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Die Rückkehr der "Ehemaligen": Personelle und ideologische Kontinuitäten in der Bremer Justiz nach 1945 | bpb.de

Die Rückkehr der "Ehemaligen": Personelle und ideologische Kontinuitäten in der Bremer Justiz nach 1945

Christine Schoenmakers

/ 16 Minuten zu lesen

Die Entnazifizierung als Versuch der Alliierten, die deutsche Nachkriegsgesellschaft zur strafrechtlichen und moralischen Auseinandersetzung mit ihrer jüngsten Vergangenheit zu zwingen, ist zum größten Teil gescheitert. Am Beispiel Bremen zeigt dieser Beitrag die mangelhafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit unter den vielfach wiedereingestellten Juristen.

Der frühere stellvertretende Vorsitzende des Bremer Sondergerichts Dr. Emil Warneken, 1933 (© Staatsarchiv Bremen, 4,44/3-867)

Im Mai 1960 eröffnete die Staatsanwaltschaft Hamburg ein Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitglieder des Bremer Sondergerichts. Dieses hatte zwischen 1940 und 1945 in 562 Verfahren gegen 918 Angeklagte verhandelt und 49 Todesurteile gefällt. Anklagepunkte waren unter anderem als "Heimtücke" bezeichnete "staatsfeindliche" Äußerungen, verbotenes Abhören von "Feindsendern", Schwarzschlachten und andere "Kriegswirtschaftsdelikte" sowie "unter Ausnutzung der Kriegsumstände" begangene Delikte. Auf den Vorwurf, das Recht vorsätzlich zuungunsten von Angeklagten gebeugt zu haben, entgegnete der frühere stellvertretende Vorsitzende des Gerichts, Dr. Emil Warneken, empört: "Das Sondergericht Bremen war überhaupt, wie auch in Hamburg – und zwar auch jetzt noch – bekannt sein muss, in jenen Jahren durch seine angeblich ‚auffallend milden’ Urteile in allen einschlägigen Kreisen bekannt." In keinem einzigen Fall, so Warneken, sei das Sondergericht nach 1945 wegen ungerechtfertigter Urteile gerügt worden. Im Gegenteil: Die Prozesse seien wie normale Strafverfahren abgelaufen. Zwar hätten die Kriegsumstände eine harte Rechtspraxis erfordert, aber politisch motivierte Urteile seien vor dem Sondergericht nicht ergangen. Zudem sei man als Richter oder Staatsanwalt an die bestehenden Gesetze gebunden gewesen und habe nur seine Pflicht getan. Warneken wehrte sich dagegen, nun als Komplize nationalsozialistischer Schreckensherrschaft gestempelt zu werden. Der Zeitgeist der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, wonach Hitler allein die Schuld an den NS-Verbrechen trug und die Deutschen seine verführten Opfer waren, schien ihm Recht zu geben.

Ein neuer Fokus auf die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft"

Die Frage nach dem Beitrag der "einfachen Deutschen" zur Stabilität und Radikalisierung des nationalsozialistischen Regimes und ihrer individuellen Verantwortung für die NS-Verbrechen war lange Zeit ein Tabu – trotz der mühevollen Versuche von Juristen wie Fritz Bauer, Sozialwissenschaftlern wie Theodor Adorno sowie Margarete und Alexander Mitscherlich und Historikern wie Raul Hilberg, auf diesem Gebiet wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten und immer wieder den Finger in die Wunde zu legen. Mit dem Ableben der Zeitzeugen, insbesondere der Täter und vielen Mitläufern des NS-Regimes, widerlegt seit etwa zwei Jahrzehnten eine neue Generation an Historikern, Soziologen und Psychologen die, bis in die 1980er Jahre hinein von der Apologie der Zeitgenossen geprägten, gängigen Meinungen und Thesen über den Alltag in der NS-Diktatur. Das systemkonforme Verhalten und Handeln breiter Bevölkerungskreise, so ein Ergebnis, resultierte dabei nicht nur aus Zwang, sondern aus einer starken Zustimmungsbereitschaft für Hitlers Ideen sowie aus der Hoffnung nach Sicherung des eigenen sozialen und beruflichen Status. Das positiv besetzte und auf freiwillige Teilnahme abzielende Leitbild der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" zog dabei eine große Anzahl an Menschen in ihren Bann. Mit dem Konzept einer rassisch reinen Gemeinschaft gelang es der NS-Propaganda, eine angebliche Bedrohung durch "Gemeinschaftsfremde" als real erscheinen zu lassen. Auf Basis eines vor allem antisemitischen Konsenses setzte sich ein sozialer Ausgrenzungsprozess in Gang, an dem weite Teile der Gesellschaft partizipierten, und an dessen Ende Holocaust und Vernichtungskrieg standen.

Die NS-Justiz zwischen Gleichschaltung und vorauseilendem Gehorsam

Wer dazu gehören durfte und wer nicht, bestimmten zwischen 1933 und 1945 in hohem Maße Juristen. Sie prägten dabei das öffentliche Bild der "Volksgemeinschaft", indem sie in Strafprozessen die Grenzen der Gemeinschaft immer wieder neu verhandelten. Gerichtsverfahren dienten nun nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern der Durchsetzung politischer Macht. 1935 wurde das Strafrecht zu einem wirksamen Instrument zur Ausschaltung politischer Gegner umgebaut. Mit dem Kriegsstrafrecht gerieten seit 1939 auch viele einstige ehrbare "Volksgenossen" selbst für Bagatelldelikte in die Mühlen der Justiz.

Viel Zwang musste die nationalsozialistische Regierung nicht ausüben, um die Justiz politisch auf Linie zu bringen: Zwischen der konservativen Einstellung vieler Juristen und der NS-Weltanschauung gab es erhebliche Schnittmengen. "Volksgemeinschaft" verhieß für sie vor allem die Rückkehr zu Recht und Ordnung nach einer in den 1920er Jahren als krisenhaft erlebten Zeit. Dass sich die Richter und Staatsanwälte seit 1933 bemühten, schon bei Bagatelldelikten abschreckende Prozesse zu führen, zeigt, wie ernst man den Kampf gegen als "Volksfeinde" stigmatisierte soziale Außenseiter nahm. Am Ende von zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur standen zahlreiche Unrechtsurteile, insbesondere zehntausende politische Todesurteile.

Nach 1945 rechtfertigten sich die meisten Juristen, nur geltendes Recht angewandt und die Gesetze geachtet zu haben. Willkür und Terrorurteile schrieben sie dem Wirken von Polizei, Gestapo und SS zu, die die Justiz in vielen Bereichen entmachtet hätten. Zudem hätten staatliche Stellen sowie vorgelagerte Justizbehörden immer wieder harte Urteile gefordert. Vor allem aber habe der Krieg ein unnachgiebiges Vorgehen nötig gemacht. Diese Argumentation hatte Erfolg: Nach Kriegsende sind fast 90 Prozent aller vormals der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) oder ihrer Gliederungen angehörigen Richter und Staatsanwälte wieder in den Justizdienst zurückgekehrt. Die Bremer Justiz war dabei keine Ausnahme.

Die Entnazifizierung der Bremer Juristen

Mit der Besetzung Bremens durch amerikanische und britische Truppen am 27. April 1945 wurde der Gerichtsbetrieb in der Hansestadt zunächst stillgelegt. Zugleich begannen die beiden Besatzungsmächte die Mehrzahl der Richter und Staatsanwälte aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP zu entlassen und lehnten auch die Wiederzulassung von ansonsten "unbelasteten" Parteianwärtern der NSDAP ab. Als Ende Juni 1945 das Landgericht und die beiden Amtsgerichte Bremen und Blumenthal wieder öffneten, wurden vor 1933 pensionierte Richter wieder eingestellt und Rechtsanwälte als Teilrichter und -staatsanwälte beschäftigt. Für die westlichen Alliierten bestand dabei das vorrangige Bedürfnis, Strafsachen und Zivilstreitigkeiten möglichst schnell wieder von den deutschen Gerichten erledigen zu lassen. Doch die Bremer Gerichte waren auch deshalb so früh wieder eröffnet worden, weil Amerikaner und Briten nicht allein in der Lage waren, die im Nachkriegschaos verstärkt auftretende Kriminalität wirksam zu bekämpfen.

Auch wenn sich die Besatzungsmächte bemühten, nationalsozialistisches Gedankengut aus der Judikative zu verbannen, so gelang dies mitunter nur unzureichend. Am schwersten wog die Personalfrage. Wollten die Alliierten alle früheren NSDAP-Mitglieder aus ihren Ämtern entfernen, so hatte dies ernste Konsequenzen für den reibungslosen Ablauf der Strafverfolgung. Mit den wenigen Neuzulassungen von "unbelasteten" Juristen war das Problem des Personalmangels kaum zu lösen, weshalb man recht schnell an die Grenzen der Praktizierbarkeit einer kompletten Säuberung der Justiz stieß. Entlastung versprach nur eine maßvolle Wiedereinstellung der altgedienten Richter und Staatsanwälte mit Parteibuch – und genau diese sollte das Entnazifizierungsverfahren steuern. Ein Großteil der entlassenen Juristen konnte sich nun gute Hoffnungen auf eine baldige Wiedereinstellung machen.

Seit Sommer 1945 setzten sich der neue Bremer Landgerichtspräsident Diedrich Lahusen und Justizsenator Theodor Spitta bei der amerikanischen Militärregierung für die Wiedereinsetzung der von ihren Posten entlassenen Juristen ein. Das war zunächst gar nicht so einfach, denn die Amerikaner wollten NS-"belastetes" Justizpersonal unter allen Umständen aus dem öffentlichen Dienst entfernen. Lahusen und Spitta hingegen argumentierten pragmatisch: Ohne die ehemaligen Richter und Staatsanwälte würden die Gerichte bald unter der Last der Verfahren zusammenbrechen. Die Justiz aber könne nur schlagkräftig gegen die Kriminalität ankämpfen, wenn bewährtes Personal eingestellt würde – notfalls auch frühere Parteigenossen. Das leuchtete der Militärregierung ein, die deutsche Seite sollte sobald wie möglich eine erste Liste mit dem Gesuch auf Wiedereinsetzung von Richtern, Staatsanwälten und weiteren Justizbeamten einreichen. Einfach gestaltete sich die Auswahl nicht. Denn die Amerikaner sahen insbesondere die mögliche Wiedereinstellung früherer Mitglieder des Sondergerichts – einschließlich dessen stellvertretenden Vorsitzenden Warneken, der den Großteil der Sondergerichtsverfahren geleitet hatte – sehr kritisch. Lahusen und Spitta mussten entsprechend taktisch vorgehen: Ihre Liste durfte nur wenige problematische Kandidaten enthalten, aber auch nicht allzu kurz sein, da eine zweite Chance auf Wiedereinstellung noch nicht absehbar war.

Am 27. Juli 1945 reichte Lahusen seine Personalvorschläge bei der Militärregierung ein. Mögliche Kritik vorwegnehmend, argumentierte er: "Alle diese zur Wiedereinstellung vorgeschlagenen Herren sind seit Jahren, zum größten Teil seit Jahrzehnten in der bremischen Rechtspflege tätig gewesen. […] Von allen kann gesagt werden, dass sie ihr Amt stets durchaus unparteiisch, streng sachlich und objektiv verwaltet haben und sich in ihrer einwandfreien Berufsausübung niemals durch politische oder sonstige Instanzen in unzulässiger Weise haben beeinflussen lassen." Dass die Mehrheit von ihnen Mitglieder der NSDAP gewesen waren, schrieb Lahusen dem früheren Landgerichtspräsidenten zu, der sie zum Parteibeitritt gedrängt habe. "Die oben aufgeführten Persönlichkeiten", so war Lahusen überzeugt, "[bieten] jede Gewähr dafür […], dass sie bei Wiederzulassung ihr wichtiges Amt in der stets von ihnen betätigten hohen Berufsauffassung und mit dem gleichen allgemein anerkannten Erfolge führen werden wie bisher."

Tatsächlich war die Wiedereinstellung des "belasteten" Justizpersonals nur eine Frage der Zeit, mitunter kam es lediglich darauf an, welche Strategie die drei Westmächte in ihrer Besatzungszone mit der Entnazifizierung betrieben. Mit der sogenannten "Huckepack-Regel" – eine 1946 offiziell in der britischen Besatzungszone eingeführte 50-Prozent-Regelung, nach der jeder "unbelastete" Jurist einen "belasteten" zur Wiedereinstellung ins Amt empfehlen und den Kollegen gegebenenfalls kontrollieren konnte – kehrte etwa die Hälfte der ehemaligen NSDAP-Mitglieder wieder als Richter oder Staatsanwälte in den Justizdienst zurück. Für Bremen ergab sich hier sogar eine besonders komplizierte Konstellation: Als amerikanische Enklave inmitten der britischen Besatzungszone gelegen, blockierten die beiden Alliierten mit einem Zuständigkeitswirrwarr eine klare Regelung. Während die Amerikaner die Entlassung des "belasteten" Justizpersonals vornahmen, entschieden die Briten über dessen (Wieder-) Einstellung. Letztere konnten also die Entlassungsverfügung einfach wieder aufheben.

Mit dem im Mai 1947 in Bremen in Kraft getretenen "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" ging die Entnazifizierung schließlich in die Verantwortung der bremischen Behörden, namentlich einer neu gebildeten "Abteilung für politische Befreiung" bei der amerikanischen Militärregierung, über. Die eigentlich als politische Säuberung gedachte Entnazifizierung verkam so zum bloßen Bußgeldverfahren – vor allem auch deshalb, weil die Verfahren einen erheblichen personellen und bürokratischen Aufwand erforderten und deshalb eigentlich Zeit brauchten. Daran mangelte es allerdings. Den überforderten Spruchkammern fehlte es zudem an Personal, Räumlichkeiten, Mobiliar sowie an dringend benötigten Schreibmaschinen. Nach nur gut 15 Monaten, im September 1948, löste sich die Bremer Entnazifizierungsabteilung auf. Spätestens jetzt kehrten die meisten der ehemaligen Juristen als "Mitläufer" und "Entlastete" wieder in den Justizdienst zurück.

Ausnahme von der Regel: Die Nichtwiederzulassung von Dr. Emil Warneken

Gerade unter den Juristen war die Ansicht weit verbreitet, dass ihr Berufsstand während der NS-Zeit unpolitisch gewesen sei und sie nun als "unverzichtbare Experten" zum Wiederaufbau benötigt würden. Ihnen kam dabei zugute, dass sich mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom Kriegsende, durch die personelle und bürokratische Überlastung der Spruchkammern und mit dem wachsenden Unwillen innerhalb der Bevölkerung gegenüber einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit die Entnazifizierung mehr und mehr zu einem formellen Entlastungsverfahren ehemaliger Parteigenossen und Nationalsozialisten entwickelte. Der Verdrängung der Vergangenheit folgte die Reintegration der "kleinen" Parteigenossen und der "Mitläufer" in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Viele von ihnen machten auch nach 1945 weiter Karriere.

Doch es gab auch Ausnahmen: Im Juli 1946 entließ die amerikanische Militärregierung Richter Emil Warneken aus dem Amt mit der Begründung, dass ein stellvertretender Sondergerichtsvorsitzender nicht tragbar sei für den demokratischen Wiederaufbau der Justiz. Warneken war damit einer der wenigen Mitglieder des Bremer Sondergerichts, die nach 1945 nicht wieder zum Richterdienst zugelassen wurden. Zwar hatten sich Justizsenator Spitta und Landgerichtspräsident Lahusen wiederholt bei den Amerikanern um Warnekens Wiedereinsetzung bemüht. Doch diese ließen sich nicht überzeugen und argumentierten, dass Warneken von der NS-Ideologie überzeugt und damit eine Stütze des Regimes gewesen sei. Einer Wiedereinstellung könne daher nicht entsprochen werden.

