 2000 relativ gleich blieb und ab 2001 abfällt, unterliegt die Zahl der Protestteilnehmer über den ganzen Zeitraum hinweg starken Schwankungen. Die Häufigkeit von Protesten wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören auch allgemeine politische Rahmenbedingungen, die ihrerseits Regierungskonstellationen und Themenschwerpunkte sowie Reformprogramme umfassen. Die Zahl der Teilnehmer an Protesten wird wesentlich von einzelnen Massenveranstaltungen beeinflusst, die nur eines geringen Einsatzes der Beteiligten sowie eines geringen organisatorischen Aufwands bedürfen. Im Durchschnitt der Teilnehmerzahlen aller Proteste fallen kleinere, von informellen Gruppen getragene Aktivitäten kaum ins Gewicht (Rucht 2003, S. 37). Dies wird besonders anhand der Zahlen für die Jahre 1968/69 deutlich: an der sehr hohen Zahl an Protesten ist nur eine relativ kleine Teilnehmerzahl beteiligt. Auffällig ist auch das Jahr 2002; hier fällt eine relativ geringe Zahl von Protesten mit einer sehr hohen Zahl an Protestteilnehmern zusammen. Diese Differenz ist einzelnen Massenprotesten und Unterschriftensammlungen mit mehreren Millionen Unterstützern geschuldet. Doch kann das Maß an Protestereignissen und Protestteilnehmern auch zusammenfallen, wie die Jahre des Systemumbruchs in Ostdeutschland 1989/90 zeigen. Die damals vielen Proteste wurden von einer ebenso hohen Zahl von Protestteilnehmern getragen (vgl. Rucht 2006, S. 188 f.).
Im Vergleich der alten und neuen Bundesländer (vgl. Tabelle "Protestthemen im Ost-West-Vergleich") fällt auf, dass in letzteren insbesondere sozioökonomische Probleme, die mit dem Systemumbruch entstanden sind bzw. sich in den Transformationsverläufen noch verschärft haben (z. B. Erhalt von Arbeitsplätzen, Lohnunterschiede zwischen Ost und West) ein bevorzugtes und häufiger als in Westdeutschland formuliertes Protestthema sind. Zwar nimmt auch in den alten Bundesländern das Thema Arbeit(splatzsicherheit) den Spitzenplatz bei den Protestthemen ein; zugleich werden aber postmaterialistische Themen stärker und öfter artikuliert als in Ostdeutschland. Bei den so genannten neuen "Montagsdemonstrationen" insbesondere der Jahre 2003 und 2004 (vornehmlich gegen die Hartz IV-Gesetze und in durchaus nicht unumstrittener Anlehnung an die in der DDR im Herbst 1989 zumeist montags stattfindenden Massenproteste) zeigte sich wiederum, dass Ostdeutsche, die sich zu den Einigungsverlierern zählen, versuchen ihre eigene Protestkultur wiederzubeleben – freilich nicht mit annähernd gleicher Mobilisierungs- oder Durchsetzungskraft wie 1989.
Literaturhinweise
- Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004: hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kurzfassung, München 2005.
- Geißel, Brigitte/Thillman, Katja 2006: Partizipation in Neuen Sozialen Bewegungen. S.159-183, in: Hoecker, Beate (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studien- orientierte Einführung, Opladen.
- Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 2001: Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950-1994. Ereignisse, Themen, Akteure, S. 27-70, in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt/Main.
- Rucht, Dieter 2003: Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen. S. 17-155, in: Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" Deutscher Bundestag (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen, Opladen.
- Weßels, Bernhard 2008: Politische Integration und politisches Engagement. S. 391-396, in: Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn.