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Der "Prager Frühling" Moskaus Entscheid zur Invasion

Stefan Karner

/ 18 Minuten zu lesen

Bislang verschlossene Politbüroakten zeigen: Die Entscheidung Moskaus zum Einmarsch in die Tschechoslowakei fiel früher als bisher angenommen. Stefan Karner schildert die sowjetische Politik um den "Prager Frühling" und seine militärische Niederwerfung.

Dicht an dicht standen die sowjetischen Panzer im August 1968 in der Prager Altstadt. (© AP)

Einleitung

Es ist Dienstag, der 20. August 1968, kurz vor 22 Uhr. In der Abenddämmerung über Prag landet eine sowjetische Militärmaschine. Luftlandetruppen, längst gedrillt für ihren Einsatz, aber unvorbereitet auf die tatsächliche Situation, besetzen den Tower und die Abfertigungshalle des Flughafens. Die militärische Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes beginnt, der "Prager Frühling" wird gewaltsam beendet.

Die Vorgeschichte begann 1953. Stalins Tod und die erste Entstalinisierung, ausgehend von Nikita Chruschtschows Geheimrede 1956, hatten auch in der Tschechoslowakei zu einer Verurteilung des Personenkults geführt. Seit 1957 amtierte Partei- und Staatschef Antonín NovotnÝ. Er hatte nicht nur sein Land durch vorsichtige Wirtschaftsreformen in die "erste Liga" des COMECON gebracht, Anfang der 1960er Jahre die Stalinisten ausgeschaltet und einen Spalt der Liberalisierung und Meinungsfreiheit (etwa durch Live-Fernsehdiskussionen in Kooperation mit dem ORF) geöffnet, sondern auch 1964 als einziger Ostblockführer der Absetzung Chruschtschows durch Leonid Breschnew kritisch gegenübergestanden. Letzteres hatte ihm Breschnew übelgenommen. Als sich in der CSSR 1967 Unzufriedenheit und Unruhe breit machten, formuliert vor allem von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen wie Václav Havel und Pavel Kohout, und sich NovotnÝ gegen die Stationierung sowjetischer Raketenbasen stellte, ergriff Breschnew die Gelegenheit. Die Würfel für die Absetzung NovotnÝs fielen bereits Anfang Dezember 1967 während eines überraschenden "Urlaubsbesuches" des sowjetischen Parteichefs.

Am 5. Januar 1968 musste NovotnÝ von seinem Posten als Erster Sekretär der KPC, der eigentlichen Machtposition, zurücktreten und für den slowakischen KP-Chef Alexander Dubcek Platz machen. NovotnÝ blieb Staatspräsident. Dennoch: Der Wechsel an der Parteispitze markierte den Beginn des "Prager Frühlings", einer zunächst von der Parteispitze verordneten Reform des sozialistischen Modells, die sehr bald von breiten Bevölkerungsschichten übernommen wurde und sich Ende Juni immer weiter verselbständigte, was den Druck auf die Reformer um Dubcek erhöhte. Der Idealist Dubcek, geschult in sowjetischen Partei- und Kaderschmieden, hatte sich weitgehend von der Doktrin gelöst und versucht, seine Vision eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verwirklichen. Der Sozialismus erschien ihm weiterhin als beste Gesellschaftsform, doch hatte er sich von den Vorgaben aus Moskau weit entfernt.

Dies bedeutete Druck von zwei Seiten: von den Hardlinern im Kreml und den KP-Chefs Walter Ulbricht und Wladyslaw Gomulka einerseits und von den restaurativen, orthodoxen Kräften in der Tschechoslowakei andererseits. Schon im März 1968, zwei Monate nach seiner Inthronisation, brüskierte Dubcek den Kreml, als er die Einladung einer Militärdelegation nach Moskau ablehnte. Die restaurativen Kräfte um NovotnÝ gaben sich freilich noch nicht geschlagen. Im März planten sie die Verhaftung der Reformer, General Vladmir Janko sollte mit seiner Panzerdivision vorgehen und nach einer Liste mit 1030 Namen Verhaftungen durchführen. Als die Liste öffentlich wurde, beging Janko Selbstmord, und NovotnÝ musste zurücktreten. Die Ernennung von General Ludvík Svoboda zum neuen Staatspräsidenten, der sofort über tausend politische Gefangene amnestierte, galt als Schritt zur Festigung der Position der Reformer. Heute wissen wir, dass sich Svoboda im August 1968, knapp fünf Monate später, gegen die Dubcek-Gruppe stellte und die Position des Kreml stärkte.

Am 5. April 1968 folgte das entscheidende Plenum der KPC mit einem "Aktionsprogramm", das binnen zwei Jahren von der Regierung umgesetzt werden sollte und das in den an Moskau orientierten europäischen KP-Zentralen die Alarmglocken schrillen ließ: Die KPC verzichtete weitgehend auf ihr Machtmonopol, ein Schritt, den erst wieder Michail Gorbatschow Ende der 1980er Jahre wagte, mit dem Ergebnis des Endes der KP-Herrschaft und der Sowjetunion. Im Einzelnen wurde beschlossen, eine teilweise Privatisierung der Wirtschaft (Klein- und Mittelbetriebe) zuzulassen, die Wirtschaft von politischen Direktiven frei zu halten und Betriebsräten Entscheidungskompetenzen zu geben. Die Anerkennung der bürgerlichen Grundfreiheiten wurde vollzogen, von der Rede-, Reise- und Versammlungsfreiheit, der Freiheit von Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien bis zur Gründung von Vereinigungen. Das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken sollte auf föderativer Basis neu geregelt werden.

Aus dem KPC-Plenum ging eine neue Führung hervor, die 15 der 19 neuen Minister in die neue Regierung unter Oldrich Cerník entsandte. Innenminister Josef Pavel stimmte Neubesetzungen im Geheimdienst nicht mehr mit der Moskauer KGB-Zentrale ab, wie es bis dahin Usus gewesen war. Zudem rücken Frantisek Kriegel und Jozef SmrkovskÝ in die erste Reihe der Reformer auf. Bei einer hastig einberufenen ZK-Sitzung in Moskau zur Lage in der CSSR kamen die Sowjetführer am 10. April 1968 zu folgender Sprachregelung: "Wir werden die Tschechoslowakei nicht aufgeben!" Diese grundsätzliche Willensäußerung wurde auf politischer und militärischer Ebene umgesetzt. Schon nach wenigen Tagen begann der Oberbefehlshaber der Truppen des Warschauer Pakts, Marschall Iwan Jakubowski, in Polen und daraufhin auch in Berlin, Sofia und Budapest Konsultationen. Das Ziel waren gemeinsame Militärmanöver in der Tschechoslowakei. Die militärische Lösung des Problems sollte zur politischen Option werden. Die Prager Führung kam - in realistischer Einschätzung des Zwecks des Manövers - in die Zwickmühle: Bündnisverpflichtung oder Ablehnung. Schließlich stimmte sie den Manövern zu. Die ersten, beschickt von Panzertruppen Polens und der Sowjetunion, begannen schon im Mai in Südpolen. Ab 19. Juni begannen schließlich in der Tschechoslowakei große Manöver des Warschauer Paktes ("Sumava"), von denen einzelne Truppenverbände bis zur Invasion nicht mehr abzogen.

Die SED-Führung in Berlin, insbesondere die Staatssicherheit, begann mit der Anlage von Dossiers über die führenden Persönlichkeiten in Prag. Sie dienten nach der Invasion als Basis für Säuberungen im Kaderapparat der KPC. Ostdeutsche Behörden begannen Ende April, die deutschen Sendungen von Radio Prag zu stören.

In der CSSR hatten sich die Reformer mit dem "Aktionsprogramm" und der Regierungsbildung fürs Erste gegen die "Konservativen" durchgesetzt. Die Regierungserklärung vom 24. April 1968 machte dies - trotz der Treuegelöbnisse gegenüber Moskau und dem Warschauer Pakt - deutlich, als man die Aufhebung der Zensur, die Rehabilitierung von politischen Opfern, die Erweiterung von Reisemöglichkeiten und Wirtschaftsreformen versprach. Der Sozialismus wurde nicht zur Diskussion gestellt. Spätestens jetzt war für den Kreml ein weiteres, schwerwiegendes Problem in der kommunistischen Bewegung entstanden, weil die Funken der Ideen von Prag überzuspringen drohten. Die Unterstützung des Dubcek-Kurses war unüberhörbar: aus Belgrad und Bukarest, aus den Kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs, aus der Linken der deutschen und französischen "68er-Bewegung" und nicht zuletzt durch den Faktor China, der den Prager Reformern mehr Handlungsspielraum gab, weil die Moskauer Ideologen, wie sich Breschnew nach dem Einmarsch ausdrückte, "ein Maximum an Aufmerksamkeit auf die Entlarvung der Revision des Leninismus von Links, von Seiten der Gruppe Mao Tse Tungs, richten mussten", was naturgemäß Kräfte band.

In der CSSR hatte der politische Reformprozess zu einer starken Solidarisierung weiter Teile der Bevölkerung, besonders der Jugend und Intellektuellen, mit der KP-Führung geführt. Wesentlich trugen dazu die gewährten persönlichen Freiheiten bei, etwa die weitgehende Reisefreiheit, auch ins westliche Ausland und an die Adria. Zehntausende aus westlichen Staaten kamen im Gegenzug in das Land. Ein Spalt im "Eisernen Vorhang" hatte sich aufgetan. Dazu kamen die Aufhebung der Pressezensur ("Literani listy", die neue Zeitschrift des Schriftstellerverbandes unter Eduard Goldstücker, wurde zur publizistischen Plattform der Demokratisierung), Meinungsvielfalt und unzensierte Radio- und TV-Sendungen. Der tschechoslowakische Film (etwa von Milos Forman) setzte internationale Maßstäbe. Neue Vereine wie K231 (nach einem Strafgesetzartikel) und KAN (Klub engagierter Parteiloser) wurden zu Sammelbecken von Reformern außerhalb der Partei. Es kam zu Diskussionen über die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei. Nach Jahren der Unterdrückung erlebte die katholische Kirche einen Aufbruch. Es gab berechtigte Hoffnungen der Slowaken auf mehr Mitsprache im Staat, auf Anerkennung ihrer nationalen Selbständigkeit im Rahmen einer Föderation und schließlich die Hoffnung vieler Tschechoslowaken, auf diesem Weg dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Block Moskaus entrinnen zu können.

Die Bewegung des "Prager Frühlings" kulminierte am 27. Juni 1968. An diesem Tag veröffentlichten der Schriftsteller Ludvík Vaculík und weitere 67 Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler das so genannte "Manifest der 2000 Worte" (Dva tisíce slov), eine Abrechnung mit 20 Jahren der KP-Herrschaft. Die weitere Demokratisierung, so das Manifest, könne nur außerhalb der KPC gesichert werden. Damit stellte man den Sozialismus als Gesellschaftsform überhaupt in Frage. In Moskau brachte das Manifest das Fass zum Überlaufen. Noch in der Nacht darauf soll Breschnew von Dubcek einen "sofortigen Angriff der Volksmilizen gegen die konterrevolutionären Kräfte" gefordert haben. Für den Kreml war das Manifest ein Aufruf zur Konterrevolution in der Tschechoslowakei, obwohl sich die KPC vom Manifest distanziert hatte. Dubcek gehorchte dem KPdSU-Generalsekretär nicht, denn die Masse der Bevölkerung hatte das Manifest begeistert aufgenommen. Die Reformen in der Tschechoslowakei wurden insbesondere in Ost-Berlin mit Missfallen beobachtet. Es war die SED, welche die Reformen des "Prager Frühlings" zum ersten Mal als Konterrevolution bezeichnete. Unterstützung und Bekräftigung in ihrer Einschätzung fand sie vor allem durch die KP-Chefs Polens und Bulgariens, Gomulka und Todor Zivkov.

Aufgrund der Auswertung der neu geöffneten Moskauer Akten kann der Entscheidungsprozess im ZK der KPdSU von Januar bis zum Einmarsch im August 1968 in vier Phasen unterteilt werden:

  1. Die Phase der Wahrnehmung. Sie wurde am 23. März 1968 in Dresden abgeschlossen und gegenüber den Tschechen und Slowaken mit der Bekanntgabe der politischen Forderungen nach Restauration verbunden. Die folgenden Phasen wurden von der Suche nach einem Weg zur Durchsetzung der Dresdener Forderungen bestimmt.

