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Lange Schatten: Der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen in Polen und Deutschland

Andreas Mix

/ 10 Minuten zu lesen

Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Er markiert eine Zäsur im Verhältnis beider Länder zueinander, die immer noch nachwirkt.

Den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939. (© AP)

Die Vergangenheit überschattete in den vergangenen Jahren wiederholt die deutsch-polnischen Beziehungen. Der Dauerstreit um die museale Repräsentation von Flucht und Vertreibung und die ungelöste Frage nach der Rückführung von Kulturgütern zeigt, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts keineswegs abschließend aufgearbeitet oder gar bewältigt ist. Die Auseinandersetzungen verdeutlichen, dass die gewaltige Zäsur, die der Zweite Weltkrieg für beide Länder markierte, noch immer nachwirkt und das Selbstverständnis der jeweiligen Gesellschaften prägt – in ganz unterschiedlicher Weise.

Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Am 17. September besetzte die Rote Armee die östlichen Landesteile. Grundlage der doppelten Aggression war der Hitler-Stalin-Pakt, mit dem sich die beiden Diktatoren über ihre "Interessensphären" in Ostmitteleuropa verständigt hatten. So wurde Polen einmal mehr von seinen mächtigen Nachbarn geteilt. Die Folgen der deutschen Okkupation, die sich nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 auch auf die polnischen Ostgebiete erstreckte, waren verheerend: Die Deutschen ermordeten fast die gesamte jüdische Bevölkerung, fast 3 Millionen Menschen, und große Teile der polnischen Elite. Insgesamt wurden mehr als 5 Millionen polnische Staatsbürger, etwa 15% der Gesamtbevölkerung von 1939, Opfer von Krieg, Terror und Völkermord.

Zu den enormen demographischen kamen die materiellen Verluste. Die Besatzer beuteten hemmungslos die Wirtschaft aus, rekrutierten Zwangsarbeiter in großer Zahl, plünderten und zerstörten Museen, Archive und Bibliotheken. Obwohl Polen eines der wichtigsten Mitglieder der Antihitlerkoalition war – polnische Soldaten kämpften in allen alliierten Armeen gegen das NS-Regime – brachte das Kriegsende keinen Sieg. Auf Betreiben der Sowjetunion verständigten sich die drei alliierten Siegermächte bereits auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 auf eine Westverschiebung des polnischen Staats, ohne dabei die Exilregierung in London zu konsultieren. Ihre Position war nach dem gescheiterten Warschauer Aufstand erheblich geschwächt. Der Versuch der Heimatarmee, die polnische Hauptstadt noch vor dem Einmarsch der Roten Armee von den deutschen Besatzern zu befreien, endete nach neunwöchigem Kampf Anfang Oktober 1944 mit der Kapitulation der Aufständischen.

Gestützt auf die Rote Armee und die sowjetischen Sicherheitskräfte konnten die Kommunisten so schrittweise die Macht in Polen erobern. Die Westverschiebung, die zugleich das Staatsgebiet erheblich verkleinerte, war von umfangreichen Zwangsumsiedlungen begleitet. Aus den polnischen Ostprovinzen, die nun an die Sowjetunion fielen, wurden mehr als 1,5 Millionen Menschen nach Zentralpolen oder in die vormals deutschen Gebiete im Westen und Norden umgesiedelt. Die Deutschen wiederum mussten Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ostbrandenburg verlassen, sofern sie nicht bereits vor der heranrückenden Roten Armee geflohen waren. Von den Zwangsumsiedlungen betroffen waren zudem Ukrainer, Weißrussen und Litauer. Die Kommunisten realisierten im Nachkriegspolen so politische Vorstellungen der Nationalisten aus der Zwischenkriegszeit: Ein ethnisch homogenes Polen, dessen Staatsterritorium weit nach Westen verschoben war. Die neuen Grenzen legitimierten die Machthaber mit historischen Argumenten aus dem 19. Jahrhundert. Demnach handelte es sich bei Schlesien und Pommern um Gebiete, die im Frühmittelalter Ausgangspunkt für die polnische Staatlichkeit waren.