Für Warneken war es bitter, sehen zu müssen, dass viele seiner ehemaligen Kollegen nach ihrer Entlassung wieder recht schnell zurück an die Arbeit gehen konnten. "Alle meine Kollegen", so schrieb er 1956, "mit alleiniger Ausnahme von uns Sonderrichtern […], waren im Lauf der Zeit wiedereingestellt worden […]. Ich habe das Gefühl der Verbitterung über die mir zu Teil gewordene offensichtlich ungerechte und diffamierende Behandlung lange nicht überwinden können." Im Frühjahr 1948 verurteilte eine Spruchkammer den ehemaligen Richter zu 600 Reichsmark Sühne und stufte ihn als "Mitläufer" ein. Landgerichtspräsident Lahusen beantragte bei Justizsenator Spitta daraufhin Warnekens unverzügliche Wiedereinstellung. Doch diesmal lehnte Spitta ab, da er die Chancen für dessen Rückkehr realistisch und damit gering einschätzte. Die Entlassung aus dem Dienst war damit endgültig. Warneken arbeitete danach einige Zeit als juristischer Gutachter und bezog nach seinem Eintritt in den Ruhestand ab August 1948 eine monatliche staatliche Beihilfe von 250 Deutsche Mark. "Vielleicht kommt noch einmal die Zeit", notierte er in sein Tagebuch, "in der auch von unserem Bremer Sondergericht der Makel in aller Öffentlichkeit genommen wird, der uns Richter angeblich als nicht mehr ‚würdig‘ hat erscheinen lassen, wieder in dieses Richteramt eingesetzt zu werden. Ein mir gut bekannter Anwalt äußerte mir gegenüber gelegentlich, dass die Zeit hierzu wohl noch nicht gekommen sei, dass sie aber bestimmt noch einmal kommen würde. Vielleicht nach meinem Tode? Aber dann habe ich nicht mehr viel davon!"

Überleben des NS-Gedankenguts nach 1945

Warneken selbst war noch lange nach Kriegsende überzeugt von der Idee der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft": "Die Grundgedanken des Nationalsozialismus sind so absolut richtig", vertraute er im Spätsommer 1945 seinem Tagebuch an, "dass sie sich allen augenblicklichen Widerständen zum Trotz in der Zukunft durchsetzen werden – befreit von all dem, was ihrer Verwirklichung jetzt hindernd im Wege gestanden hat. Und sie werden nicht nur Deutschland beherrschen, sondern auch andere Länder, vielleicht die ganze Welt, werden diese Gedanken übernehmen müssen, eben weil sie richtig und die einzige Grundlage sind, auf der ein Volk wirklich in sozialem Frieden leben und fortkommen kann." Insbesondere seien es die sozialpolitischen Errungenschaften und gemeinschaftsstiftenden Maßnahmen des NS-Regimes gewesen, die für ihn (immer noch) die ideale Lösung sowohl für die damaligen als auch derzeitigen sozialen und politischen Probleme darstellten. Auch sah Warneken in Hitler – dessen Eroberungs- und Vernichtungspolitik zum Trotz – immer noch den Heilsbringer, der "das deutsche Volk […] festzuschweißen und zu einigen" verstanden habe.

Warneken hatte offenbar an den propagierten "Endsieg" geglaubt. Sonst hätte er seine Tätigkeit am Sondergericht nicht mit solch Akribie und hoher Leistung bis zum Schluss verfolgt und für sein Vaterland – getreu den alten preußischen Tugenden des Gehorsams und der Pflichterfüllung – das Letzte gegeben. Die Niederlage schrieb er dem Wirken "innerer Feinde" zu, die er als Richter mit voller moralischer Überzeugung bekämpft hätte, letztlich aber wohl nicht hart genug gegen "Gemeinschaftsfremde" und "Volksschädlinge" vorgegangen wäre. Allerdings gab er der Führungsetage der NSDAP eine gewisse Mitschuld am entgangenen Sieg. Sie hätte in ihrem Größenwahn unsinnige Befehle erteilt und eine wenig feinfühlige Taktik verfolgt.