  2. Die Phase des politischen und militärischen Drucks von Ende März bis Ende Juni 1968.

  3. Die Phase des Manifests der "2000 Worte", die Breschnew als "Emser Depesche" nutzte, um den Druck auf die Reformer zu erhöhen, von Ende Juni bis Mitte Juli 1968. Die Würfel zum Einmarsch fielen schließlich Mitte Juli in Warschau, als die "Warschauer Fünf" Dubcek ein Ultimatum setzten.

  4. Die letzte Phase ab dem 17. Juli, als das Politbüro grundsätzlich über die militärische Aktion und die politische Vorbereitung des bürokratischen Putsches in Prag entschied, über die Zwischenspiele in Cierná nad Tisou/Schwarzau a. d. Theiß und Bratislava/Pressburg, bis zur militärischen Intervention.

Der Beitrag beruht auf dem Anfang Juli 2008 erscheinenden zweibändigen Werk: Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan, gemeinsam mit Günter Bischof/Viktor Iscenko/Michail Prozumenscikov/Peter Ruggenthaler/Oldrich Tùma/Manfred Wilke (Hrsg.), Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Bd. 1: Beiträge, Bd. 2: Dokumente, Böhlau Verlag, Wien-Köln 2008, 1200 und 1600 S., sowie auf Günter Bischof/Stefan Karner/Peter Ruggenthaler (eds.), The Prague Spring, New Orleans 2008. Dort finden sich sämtliche Quellennachweise und Literatur, auf Einzelnachweise wurde hier verzichtet. Das der Publikation zugrunde liegende Forschungsprojekt wurde vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung der Republik Österreich gefördert und seit 2005 am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, Graz-Wien-Klagenfurt, unter Leitung des Autors und der Koordination von Peter Ruggenthaler durchgeführt. Hauptprojektpartner waren die Russische Akademie der Wissenschaften/Institut für Allgemeine Geschichte, die Russische Archivagentur/Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte, Moskau, das Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin, das Center Austria der University of New Orleans und das Institut für Zeitgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, Prag. Am Projekt arbeiteten über 60 Forscherinnen und Forscher aus Europa und den USA.

Die Wahrnehmung

Nach der Wahl Dubceks beschränkte sich der Kreml darauf, die Lage in der CSSR als schwierig und widersprüchlich zu bezeichnen und "der tschechoslowakischen Führung soweit wie möglich zu helfen". Man sei, wie man der KPC-Führung immer wieder zu verstehen gab, mit den Beschlüssen des Januarplenums und dem eingeschlagenen Reformkurs einverstanden. Anders sahen dies dagegen vor allem die ostdeutschen, polnischen und bulgarischen Genossen. Nach der Lockerung der Zensur und den Absetzungen von KP-Funktionären begannen Teile der Moskauer Führung "besorgt" zu reagieren, vor allem nach einem Bericht von Außenminister Andrej Gromyko und von KGB-Chef Juri Andropow, den die beiden am 15. März 1968 dem Politbüro vorlegten. Das prognostizierte Horrorszenario: Ohne Gegenmaßnahmen drohe in der CSSR der Kapitalismus und damit die Spaltung des Warschauer Paktes.

Polens KP-Chef Gomulka traf sich - nach Absprache mit Moskau - als einer der ersten bereits Anfang Februar mit der Prager Parteispitze. Dubceks Bemühungen, die Lage in seinem Land in bestem Licht darzustellen, überzeugten Gomulka nicht. Anders Zivkov: Er blieb trotz der Demontage NovotnÝs, dem zweifellos die bulgarischen Sympathien zukamen, gelassen. Die SED-Führung, die ihr Bild aus den Informationen des DDR-Botschafters in Prag, Peter Florin, bezog, schlug indes Alarm: Die KPC-Führung sei gespalten und könne ihre Führungsaufgabe nicht mehr ausüben. Der Reformflügel agiere mit einem offenen und einem illegalen Zentrum, das auch Kontakte zu westlichen Geheimdiensten unterhalte. Das offene Zentrum bestand für ihn aus den Reformern Ota Sik, Eduard Goldstücker, Jirí Pelikán, dem Direktor des tschechoslowakischen Fernsehens, und dem Schriftsteller Pavel Kohout. Für die SED hing die weitere Entwicklung der KPC an Kaderfragen. Das Schlüsselwort "Demokratisierung" war für die SED das Synonym für einen konterrevolutionären Umschwung, den es im Interesse der DDR und des sozialistischen Lagers zu verhindern galt. Die Reformen mussten beendet werden, um das Machtmonopol der KPC zu restaurieren, denn in Prag war die Konterrevolution ausgebrochen.

