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Warum Deutschlands Verfassung Grundgesetz heißt

Hans Vorländer

/ 7 Minuten zu lesen

Gesellschaftliche Umbrüche, Revolutionen, gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege sind Gründe, warum sich ein politisches Gemeinwesen eine neue Verfassung gibt. Wie kam es, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland "nur" ein Grundgesetz war?

Auch wenn das Grundgesetz nicht vom Volk beschlossen werden sollte, war das Interesse groß: Zuschauer blicken durch ein geöffnetes Fenster in den Sitzungssaal des Parlamentarischen Rats. (© Haus der Geschichte / Bestand Erna Wagner-Hehmke)

Auch wenn das Grundgesetz nicht vom Volk beschlossen werden sollte, war das Interesse groß: Zuschauer blicken durch ein geöffnetes Fenster in den Sitzungssaal des Parlamentarischen Rats.Gesellschaftliche Umbrüche, Revolutionen, gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege sind Gründe, warum sich ein politisches Gemeinwesen eine neue Verfassung gibt. In der Regel legen Verfassungen die Organisation des Staates fest und enthalten grundlegende Menschen- und Bürgerrechte. Nachdem eine verfassunggebende Versammlung den Text der Verfassung entworfen hat, wird diese vom Volk in einem Referendum beschlossen.

Die Geschichte des deutschen Grundgesetzes verlief anders – zwar nur in einigen, aber eben in entscheidenden Punkten.

Das Grundgesetz war keine Verfassung

Zwar wurde das Grundgesetz nach dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg gegeben. Auch hatte es wie andere Verfassungen eine konstituierende Bedeutung für den neuen Staat, denn die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 ist zugleich die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch fehlten ihm entscheidende Attribute: Das Grundgesetz war eben keine Verfassung. Und es wurde auch nicht vom Volk in einem Referendum ratifiziert. Zudem sollte es nicht einen neuen deutschen Nationalstaat begründen, sondern zunächst nur aus den drei westlichen Besatzungszonen ein einheitliches Staatsgebiet machen, also nur einen westdeutschen Staat begründen.

Wie aber kam es, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland "nur" ein Grundgesetz war? Und warum wurde es nicht vom deutschen Volk in einer Abstimmung verabschiedet? Aus heutiger Sicht, vor allem nach der deutschen Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990, scheint diese Frage anachronistisch zu sein. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass das Grundgesetz die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist. Dass das Grundgesetz 1949 nicht vom Volk verabschiedet worden war, ist hingegen nahezu in Vergessenheit geraten.

Ein Weststaat soll entstehen

Für die Situation im Jahre 1948 war all dies, die Art und Weise, wie der Weststaat verfasst werden sollte, aber auch, wie lange ein solches Grundgesetz gelten sollte, vollkommen unklar. Erkennbar war indes, dass sich Deutschland in zwei Teilen neu zu organisieren begann. Zum einen hatten die Westalliierten im Jahr 1948 auf der Londoner Sechsmächtekonferenz die Entscheidung gefällt, dass aus den drei westlichen Besatzungszonen ein neuer Weststaat erwachsen sollte. Der amerikanische Außenminister James F. Byrnes hatte bereits im September 1946 angekündigt, "dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben". Die amerikanische und die britische Besatzungszone hatten sich am 1. Januar 1947 zur Bizone zusammengeschlossen, Institutionen wie der Wirtschaftsrat, der Ernährungsrat oder der Verkehrsrat wurden als gemeinsame Organe der Länder gegründet. Auch hatten sich in den wieder entstandenen Ländern bereits feste einzelstaatliche Strukturen mit Verfassungen und durch Wahlen gebildete Repräsentativorgane ergeben.

Im Schlusskommuniqué der Londoner Außenministerkonferenz vom 17. Juni 1948 war zum ersten Mal offiziell von einer Verfassung die Rede. Diese sollte zweierlei bewirken. Zum einen sollte "das deutsche Volk jetzt in den verschiedenen Ländern die Freiheit erhalten..., für sich die die politischen Organisationen und Institutionen zu errichten, die es ihm ermöglichen werden, eine regierungsmäßige Verantwortung ... zu übernehmen". Zum anderen sollte diese Verfassung so in ihren Strukturen beschaffen sein, dass zu einem späteren Zeitpunkt die Teilung Deutschlands mittels einer föderativen Regierungsform wieder aufgehoben werden könnte. Diese Verfassung war aber, so das Schlusskommuniqué, so zu gestalten, dass sie mit den Erfordernissen der Besetzung und der Kontrolle durch die (West-)Alliierten vereinbart werden konnte.

Frankfurter Dokumente geben den Weg vor

Der entscheidende Schritt schien dann am 1. Juli 1948 getan, als die elf Ministerpräsidenten der drei westdeutschen Besatzungszonen in Frankfurt am Main von den Militärgouverneuren die deutschlandpolitischen Entscheidungen der Londoner Sechsmächtekonferenz entgegennahmen. Diese so genannten Frankfurter Dokumente enthielten die Aufforderung an die Ministerpräsidenten, eine "Verfassunggebende Versammlung" einzuberufen, um "eine demokratische Verfassung" auszuarbeiten. Diese Verfassung sollte eine Regierungsform des föderalistischen Typs schaffen, die Rechte der beteiligten Länder schützen, die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthalten und eine angemessene Zentralinstanz schaffen. Diese Verfassung war von den Militärgouverneuren zu genehmigen und "zur Ratifizierung durch ein Referendum in den beteiligten Ländern" in Kraft zu setzen.

Alles schien damit auf eine Verfassung und ein Verfassungsreferendum zuzulaufen. Aber die Außenminister und die Militärgouverneure der Westmächte hatten die Rechnung ohne die deutschen Ministerpräsidenten und Teile der wiedererstandenen Parteien aufgemacht. So sehr sich die Ministerpräsidenten durch die Frankfurter Vorgänge zu einer eigenen "Institution" aufgewertet sahen und sich als "Sprachrohr für die Deutschen" verstehen konnten, so sehr zögerten sie doch, dem zu bildenden Weststaat all die Attribute zu verleihen, die aus ihm einen vollwertigen Nationalstaat gemacht hätten. Die Spaltung Deutschlands war in ihren Augen nur eine vorübergehende und durfte nicht durch eine Verfassung verfestigt werden.

Die CDU/CSU schlug vor, durch die Länderparlamente einen "Parlamentarischen Rat" zu wählen, der die "vorläufigen organisatorischen Grundlagen" für den Zusammenschluss der drei Zonen schaffen und die "Interessen der deutschen Bevölkerung gegenüber den Besatzungsmächten zur Geltung" bringen sollte. Da, wie es schien, Verfassung und Besatzungsstatut eng miteinander verbunden waren, sollte auf jeden Fall verhindert werden, dass Verfassung wie Besatzungsstatut durch Volksentscheid anzunehmen waren. Auch die SPD wollte auf die Ausarbeitung einer Verfassung verzichten. An ihre Stelle sollte ein "Verwaltungsstatut", ein "Organisationsstatut" oder ein "vorläufiges Grundgesetz" treten. Die SPD war ebenfalls gegen einen Volksentscheid, dachte eher an einen Ausschuss der Länderparlamente, durch den die Verfassung zu verabschieden gewesen wäre.

Provisorium statt Einheitsstaat

Nicht nur das Grundgesetz, auch die Hauptstadt Bonn sollte ein Provisorium sein. Im Februar 1949 begann der Bau des künftigen Plenarsaals. (© Haus der Geschichte / Bestand Erna Wagner-Hehmke)

Als die Ministerpräsidenten der westdeutschen Besatzungszonen vom 8. bis 10. Juli 1948 in Koblenz zusammentrafen – im Übrigen ohne die vier ostdeutschen Ministerpräsidenten, was die schon bestehende faktische Spaltung symbolisch zum Ausdruck brachte – kamen sie sehr schnell überein, auf die Schaffung eines westdeutschen Staates zu verzichten. Auch die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung oder gar einer "Nationalversammlung" kam für sie in Anbetracht der Teilung Deutschlands nicht in Frage. Die Ministerpräsidenten diskutierten lange über die Frage, in welche Formen die politische Organisation der drei westlichen Besatzungszonen gegossen werden sollten. Schließlich plädierten sie in den Koblenzer Beschlüssen für ein "Provisorium" und lehnten einen Volksentscheid entschieden ab. Die Ministerpräsidenten machten klar, dass sie keine Verantwortung für die Teilung Deutschlands übernehmen wollten. Daher äußerten sie sich auch sehr reserviert gegenüber der Absicht, "dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates" zu verleihen. Die Ministerpräsidenten verständigten sich darauf, den Landtagen zu empfehlen, "eine Vertretung" (Parlamentarischer Rat) zu wählen und damit zu beauftragen, "ein Grundgesetz für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebietes der Westmächte" auszuarbeiten. Somit waren die entscheidenden zwei Begriffe geprägt: anstelle einer "Verfassunggebenden Versammlung" also ein "Parlamentarischer Rat", anstelle einer "Verfassung" ein "Grundgesetz".

Doch zu jener Zeit war keineswegs sicher, ob sich die Ministerpräsidenten gegenüber den Westalliierten würden durchsetzen können. Denn diese lehnten die Ausarbeitung eines Grundgesetzes statt einer Verfassung ab und hielten zunächst auch am Verfassungsreferendum fest. Dennoch teilten die Ministerpräsidenten nach ihrer Konferenz im Jagdschloss Niederwald am 21. Juli 1948 den Militärgouverneuren mit, dass sie sich entschieden hätten, vom Grundgesetz zu sprechen und an ihrer Ablehnung der Ratifizierung eines solchen Grundgesetzes durch Referendum festhielten. Die Westallierten lenkten ein. Damit war der Weg vorgezeichnet. Auch der Parlamentarische Rat änderte an der Bezeichnung "Grundgesetz" nichts mehr.

Vom Provisorium zum Definitivum

C´est le provisoire qui dure – es ist das Provisorium, das Bestand hat. So paradox die französische Redewendung sein mag, so zutreffend charakterisiert sie die Tatsache, dass aus dem Grundgesetz eine Verfassung geworden ist. Das Grundgesetz, nur für eine Übergangszeit gedacht, nämlich bis zu dem Zeitpunkt, wo, wie der ursprüngliche Artikel 146 vorschrieb, sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung gibt, blieb bestehen. Es blieb auch dann noch bestehen, als 1989/90 der Weg zur Vereinigung von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik gegangen wurde. Die Alternative bestand darin, den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 (alt) zu beschreiten oder aber, dem Sinn des Artikels 146 entsprechend, eine neue Verfassung von einer Verfassunggebenden Versammlung ausarbeiten und dann vom deutschen Volk in freier Entscheidung auf dem Wege eines Referendums ratifizieren zu lassen.

Aus verschiedenen Gründen, die nicht zuletzt in der Beschleunigung des Vereinigungsprozesses lagen, wurde der erstgenannte Weg beschritten. Auf die Ausarbeitung einer neuen Verfassung wurde verzichtet, die notwendigen Veränderungen wurden im Rahmen des alten Grundgesetzes vollzogen. Auch eine Revision des Grundgesetzes, die für die Zeit nach der Vereinigung vorgesehen war, führte nicht zu einer Totalrevision oder einer neu ausgearbeiteten Verfassung. Damit war dann letztlich aus dem Provisorium ein Definitivum, aus dem Grundgesetz eine Verfassung geworden.

Von Inhalt und Struktur, von Geltung und Anerkennung war das Grundgesetz auch schon in der (alten) Bundesrepublik Deutschland eine vollwertige Verfassung. Das Grundgesetz hatte keinen Mangel aufgewiesen, im Gegenteil: Es war die Grundlage für die Ausbildung einer freiheitlichen und stabilen Demokratie, der es gelang, die Fehler von Weimar zu vermeiden. Die Grund- und Menschenrechte erhielten einen herausragenden Platz, das Bundesverfassungsgericht entwickelte sich zu einem Anwalt der Bürger und seiner Rechte, die politischen Kräfte und Institutionen agierten zumeist im Rahmen der vorgegebenen Verfassungsregeln. Und schließlich war es auch das Grundgesetz, das den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelte, wie die Rede vom "Verfassungspatriotismus" seit den 1980er Jahren belegt. Die Bürger hatten sich das Grundgesetz als ihre Verfassung angeeignet, auch wenn es ihnen 1949 verwehrt geblieben war, es selbst zu ratifizieren. Auch 1990 wurde das Grundgesetz als nunmehr gesamtdeutsche Verfassung keinem Referendum unterzogen, was nicht nur von vielen Bürgern der DDR bedauert wurde. Sie waren nun ihrerseits darauf angewiesen, sich das Grundgesetz selbst anzueignen, um es auch zu ihrer (gesamt)deutschen Verfassung werden zu lassen.

Fussnoten

Hans Vorländer, Jahrgang 1954, ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Verfassungstheorie und Verfassungspolitik.