In seinen (unveröffentlichten) Memoiren distanzierte sich der ehemalige Richter deutlich von Holocaust und Vernichtungskrieg. Diese waren in seinen Augen das alleinige Werk Hitlers. Das deutsche Volk, so schrieb er, habe von all dem nichts gewusst, sei von der NS-Regierung betrogen worden und müsse nun für die Verbrechen einer Minderheit ungerechtfertigt geradestehen. Mit dieser Ansicht stand Warneken nicht allein. Sie war Teil einer kollektiven Strategie, sich nicht die eigene Verwicklung in die massenhaften NS-Verbrechen eingestehen zu müssen. Schlimmer noch: Die ehemaligen Akteure zeigten fast ausnahmslos kein Unrechtsbewusstsein, sondern verharmlosten die Bedeutung und Konsequenzen ihres Tuns im großen Stil. Der Gedanke, dass die politische und soziale Idee des Nationalsozialismus durchaus tragfähig war, aber nur schlecht umgesetzt wurde, war eine zynische Verleugnung des Leids millionenfacher Opfer des NS-Terrors. Richter Warneken wollte sich dies bis zu seinem Tod nicht eingestehen: Er verstarb mit knapp 89 Jahren am 16. August 1976.

Schluss

Die Entnazifizierung als Versuch der Alliierten, die deutsche Nachkriegsgesellschaft zur strafrechtlichen und moralischen Auseinandersetzung mit ihrer jüngsten Vergangenheit zu zwingen, ist zum größten Teil gescheitert. Das Gros der Entnazifizierten kehrte wieder in wichtige gesellschaftliche Positionen zurück und richtete sich in den neuen politischen Verhältnissen ein. Mit ihnen kam es zu einer Restauration langlebiger personeller Strukturen. Insbesondere, wenn es galt, den "alten Kameraden" zu neuen Ämtern zu verhelfen, trugen die Netzwerke von damals auch nach der angeblichen "Stunde Null". Zugleich hatte das Ideal der "Volksgemeinschaft" für viele Zeitgenossen nichts an seiner Verheißungskraft eingebüßt. Vor dem Hintergrund der totalen Niederlage wurden die Schattenseiten ausgeblendet und sich nur noch an die schönen Seiten des "Dritten Reichs" erinnert. Sie waren zugleich Symptom einer Abwehrhaltung gegen die alliierte Entnazifizierungspraxis und gegen die Scham angesichts des Ausmaßes der NS-Verbrechen. Der aus dieser Haltung heraus entstandene Mythos vom deutschen Volk als Opfer half als Entlastungsargument für all jene Dinge, die man vor 1945 mit gutem Gewissen befürwortet hatte, für viele Taten, die zum angeblichen Wohl der Gemeinschaft ausgeführt wurden. Die allermeisten waren daher weiterhin überzeugt, das Richtige getan zu haben – auch im moralischen Sinn. Kein einziger der Bremer Richter, Staats- oder Rechtsanwälte ist nach 1945 vor einem ordentlichen Gericht wegen ungerechtfertigt hoher Strafurteile während der NS-Zeit angeklagt und verurteilt worden. So wurde das Ermittlungsverfahren, das die Hamburger Staatsanwaltschaft 1960 gegen Warneken und seine Kollegen angestrengt hatte, nach wenigen Monaten wieder eingestellt – aus Mangel an Beweisen.

Zitierweise: Christine Schoenmakers, Die Rückkehr der "Ehemaligen": Personelle und ideologische Kontinuitäten in der Bremer Justiz nach 1945, in: Deutschland Archiv, 1.7.2016, Link: www.bpb.de/227352

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vernehmungsprotokoll der Staatsanwaltschaft am Landgericht Bremen vom 21.9.1960, Staatsarchiv Bremen (StAB), Nachlass Hans-Arnold-Warneken, Teil V, S. 5–7.