Die erste Phase endete am 23. März in Dresden mit der ersten von mehreren Konferenzen der "Bruderparteien". Zivkov weilte in der Türkei, hatte aber zuvor Breschnew und Ministerpräsident Alexej Kossygin versichert, Bulgarien sei bereit, falls notwendig, seine Armee einzusetzen. Kaum ausgesprochen, tauchte am Vorabend von Dresden in der vorbereitenden Sitzung des Politbüros in Moskau bereits der Gedanke auf, man solle auch "auf der militärischen Linie nachdenken". Politbüro-Hardliner Kyrill Masurow sprach es offen an: "Wir haben uns auf die äußerste Maßnahme vorzubereiten." Die Führung der KPC fand sich in Dresden vor einem Tribunal wieder. Breschnew stellte gleich zu Konferenzbeginn klar, die Fragen seien viel zu ernst, um sie zu protokollieren. Dennoch ließ die SED sie aufzeichnen. Das Protokoll ist die einzige Primärquelle über das Treffen, bei dem die Konfrontation gegen den Kurs der Prager Reformer begann. Dubcek musste die Politik seiner Partei erläutern und sich dann von Breschnew nicht nur fragen lassen, was er unter "Liberalisierung der Gesellschaft" verstehe, sondern sich auch den Vorwurf anhören, dass in der CSSR die Gefahr einer Konterrevolution bestehe. Er forderte von Dubcek, das Machtmonopol der KPC wiederherzustellen: "Wir sind bereit, Ihnen moralische, politische und demokratische Hilfe zu geben." Drohend fügte er hinzu: "Wenn das aber nicht möglich ist oder wenn Sie das als falsch betrachten, dann können wir trotzdem gegenüber der Entwicklung in der Tschechoslowakei nicht teilnahmslos bleiben."

Das politische Ziel war formuliert: Die KPC sollte ihr Machtmonopol behaupten und die "Konterrevolution" aus eigener Kraft niederschlagen. Über das Dresdener Treffen wurde Stillschweigen vereinbart, an das sich vor allem Dubcek hielt; er ließ seine eigene Parteiführung im Unklaren über die sowjetischen Forderungen.

Der politische und militärische Druck

Die zweite Phase war bestimmt von der Suche nach einem Weg zur Durchsetzung der Dresdener Forderungen. Das "Aktionsprogramm" und die geänderte Zusammensetzung der Parteiführung zu Gunsten der Reformer war ein erster, wichtiger Schritt zum Übergang vom Sozialismus sowjetischen Typs zu einem demokratischen Sozialismus. Diese Konzeption war nur zu realisieren durch die Demokratisierung der KPC und eine Reaktivierung der legislativen und exekutiven Gewalten des Staates. Der Inhalt des "Aktionsprogramms" war dem Kreml seit Mitte März bekannt und von NovotnÝ nahe stehenden Kreisen dem KGB übermittelt worden. War es zunächst in Moskau nur intern diskutiert worden, so kritisierte es Breschnew im Plenum des ZK der KPdSU am 6. April erstmals deutlich als "revisionistisch". Dieses Signal verstanden einige "Bruderparteien" sofort, allen voran die SED.

In Moskau wurde das "Aktionsprogramm" zur wichtigsten Triebfeder, die den "Falken" wie dem Chefideologen Michail Suslow Auftrieb gab, zum Angriff überzugehen. Für Verteidigungsminister Marschall Andrej Gretschko war klar: "Wir sind jederzeit bereit, auf Beschluss der Partei gemeinsam mit den Armeen der Länder des Warschauer Paktes dem tschechoslowakischen Volk zu Hilfe zu kommen, sollten die Imperialisten und Konterrevolutionäre versuchen, die sozialistische Tschechoslowakei den sozialistischen Ländern zu entreißen." Die Tschechoslowakei war den Militärs wichtig: sicherheits- und rüstungspolitisch, was besonders der KGB unter dem Hardliner Juri Andropow so sah.

