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Der Zusammenbruch des Dritten Reiches | Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg | bpb.de

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Der Zusammenbruch des Dritten Reiches

Helmut Kistler

/ 7 Minuten zu lesen

Spätestens 1944 war die Niederlage Deutschlands abzusehen. Trotzdem wurde im letzten Kriegsjahr unerbittlich weitergekämpft. Am Ende sollte das Land gemeinsam mit Hitler untergehen. Warum kam dagegen kaum Widerstand aus der Führungselite und dem Militär? Was führte schließlich zum Ende des nationalsozialistischen Regimes?

Deutsche Kriegsgefangene nach der Kapitulation ihrer Einheit in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. (© AP)

Der Verlauf

Als der Krieg auf das Reichsgebiet übergriff, raffte die nationalsozialistische Führung die letzten Reserven zusammen. Die als "Reichsverteidigungskommissare" fungierenden Gauleiter sorgten mit allen Mitteln für die Aufrechterhaltung des Verteidigungswillens. Am 25. September 1944 veröffentlichte Hitler seinen Erlaß über die Bildung des Volkssturms aus allen waffenfähigen Männern von 16 bis 60 Jahren. Aufstellung, Ausbildung und Führung lagen in den Händen der Partei und ihrer Gliederungen. Die Einheiten konnten kaum noch ausgerüstet und überhaupt nicht mehr uniformiert werden: eine Armbinde wies sie als Soldaten aus. Im Februar 1945 wurden dann Frauen und Mädchen zum Hilfsdienst für den Volkssturm aufgerufen und hauptsächlich zu Schanzarbeiten und ähnlichem eingesetzt. Am 5. März 1945 wurde noch der Geburtsjahrgang 1929 zur Wehrmacht eingezogen.

Hier und da zu beobachtende Auflösungserscheinungen bei den fluchtartigen Rückzügen der Frontgruppen begegnete man mit brutalen Mitteln. Am 15. Februar 1945 erschien eine Verordnung des Reichsjustizministers über die Errichtung von Standgerichten. Zahllose Todesurteile sollten den Soldaten Schrecken einjagen und sie zum Ausharren in ihren unhaltbar gewordenen Stellungen zwingen. Die Urteile der Standgerichte lauteten entweder auf Tod oder Freispruch. Die Todesurteile wurden durch Erschießen oder, wenn es sich um "besonders ehrlose Lumpen" handelte, durch Erhängen vollstreckt. An den Erhängten wurden Schilder befestigt: "Ich hänge hier, weil ich ein Defätist bin." - "Ich bin ein Deserteur, deswegen werde ich die Schicksalswende nicht mehr erleben." - "Ich hänge hier, weil ich nicht an den Führer glaubte." Diese öffentlichen Exekutionen wurden von fanatischen "Gerichtsherren" bis in die Agoniephase des Systems unerbittlich angeordnet und ausgeführt. Aber selbst mit diesen Methoden war die Front nicht mehr zum Stehen zu bringen. Deprimiert durch die ständigen Rückschläge, die materielle Überlegenheit des Gegners, die Ungewißheit über das Schicksal ihrer Angehörigen im Bombenkrieg, wollten die völlig erschöpften Soldaten nichts anderes mehr als ein Ende des grausamen Krieges.

Des "Führers" erklärte Absicht war es jedoch, Volk und Land zu zerstören. Am 19. März 1945 befahl er die Vernichtung "aller militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes". Speers Denkschrift über die Erhaltung der Lebensbasis des deutschen Volkes für die Zeit nach dem Krieg fand nicht die Billigung Hitlers. Mit ihm sollte auch Deutschland stürzen! Am 27. Januar 1942 hatte er im Führerhauptquartier geäußert: "...Ich bin auch hier eiskalt: Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich für seine Selbsterhaltung einzusetzen, gut: dann soll es verschwinden." Ende März 1945 wiederholte er diese Ansicht gegenüber Speer: "Wenn der Krieg verloren geht, werde auch das Volk verloren sein. Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zum primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil sei es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hätte sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Kampf übrigbleibt, seien ohnehin die Minderwertigen; denn die Guten seien gefallen."

Goebbels und Bormann bestärkten ihren Führer in dieser Überzeugung. Trotzdem versuchten Ribbentrop, mit Wissen Hitlers, Göring und Himmler, auf eigene Initiative, sowie Giebels unmittelbar nach dem Tod Hitlers Verhandlungen mit den Gegnern aufzunehmen. Allen Kontaktversuchen gemeinsam war das Bemühen, durch separate Waffenstillstandsangebote an die Westmächte oder die Sowjetunion eine Sprengung der alliierten Koalition herbeizuführen. Da auch Hitler in seinem Wunschdenken einen Zerfall des gegnerischen Bündnisses Anfang 1945 für nahe bevorstehend hielt, ließ er Ribbentrop freie Hand. Der Versuch scheiterte. Göring und Himmler wurden wegen der von ihnen eingeleiteten Gespräche von Hitler aller Ämter enthoben und aus der Partei ausgestoßen.