  2. Siehe hier u.a. Martin Broszat und Elke Fröhlich, Alltag und Widerstand – Bayern im Nationalsozialismus, München 1987; Frank Bajohr und Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006; Dies., Massenmord und schlechtes Gewissen. Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust, München 2006; Markus Brunner, Jan Lohl, Rolf Pohl und Sebastian Winter (Hg.), Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychologischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen, Gießen 2011; Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.), "Volksgemeinschaft". Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im "Dritten Reich"? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte, Paderborn 2012, Nationalsozialistische "Volksgemeinschaft". Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung, Band 1; Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005; Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919–1939, Hamburg 2007.

  3. Siehe hierzu u.a. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, München 1988; Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 2005.

  4. Schon am 15.9.1944 hatten sich Briten und Amerikaner über die Aufteilung des deutschen Nordwestens dahingehend geeinigt, dass erstere dort eine Besatzungszone einrichten sollten, die den Amerikanern die Häfen Bremen und Bremerhaven überließ. Eine endgültige Einigung über die zu schaffende Bremer Enklave trafen die beiden Alliierten am 6.2.1945, als sie deren Gebietsgrenzen definierten. Die Enklave stand ab Mai 1945 vollständig unter amerikanischer Kontrolle, war jedoch anfangs nicht Teil der amerikanischen Besatzungszone, sondern wurde von einer Militärregierung entsprechend den politischen Grundlinien der britischen Zone geführt. Vgl. Konrad Elmshäuser und Hartmut Müller, Occupation – enclave – state. Die Wiederbegründung des Landes Bremen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dokumente zu Politik und Alltag, Bremen 2007, Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, Band 27, S. 11.

  5. Vgl. Frederick Taylor, Zwischen Krieg und Frieden. Die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands 1944–1946, Berlin 2011, S. 351; Alexander von Plato und Almut Leh, "Ein unglaublicher Frühling". Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948, Bonn 1997, S. 97; Hans Wrobel, Verurteilt zur Demokratie. Justiz und Justizpolitik in Deutschland 1945–1949, Heidelberg 1989, S. 106; Karl Marten Barfuß, Hartmut Müller und Daniel Tilgner (Hg.), Die Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005, 4 Bde., Bremen 2008–2010, Band 1, S. 74–76.

  6. Vgl. ebd, S. 65; Marc von Miquel, Juristen: Richter in eigener Sache, in: Norbert Frei (Hg.), Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main 2001, S. 165–214, hier S. 188; Wolfgang Benz, Die Entnazifizierung der Richter, in: Bernhard Diestelkamp und Michael Stolleis (Hg.), Justizalltag im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1988, S. 112–130, hier S. 123.

  7. Dr. Diedrich Duncan Lahusen wurde 1889 in Delmenhorst als Spross der Kaufmannsfamilie Lahusen geboren, die die Eigentümer der "Nordwolle" AG in Bremen waren. 1921 schloss er sein Studium der Rechtswissenschaft mit dem Assessorexamen in Hamburg ab und ließ sich als Rechtsanwalt in Bremen nieder. Am 15.6.1945 betraute ihn die Militärregierung mit den Geschäften des Landgerichtspräsidenten. 1951 schied er aus dem Amt aus und kehrte in den Anwaltsberuf zurück. Lahusen starb am 2.12.1951 in Bremen. Vgl. Historische Gesellschaft zu Bremen (Hg.), Bremische Biographie 1912–1962, Bremen 1969, S. 304–305.