Zu den wichtigsten Triebkräften, das tschechoslowakische "Problem" gewaltsam zu "lösen", wurden Ulbricht und Gomulka; ihnen folgte Zivkov. Janos Kádár in Ungarn zögerte. Für Ulbricht ging es um den eigenen Machterhalt. Der polnische Parteichef Gomulka unterstützte die Idee einer "bewaffneten Intervention" und verlautbarte, dass er keinen anderen Ausweg sehe, "als die Truppen des Warschauer Paktes, auch die polnische Armee, auf das Gebiet der Tschechoslowakei einmarschieren zu lassen". Auch die bulgarischen Genossen äußerten sich unmittelbar nach Dresden "entschieden für die Ergreifung aller Maßnahmen, auch militärischer, wenn es notwendig ist". Zivkov erklärte: "Es agieren dort westliche Kontaktstellen. In der Tschechoslowakei wie auch in Polen spielt der Zionismus eine große Rolle (...). Es ist dies alles auch das Wirken der jugoslawischen Führung, die über Rumänien, Polen und die Tschechoslowakei versucht, in unsere Familie hineinzuwirken. Es ist nicht notwendig, stalinistische Methoden der Vergangenheit anzuwenden, doch müssen wir (...) Methoden wählen, mit denen wir in der Tschechoslowakei, in Rumänien und danach auch in Jugoslawien Ordnung schaffen können."

Ende April kam Zivkov zum Staatsbesuch nach Prag, wo er zum ersten Mal persönlich mit Dubcek zusammentraf. Als dieser seine Reformen verteidigte, war für Zivkov klar: Dubcek ist ein Revisionist, in der CSSR gibt es eine Konterrevolution und eine Restauration des Kapitalismus. Ebenso wie die SED hatten die Bulgaren an der Spitze der KPC zwei revisionistische Zentren ausgemacht und betont, der konterrevolutionäre Prozess in Prag gehe weiter. Ulbricht stimmte diesem Befund zu und forderte ein zweites Treffen. Zu diesem kam es am 8. Mai in Moskau, wenige Tage, nachdem die KPdSU bilateral mit der KPC verhandelt hatte. Bei den Moskauer Beratungen (ohne die KPC) gerieten die Sowjetführer in eine für sie wohl eigenartig prekäre Situation. Einerseits forderten die "Bruderparteien" äußerste Maßnahmen, andererseits war man sich im Kreml darüber im Klaren, dass solche nur den letzten Ausweg darstellen konnten. Daher sollte die KPC-Führung zunächst noch nicht im Gesamten attackiert werden, in der Hoffnung, die "gesunden Kräfte" würden an Einfluss gewinnen. Das wichtigste Ergebnis lag in der Zustimmung der Prager Führung zur Durchführung von Manövern der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei, möglichst nahe der westdeutschen Grenze.

Von Mai an stand die "tschechoslowakische Frage" laufend auf der Tagesordnung der ZK-Gremien in Moskau. Dennoch war der Tonfall in den Besprechungen relativ moderat, weil man "Dubcek dazu bewegen (wollte), freiwillig im Land Ordnung zu schaffen". Parallelen zu Ungarn 1956 zog vor allem KGB-Chef Andropow, ehemals sowjetischer Botschafter in Budapest: "In Ungarn fing es auch so an." Zu den "Falken" im Politbüro und im ZK zählte neben Andropow, Masurow, Suslow und Gretschko auch der ukrainische KP-Chef Petro Selest, der ein Überschwappen des Reformprozesses auf die Ukraine und damit auf das Sowjetimperium befürchtete. Im Kreml wurden die freien Medien in der Tschechoslowakei im Mai und Juni 1968 zum größten Reizfaktor und waren mitentscheidend für den Entschluss zum militärischen Eingreifen. Das Manifest der "2000 Worte" brachte das Fass zum Überlaufen. Die "Falken" im Kreml gewannen zusehends an Stärke. Unterstützt wurden sie von Hardlinern in einigen "Bruderparteien", etwa Ulbricht oder Gomulka. Für die SED waren die "2000 Worte" "ein Aufruf zur Konterrevolution."