Eine der letzten Verzweiflungsmaßnahmen der nationalsozialistischen Führung war die Schaffung der Organisation "Werwolf", die hinter den feindlichen Linien mit allen Mitteln den Kampf fortsetzen sollte. Die Auswirkung der letzten Befehle, die Hitler aus seinem bombensicheren Bunker unter der Reichskanzlei erließ, war grausig: Einheiten von 12- und 13jährigen Hitlerjungen, deren jugendlicher Idealismus und Opferwille nun ebenso mißbraucht wurde wie der der vorhergehenden Generation, verbluteten im Feuer der gegnerischen Panzer; 60jährige, Frauen und Mädchen fielen den Angreifern zum Opfer. Nachdem der Krieg etwa 5,25 Millionen Deutsche das Leben gekostet hatte, über 55 Millionen Menschen anderer Nationen durch die Kriegsereignisse umgekommen waren und ein unübersehbarer Schaden an Sachwerten entstanden war, beging Hitler am 30. April 1945 Selbstmord. Erst jetzt löste sich der Bann von seinen Untergebenen. Sie folgten der Stimme der Vernunft und boten die bedingungslose Kapitulation an. Am 9. Mai 1945 trat sie in Kraft.

Die Ursachen

Das Ende des nationalsozialistischen Regimes ist selbstverständlich nicht auf nur eine Ursache zurückzuführen. Es ist auch nicht möglich, eine Rangfolge der Ursachen aufzustellen. Die verschiedenen Gründe standen in engem Zusammenhang und verstärken sich gegenseitig. Zählt man die für den Untergang des nationalsozialistischen Regimes maßgeblichen Gründe auf, so ist an erster Stelle die verfehlte Außenpolitik Hitlers zu nennen, die Deutschland frühzeitig isolierte und immer weitere Staaten in das gegnerische Lager führte. Bei der Konzeption dieser Außenpolitik stand nicht die realistische Beurteilung der tatsächlichen Machtverhältnisse obenan, sondern die aus der nationalsozialistischen Ideologie abgeleitete Wunschvorstellung. Die unmittelbare Folge war eine laufende Verschiebung des wirtschaftlichen und menschlichen Kräftepotentials zuungunsten Deutschlands. Wovor Einsichtige bereits 1938 gewarnt hatten, daß nämlich die Weiterführung der nationalsozialistischen Außenpolitik in eine ausweglose Situation führen müsse, trat zwar relativ spät, aber dann um so abrupter ein.

Daß überhaupt so lange durchgehalten werden konnte, lag zunächst einmal an der konsequenten Wirtschaftslenkung seit dem Amtsantritt Speers und an der rigorosen Nutzbarmachung fremder Räume und nichtdeutscher Arbeitskräfte zugunsten der deutschen Kriegswirtschaft. Der wesentlichste Grund dürfte freilich sein, daß das deutsche Volk bereit war, unerhörte Leiden, Bürden und Entbehrungen zu ertragen. Es war der nationalsozialistischen Propaganda gelungen, durch die Parolen vom "nationalen Aufbruch" und vom "deutschen Erwachen" vor allem Jugendliche zur Mitarbeit anzufeuern. Da sie glaubten, sich "für Deutschland" einzusetzen, waren zwei Generationen Deutscher bereit, besonders während des Krieges große Opfer auf sich zu nehmen. Zunächst ließen sie sich begeistern, später verschlossen sie die Augen vor den Auswüchsen, um sich vor Enttäuschung oder "Verrat" zu bewahren. Im übrigen tat das Regime natürlich alles, um mit Drohung und Terror die eventuell Zweifelnden oder Widerspenstigen "zur Räson" zu bringen.

Nicht unbedeutend war sicher auch die Wirkung von Goebbels' Parole "Wir sitzen alle in einem Boot!" Sie suggerierte einerseits, bei gemeinsamer extremer Anstrengung sei eine Wende doch noch möglich, andererseits stärkte sie das Gefühl, diesmal sei aufgrund der unleugbaren Schuld am Kriegsausbruch und an kriminellen Vorgängen in den besetzten Ländern ein Über-Versailles zu erwarten. Die Alliierten bestätigten diese Furcht durch ihre Weigerung, ein "anderes Deutschland" anzuerkennen, womit sie sich praktisch die andere NS-Propagandafloskel "Hitler ist Deutschland – Deutschland ist Hitler" zu eigen machten. Schließlich haben sicherlich die Brutalität, die Grausamkeit und die Hemmungslosigkeit der siegreichen Roten Armee im Zerstören und Quälen insofern kriegsverlängernd gewirkt, als sie den Willen, Widerstand bis zum äußersten zu leisten noch einmal entfachten.

Von einem bestimmten Zeitpunkt an war freilich trotz aller Anspannungen die Überlegenheit der Sieger an Rohstoffen, Produktionskraft und Menschenreserven auf den Kriegsschauplätzen und in der Heimat so erdrückend, daß die Fronten zusammenbrechen mußten. Auch infolge der nur mehr mangelhaften Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung der zuletzt weit überalterten bzw. zu jungen Ersatzmannschaften war die militärische Agonie schließlich unvermeidlich.

Die Frage, ob militärischer Geheimnisverrat entscheidend zum Verlust des Krieges beigetragen hat, ist auf der Grundlage inzwischen veröffentlichter Literatur über die Spionage immer wieder gestellt worden. Sie ist nach wie vor mit "nein" zu beantworten. Die Übermittlung von Informationen erleichterte ganz sicher den Gegnern das Handeln. Da es den Engländern zum Beispiel gelungen war, die deutsche Dechiffriermaschine nachzubauen, war die Schlüsselsicherheit, auf die sich die Wehrmacht verließ, seit 1940 gebrochen. Aber die Kenntnis der Operationspläne und der Kampfstärken war stets nur ein Faktor neben vielen für den Ausgang der Schlachten. So wenig der Verrat die deutschen Erfolge bis 1942 entscheidend beeinträchtigte, so wenig können auch die folgenden Niederlagen allein auf Spionage zurückgeführt werden. Einzelne Vorgänge sind sicher in ihrem Ablauf verändert und der Krieg insgesamt wahrscheinlich verkürzt worden. Eine neue "Dolchstoß-Legende" entbehrt jedoch jeder Grundlage. Neben den bereits genannten Gründen bilden sicherlich die Führungsfehler einen weiteren Hauptgrund dafür, daß trotz großer soldatischer Tapferkeit alle Anstrengungen schließlich umsonst waren.

Die Aufzählung der Ursachen wäre jedoch sicher unvollständig, wenn man sich auf die verfehlte Außenpolitik, die dilettantische militärische Führung durch Hitler und die wirtschaftliche und menschliche Erschöpfung beschränken würde. Man darf die Augen nicht davor verschließen, daß die nationalsozialistische Weltanschauung mit dem Rassismus als Kern den Keim zum späteren Zusammenbruch bereits von Anfang an in sich trug. Die Rassenideologie bewirkte den maßlos überheblichen Führungsanspruch der "nordischen Rasse", entscheiden zu wollen, wer künftig in Europa führen, wer als "Schädling" vernichtet, wer als geduldeter Sklave am Leben bleiben dürfe. Dieser Anspruch mußte ein friedliches Zusammenleben mit anderen Völkern auf die Dauer unmöglich machen. In dieser gemeinsamen Gefahr für die Betroffenen liegt ein Grund dafür, daß über alle weltanschaulichen Gegensätze hinweg eine weltweite Anti-Hitler-Koalition zusammengeführt wurde, der zuletzt 52 Staaten angehörten.

Hitlers "Neuordnungspläne" hatten es zustandegebracht, daß alle ideologischen Differenzen zwischen den Demokratien und dem kommunistischen Rußland zeitweilig überdeckt wurden. Die Bedrohten nahmen Hilfe, woher immer sie auch kam. Abgesehen also davon, daß die nationalsozialistische Ideologie und der daraus abgeleitete Herrschaftsanspruch inhuman waren und in maßloser Selbstüberschätzung willkürlich Lebensrechte absprachen bzw. zuteilten, müssen Hitlers Weltanschauung und die aus ihr entwickelte Politik als kurzsichtig und unsinnig bezeichnet werden. Durch sie setzte er die 1933 gesicherte Position Deutschlands um unrealistischer Ziele willen aufs Spiel und verstieß damit eklatant gegen die elementaren Interessen des deutschen Volkes. Diese Politik löste nicht nur keines der 1933 anstehenden Probleme, sondern bewirkte direkt die außenpolitische Isolierung, schloß das Risiko des Krieges von Anfang an ein, entfesselte ihn schließlich und führte von 1941 an in den sich zwangsläufig entwickelnden Zusammenbruch.

Quellen / Literatur

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 123/126/127) - Der Zusammenbruch des Dritten Reiches

Fussnoten

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