Nach Jahrhunderten deutscher Fremdherrschaft konnten diese "urpolnischen Gebiete" wieder gewonnen werden, verkündete die kommunistische Propaganda. Der Rückgriff auf Traditionsbestände des Nationalismus war keineswegs ungewöhnlich. Die Kommunisten, die anfangs nur über einen schwachen Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, nutzen gezielt die nach den Erfahrungen von Krieg und Besatzung verbreiteten antideutschen Ressentiments, um ihren Machtanspruch zu legitimieren. Schutz gegen den deutschen "Drang nach Osten" garantierte allein der neue sowjetische Bündnispartner. Die Verbrechen der sowjetischen Besatzer, wie die Deportation hunderttausender polnischer Staatsbürger oder die Ermordung tausender Offiziere der polnischen Armee durch den NKWD, unterlagen unter kommunistischer Herrschaft einem Tabu. Zahlreiche weitere Aspekte der Erfahrung von Krieg und Besatzung wurden in der offiziellen Erinnerung, die sich in Denkmälern, Feierlichkeiten, Filmen, Fernsehserien und Publikationen manifestierte, ausgeblendet oder marginalisiert. Dazu gehört die Rolle der Heimatarmee, die der Exilregierung in London unterstand, der Untergrundstaat, aber auch die polnisch-ukrainischen Konflikte in Ostgalizien und Wolhynien und die Zwangsumsiedlungen aus den östlichen Landesteilen nach dem Kriegsende.

Die Erinnerung an diese Ereignisse konnte bis zum Systemwechsel von 1989/90 allein in den Familien und der oppositionellen Gegenöffentlichkeit gepflegt werden. Die selektive offizielle Erinnerung betraf auch den Mord an den Juden. Die Leiden und Opfer der Juden wurden seit den 60-er Jahren immer stärker unter dem Martyrium der polnischen Nation subsumiert. Ausdruck für diese Vereinnahmung war die Wendung von den "6 Millionen polnischen Opfern". In den Staatlichen Gedenkstätten Auschwitz Birkenau und Majdanek wurden die Juden bloß als eine Opfergruppe unter vielen anderen geführt. Trotz der offensichtlichen Deformationen und Leerstellen besaß das volkspolnische Geschichtsbild von Krieg und Besatzung durchaus gesellschaftliche Integrationskraft: Polen war demnach ausschließlich unschuldiges Opfer deutscher Aggression; unbequeme Aspekte wie das Verhalten der Bevölkerung gegenüber den verfolgten Juden oder der deutschen Zivilbevölkerung nach Kriegsende blieben weitgehend ausgeblendet.

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg in Deutschland

Die offizielle Erinnerung in Deutschland an den Krieg und seine Folgen ging von anderen Voraussetzungen aus: Der vom NS-Regime entfesselte totale Krieg endete in der totalen Niederlage. Zerstörung der Städte, Hunger und erzwungenen Heimatverlust erlebte die Mehrheit der Deutschen jedoch erst in der zweiten Kriegshälfte oder nach dem Kriegsende. Doch nicht nur die materiellen Kriegsfolgen mussten überwunden werden. Die Alliierten hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Verbrechen des Nationalsozialismus strafrechtlich und politisch aufzuarbeiten. Die meisten Deutschen lehnten das Tribunal von Nürnberg gegen die Hauptkriegsverbrecher als "Siegerjustiz" ab. Die vier Siegermächte betrieben die Entnazifizierung und Reedukation jeweils nach ihren eigenen Vorstellungen.