Das Manifest der "2000 Worte"

Das Manifest löste im ZK der KPdSU eine breite Stimmung für eine militärische Lösung aus. Die politische Weichenstellung dafür erfolgte am 15. Juli 1968 beim Treffen der Fünf in Warschau. Die KPC hatte die Teilnahme, wohl wissend, was sie dort erwarten würde, verweigert. Die fünf Parteien sandten einen gemeinsamen Brief an die KPC, in dem sie ultimativ eine Kurskorrektur forderten ("Warschauer Brief"). Der Führung unter Dubcek trauten sie nicht mehr länger die dafür nötige Kraft zu.

Der bulgarische Parteichef Zivkov forderte als Voraussetzung für den Sieg über die "Konterrevolution" die Besetzung der CSSR durch Truppen des Warschauer Paktes. Dem widersprach in Warschau kein anderer Parteiführer. Im Gegenteil: Gomulka, Zivkov und Ulbricht forderten vehement eine militärische Intervention. Ulbricht griff in Warschau Kádár scharf an und erklärte: "Der nächste Schlag wird gegen euch, gegen die Ungarische Volksrepublik, geführt werden."

Breschnew, der nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass Dubcek "sein Mann" in Prag war, für dessen Wahl er letztendlich auch eine gewisse persönliche Verantwortung spürte, war der einzige, der in Warschau noch eine gemäßigte Linie vertrat. Auf dem danach eilig einberufenen ZK-Plenum in Moskau spielte er nochmals auf Zeit und appellierte dafür, "gemeinsam mit den Bruderparteien alle politischen Mittel auszuschöpfen, um der KPC und dem tschechoslowakischen Volk zu helfen, die sozialistischen Errungenschaften zu bewahren und zu verteidigen", bevor die "äußersten Maßnahmen" getroffen würden.

Vor dem Einmarsch

Dennoch liefen parallel dazu die Vorbereitungen für den Einmarsch. Das Politbüro beauftragte offiziell am 22. Juli, wenige Tage nach dem Warschauer Treffen, Verteidigungsminister Gretschko damit, "Maßnahmen für die Zeit nach dem Einmarsch zu ergreifen". Noch einmal sollte mit Dubcek eine "politische Lösung" gesucht werden, und zwar auf Basis der Dresdener Forderungen. Ende Juli kam es zu bilateralen Verhandlungen im slowakischen Cierná nad Tisou (Schwarzau a. d. Theiß), die wider Erwarten aus Sicht des Kreml einigermaßen Erfolg versprechend endeten. Dubcek hatte eine letzte "Chance" erhalten, zumindest aber Zeit gewonnen. Doch am 3. August trafen in Bratislava die "Warschauer Fünf" mit der KPC zusammen und veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, die einer Legitimation des ins Auge gefassten "bürokratischen Putsches" gleichkam. Während des Treffens übergab Vasil Bilak der sowjetischen Delegation den "Einladungsbrief der gesunden Kräfte" der KPC, in dem um eine "kollektive Hilfsaktion" gebeten wurde. Die Übergabe des Briefes soll auf einer Toilette stattgefunden haben.

Der angebliche Bruch der Erklärung von Bratislava durch Dubcek wurde von den Sowjets dazu benutzt, um den Einmarsch zu rechtfertigen. Am 13. August ließ Breschnew Dubcek in einem sehr emotionalen Telefonat fallen. Er warf ihm den Bruch der Absprachen von Cierná und Bratislava vor: Reformer wie Pelikán, Radiochef Zdenek Hejzlar oder Geheimdienstchef Ivan Svitak seien nicht ausgetauscht worden; er habe die "Konterrevolution" im Land und in den Medien nicht in den Griff bekommen und die Tschechoslowakei nicht auf einen moskautreuen Kurs zurückgeführt. Dubcek reagierte fast apathisch, war gereizt und flüchtete sich in Ausreden.