  8. Dr. Theodor Spitta wurde am 5.1.1873 in Bremen geboren und wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf. Er ließ sich 1900 als Rechtsanwalt in Bremen nieder. 1905 wurde Spitta in die Bremer Bürgerschaft, 1911 in den Senat gewählt. Dort war er u.a. für den Bereich der Justiz und Finanzen zuständig. Seit dem 9.4.1919 gehörte Spitta, inzwischen Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), dem vorläufigen Bremer Senat an und war der Begründer der Bremer Landesverfassung von 1920, die bis 1933 in Kraft blieb. Im März 1933 trat er von seinen politischen Ämtern zurück. Am 5.6.1945 setzte ihn die Militärregierung wieder als Senator ein, 1946 wurde er zum 2. Bürgermeister gewählt. 1955 trat Spitta in den Ruhestand und starb am 24.1.1969 in Bremen. Vgl. Walter Killy und Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE) München u.a. 1995–2003, Band 9, S. 409–410 sowie Barfuß, Müller und Tilgner, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen (Anm. 5), Band 1, S. 39.

  9. Vgl. Wiedereinsetzung von Richtern und Staatsanwälten, Protokoll der Rücksprache mit Captain Guthrie vom 9.7.1945, StAB, 4,44/3-870, unfol.

  10. Vgl. Schreiben von Landgerichtspräsident Dr. Lahusen an Oberstleutnant Wisnioski vom 27.7.1945, StAB, 4,44/3-870, unfol. sowie Christoph Thonfeld, Die Entnazifizierung der Justiz in Bremen, in: ZfG, 46 (1998), 7, S. 638-656, hier S. 641.

  11. Vgl. Sonja Boss, Unverdienter Ruhestand. Die personalpolitische Bereinigung belasteter NS-Juristen in der westdeutschen Justiz, Berlin 2009, Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie, Band 7, S. 13 sowie Hubert Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945, Berlin 2010, Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie, Band 9, S. 91.

  12. Thonfeld, Entnazifizierung der Justiz in Bremen, S. 646–647; Barfuß, Müller und Tilgner, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Band 1, S. 68-69 sowie Gabriele Rohloff, "Ich weiß mich frei von irgendeiner Schuld…". Die Entnazifizierung der Richter und Staatsanwälte am Beispiel des Sondergerichts Bremen, Heidenau 1999, S. 84.

  13. Vgl. Thonfeld, Entnazifizierung der Justiz in Bremen, S. 648.

  14. Vgl. Clemens Volnhals (Hg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1991, S. 55; Christina Ullrich, "Ich fühl‘ mich nicht als Mörder". Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 10 und 35 sowie Michael R. Hayse, Recasting West German Elites. Higher Civil Servants, Business Leaders, and Physicians in Hesse between Nazism and Democracy 1945-1955, New York/Oxford 2003, S. 163 und 191.

  15. Vgl. Schreiben Lahusens an OLG-Präsident Ruscheweyh vom 15.11.1946, StAB, 4,10 – Akz. 63–26, Bl. 81 sowie Entnazifizierungsakte Warneken, Bescheid vom 8.3.1946, StAB, 4,66 – I., unfol.

  16. Emil Warneken, Tagebuch, unveröffentlichtes Manuskript, S. 229–230.

  17. Ebd, S. 151.

  18. Emil Warneken, Chronik der Familie Warneken, unveröffentlichtes Manuskript, S. 20, 27–28, 38 und 42–43.

  19. Vgl. ebd, S. 47 und 217–218.

  20. Vgl. Stephan Marks, Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus, Düsseldorf 2007, S. 27–30 und 34–36; Klaus-Detlev Godau-Schüttke, Ich habe nur dem Recht gedient. Die "Renazifizierung" der Schleswig-Holsteinischen Justiz nach 1945, Baden-Baden 1993, S. 211 sowie Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt am Main 2010, S. 135–136.

  21. Vgl. Staatsarchiv Hamburg, Bestand 213-11 Staatsanwaltschaft am Landgericht, Strafsachen Rep.-Nr. 19899/64, Einstellung des Verfahrens am 23.11.1960, Bl. 40–41.

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Dr.; Magisterstudium der Neueren Geschichte, Medienwissenschaft und Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Promotion im Rahmen des Forschungsverbundprojektes "Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft’?" des Landes Niedersachsen und der Volkswagen-Stiftung, Hannover/Oldenburg. Bildungsreferentin bei der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Didaktische Überlegungen zur Vermittlung von Diktaturerfahrungen im 20. Jahrhundert.