Überformt wurde die frühe Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durch die ideologische Blockkonfrontation und den Kalten Krieg. Unter diesen Bedingungen verlief die Auseinandersetzung in beiden deutschen Staaten in beständiger Konkurrenz und Konfrontation. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR beanspruchten für sich, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben. Die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik gründete auf eine konsequente Westbindung und einen antitotalitären Grundkonsens, hinter dem sich ein scharfer Antikommunismus verbarg. Als Rechtsnachfolgerin des untergegangen Deutschen Reichs reklamierte der westdeutsche Teilstaat den Anspruch auf die Ostgebiete, die – so die offizielle Sprachregelung – seit der Potsdamer Konferenz unter "polnischer Verwaltung" standen. Mit dieser Haltung, die mehrheitlich von beiden großen Volksparteien bis in die 60-er Jahre vertreten wurde, war eine Verständigung mit der Volksrepublik Polen unmöglich. Das Bewusstsein, dass der millionenfach erfahrene Heimatverlust eine Folge des von Deutschland begonnenen Krieges war, fehlte in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Mit dem Sammelbegriff Vertreibung wurden verschiedene historische Ereignisse bezeichnet: Die seit Sommer 1944 vor der Roten Armee Geflüchteten und von den deutschen Behörden Evakuierten galten ebenso als Vertriebene wie die von polnischen Milizen im Frühjahr 1945 gewaltsam Verjagten und die nach der Potsdamer Konferenz von den Behörden Zwangsumgesiedelten.

Die Vertriebenen waren seit den Anfängen der Bundesrepublik in den jeweiligen Landsmannschaften und dem Bundesverband der Vertriebenen organisiert. Diese Lobbygruppen verfügten über gute Kontakte in alle politischen Parteien. Die 1950 verabschiedete "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" enthielt ein Bekenntnis zum Verzicht auf "Rache und Vergeltung", aber auch die Forderung nach einem "Recht auf Heimat". Zu diesen Überzeugungen bekannten sich die großen bundesdeutschen Parteien. Zu einem Bruch kam es erst durch die "neue Ostpolitik" der sozial-liberalen Koalition Ende der 60-er Jahre. Mit den Ostverträgen erkannte die Bundesrepublik die politischen Nachkriegsrealitäten an. Zu diesem Schritt waren die Vertriebenenverbände nicht bereit. Der heftige Widerstand gegen die Ostverträge führte die Vertriebenenverbände in die politische Selbstisolation.

Bis in die 80-er Jahre hinein proklamierten einzelne Landsmannschaften bei ihren Treffen Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches. Im Zentrum der offiziellen bundesrepublikanischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg standen zu diesem Zeitpunkt längst andere Aspekte. Die Dimension des nationalsozialistischen Judenmords war seit den 60-er Jahren durch Strafverfahren wie dem Auschwitzprozess, Debatten über die Verjährung von NS-Verbrechen und nicht zuletzt durch die Fernsehserie "Holocaust" langsam ins Bewusstsein der bundesdeutschen Öffentlichkeit gerückt. Die kollektive Schuldabwehr und Selbstviktimisierung, die für den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 50-er Jahren beispielhaft waren, wichen so einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik war jedoch keine lineare Erfolgsgeschichte. Sie verlief immer kontrovers, enthielt Leerstellen und eklatante Defizite, bei der Anerkennung einzelner Opfergruppen ebenso wie im Umgang mit den konkreten Tätern und ganzen Verbrechenskomplexen. Dennoch gilt: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen war seit den 80-er Jahren konstitutiv für das Selbstverständnis der Bundesrepublik.

Die DDR entwickelte einen ganz anderen Umgang mit dem Nationalsozialismus. Sie verstand sich als antifaschistischer Staat, der konsequent mit der dunklen Vergangenheit gebrochen hatte. Indem sie sich auf die Traditionen des kommunistischen Widerstands berief, wechselte die DDR auf die Seite der sowjetischen Siegermacht. Die Schuld für die NS-Verbrechen wurde konsequent auf die Bundesrepublik projiziert. Die sowjetische Besatzungsmacht betrieb zwar eine umfassendere Entnazifizierung, um in Justiz, Bildung, Wirtschaft und Politik die Grundlage für den Umbau der Gesellschaft in ihrem Sinne zu legen; für die Mehrheit der Bevölkerung bot der verordnete Antifaschismus jedoch die Möglichkeit, den Fragen nach Schuld und Verantwortung auszuweichen. Der antifaschistische Gründungsmythos wurde von der DDR in Denkmälern, Feiern, Kunst und Literatur zelebriert. Bei der Interpretation des Nationalsozialismus blieb die DDR bis zu ihrem Ende dem orthodoxen Marxismus verpflichtet. Zahlreiche Aspekte der Vergangenheit blieben so unterbelichtet oder wurden ganz ausgeblendet. Der Faschismus galt als Ausgeburt des Kapitalismus und verschärfte Form des Klassenkampfes. Den Rassenantisemitismus des NS-Regimes und schließlich auch der Mord an den Juden Europas ließ sich damit nicht erklären.

Das Verhältnis zu Polen war in der DDR zwiespältig: Einerseits galt die Volksrepublik als sozialistischer Bruderstaat, dessen Westgrenze unter massivem Druck der Sowjetunion bereits 1950 anerkannt wurde; andererseits gab es bis die 70-er Jahre hinein keinen nennenswerten gesellschaftlichen Austausch zwischen den Nachbarstaaten. Unter der Rhetorik von Völkerfreundschaft und Bündnistreue wirkten die antipolnischen Ressentiments fort. Anders als in der Bundesrepublik konnten sich Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR nicht in Verbänden organisieren. Der Komplex Flucht und Vertreibung unterlag den Bündnispflichten und dem verordneten Geschichtsbild. Flüchtlinge und Vertriebene galten als "Umsiedler", die möglichst rasch in die sozialistische normierte Gesellschaft zu integrieren waren. Wie in Polen war das Thema Heimatverlust ein Tabu. Jeder Ansatz der Selbstorganisation von Flüchtlingen und Vertriebenen wurde von der Staatssicherheit verfolgt.

Mit dem Ende des Staatssozialismus änderte sich der Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland und Polen grundlegend. Mit der DDR ging auch der längst hohl gewordene Staatsantifaschismus unter. Für die Bundesrepublik entfiel damit die permanente Herausforderung, sich als der vergangenheitspolitisch bessere Teilstaat profilieren zu müssen. Die Befürchtung, das wiedervereinigte Deutschland werde den Erinnerungsimperativ an den Nationalsozialismus abstreifen, erwies sich als gegenstandslos. In den 90-er Jahren gab es in dichter Folge Debatten über die NS-Vergangenheit. Öffentlich gestritten wurde über die Entschädigung von Zwangsarbeitern, die Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungskrieg, das Ausmaß des Rassenantisemitismus in der deutschen Gesellschaft und die Formen des staatlichen Gedenkens an die verschiedenen Opfergruppen des NS-Staats. Neue Gedenkstätten, Ausstellungen und Denkmäler entstanden, die an die NS-Verbrechen erinnern. Vielfach gingen die Initiativen für diese Projekte von organisierten Interessenverbänden aus. Bürgerschaftliches Engagement und staatliches Handeln prägen heute gleichermaßen die Erinnerungskultur der Bundesrepublik.

Standen in den 80-er und 90-er Jahren der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und der Holocaust im Zentrum wissenschaftlicher Forschungen und öffentlicher Aufmerksamkeit, so werden seit einigen Jahren vermehrt andere Aspekte wieder diskutiert. Dazu gehören der alliierte Bombenkrieg gegen das Deutsche Reich, der militärische Niedergang des NS-Staats und seine Folgen: Die Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Ostgebieten. Populäre Bücher, Filme, Fernsehserien und Zeitschriftenreihen bereiteten diese Themen massenmedial auf. Anders als vielfach behauptet, waren Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur zuvor keineswegs tabuisiert worden. Die verstärkte mediale Hinwendung zu den deutschen Opfern löst in Polen Irritationen und bisweilen offene Kritik aus. Das betrifft besonders das vom Bund der Vertriebenen (BdV) forcierte Projekt eines "Zentrums gegen Vertreibungen".

Die Vorbehalte richten sich sowohl gegen den BdV als Träger, als auch gegen die inhaltliche Ausrichtung der geplanten Gedenk- und Informationsstätte. Der schlechte Leumund des BdV in Polen ist nicht bloß eine Nachwirkung der kommunistischen Propaganda, die den Verband und seine Funktionäre beständig als unverbesserliche Revanchisten und Bedrohung für den polnischen Staat diffamierte. In Polen erinnert man sich daran, dass die organisierten Vertriebenen bis in die 80-er Jahre hinein nicht bereit waren, die territorialen Nachkriegsrealitäten anzuerkennen. Das Selbstbild des BdV als Brückenbauer und Vorreiter der deutsch-polnischen Aussöhnung stößt in der polnischen Öffentlichkeit daher auf breite Ablehnung. Die inhaltliche Kritik gegen das Projekt richtet sich gegen die vom BdV betriebene Universalisierung des Gedenkens an Flucht und Vertreibung. Mit Schlagworten wie "Jahrhundert der Vertreibungen" und der Bezeichnung von Vertreibung als Völkermord werden die historischen Ereignisse, die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches, aus dem konkreten historischen Zusammenhang gehoben.

Die massive Kritik aus Polen an der vom BdV geforderten Gedenk- und Informationsstätte stößt in der deutschen Öffentlichkeit wiederum auf Irritationen und Unverständnis. Ein Grund dafür ist die weitgehende Unkenntnis über die veränderten Geschichtsbilder und vergangenheitspolitischen Debatten in Polen seit den 90-er Jahren. Nach der Systemtransformation begann die Aufarbeitung der "weißen Flecken" in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu gehörten die Verbrechen der sowjetischen Besatzung Ostpolens, die polnisch-ukrainischen Konflikte während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Ursachen und Folgen des Warschauer Aufstands, die Erfahrung von Zwangsumsiedlungen und Deportationen und das Verhalten der polnischen Gesellschaft im Angesicht des Holocaust. Besonders heftig verlief die Kontroverse um das Pogrom von Jedwabne. Im Juni 1941 ermordeten in der ostpolnischen Kleinstadt Polen ihre jüdischen Mitbürger.

Die Debatte, die durch die Publikation eines polnisch-amerikanischen Autors ausgelöst wurde, stellte das Selbstbild von Polen als ausschließlichem Opfer des Zweiten Weltkriegs in Frage und rief zugleich heftige Abwehrreaktionen hervor. Polen werde, so argwöhnten konservative Publizisten und Politiker unter Verweis auf die im Ausland und besonders in Deutschland breit rezipierte Auseinandersetzung, vom Opfer zum Täter gemacht. Die Debatte fiel zeitlich zusammen mit dem Anlauf des BdV für eine museale Repräsentation von Flucht und Vertreibung. Konservative Publizisten sahen Polen so gleichsam doppelt in die Rolle der "Täternation" gerückt. Von deutscher Seite aus wäre man gut beraten, diese Reaktionen nicht bloß als Hysterie und haltlose Polemik abzutun. Vor der Kritik an der vermeintlichen polnischen Unschuldsbesessenheit sollte die Reflexion über die Folgen von Krieg und Besatzung für Polen stehen – und darüber, wie diese Erfahrungen in den vergangenen 70 Jahren verarbeitet wurden.

Historiker und Literaturwissenschaftler, Mitarbeiter der Deutschen Hochschule der Polizei im Projekt "Die Polizei im NS-Staat". Publikationen zur Geschichte des Nationalsozialismus und den deutsch-polnischen Beziehungen.