Als Zeichen der Solidarität mit den Reformern stattete der jugoslawische Staatschef Tito vom 9. bis 11. August der CSSR einen Besuch ab. Er lobte den Reformkurs und wurde von der Bevölkerung begeistert empfangen. In der Presse gab es Gerüchte über eine engere Zusammenarbeit der Donaustaaten Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien. Am 16. August kam Rumäniens Staatschef Nicolae Ceaucescu nach Prag, um einen Freundschafts- und Bündnisvertrag abzuschließen. Ein Blitzbesuch von UNO-Generalsekretär U Thant zum bereits festgelegten Datum des Einmarsches wurde von den Sowjets in letzter Minute verhindert, dafür traf sich Dubcek auf sowjetischen Vorschlag noch am 17. August abends mit Kádár in Komárno.

Die Entscheidung zur Intervention fiel in Moskau. Das vollzählig versammelte Politbüro des ZK der KPdSU entschied am 17. August einstimmig, den Einmarsch "zum ehest möglichen Zeitpunkt" durchzuführen. Am folgenden Tag trafen Zivkov, Kádár, Ulbricht und Gomulka in Moskau ein und stimmten der Entscheidung zu. Gleichzeitig wurden die USA, die schon vorher beruhigende Signale nach Moskau gesandt hatten, darüber informiert, dass der laufende Truppenaufmarsch nicht gegen die NATO gerichtet sei. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 begann die "Operation Donau". Das um Mitternacht noch versammelte ZK der KPC, beschäftigt mit dem für September geplanten außerordentlichen Parteitag, verurteilte den Einmarsch, wies jedoch die Armee an, den Truppen der Sowjetunion, Bulgariens, Polens und Ungarns keinen Widerstand entgegenzusetzen. Die bereitstehenden beiden Divisionen der DDR-Volksarmee wurden im letzten Moment gestoppt: Man wollte jede Erinnerung an den Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938/39 vermeiden. Lediglich kleinere Trupps gelangten kurzfristig auf tschechoslowakisches Gebiet, teilweise um Transparente zu entfernen: "1938 Hitler - 1968 Ulbricht".

Die wichtigsten Einrichtungen, die strategischen Punkte des Landes und die Redaktionen wurden besetzt, Untergrundsender zum Schweigen gebracht. Die Führung um Dubcek wurde verhaftet und im Flugzeug nach Moskau gebracht. Dennoch misslang der bürokratische Putsch. Svoboda weigerte sich, eine neue Marionettenregierung einzusetzen, flog nach Moskau und wurde dort als Staatsgast empfangen. Hier sprach er sich für die Absetzung Dubceks aus, wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht, dass Breschnew bereits mit Dubcek gesprochen hatte und dem Kreml-Chef inzwischen klar geworden war, dass an Dubcek kein Weg vorbeiführe, wollte man in der Tschechoslowakei keinen Bürgerkrieg riskieren und aus dem Parteichef einen Märtyrer machen.

Der Blutzoll des Einmarsches und der Widerstandsaktionen der Bevölkerung wird mit bis zu 500 Opfern auf beiden Seiten angegeben. Die tatsächlichen Folgen von Prag 1968 waren viel langfristiger. Abgesehen von der bald so bezeichneten "Breschnew-Doktrin", die fortan die Souveränität jedes kommunistischen Staates beschnitt, erfasste eine Welle des Protestes die Tschechoslowakei, die freie Welt und zahlreiche kommunistische Parteien in Westeuropa; sie schwappte - trotz größter Vorsichtsmaßnahmen - auch auf die Ostblockstaaten, ja bis auf den Roten Platz in Moskau über. Prag 1968 bedeutete den Anfang vom Ende des Ostblocks.

Zusammenfassung

Nach der Öffnung bislang verschlossener Politbüroakten des ZK der KPdSU und der Auswertung entsprechender Materialien aus zahlreichen Archiven besonders der USA, Großbritanniens, Deutschlands und der Tschechoslowakei kann insbesondere die sowjetische Politik um den "Prager Frühling" und seine militärische Niederwerfung 1968 im Kontext der westlichen Positionen detailliert dargelegt werden:

Quellen / Literatur

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 20/2008)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Anm. der Redaktion: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und der Verständlichkeit für die politische Bildung erfolgt die Anwendung der wissenschaftlichen Transkription von Eigennamen nicht einheitlich.

Weitere Inhalte

Professor Dr. Stefan Karner, geboren 1952 in Sankt Jakob bei Völkermarkt, ist stellvertretender Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz. Zudem ist Karner Gründer und Leiter des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung.