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Geschichtsmythen und Nationenbildung

Herfried Münkler

/ 7 Minuten zu lesen

Mythen sind mehr als Erzählungen, denn sie stiften politische Bedeutung. Sie strukturieren die Vergangenheit und haben Einfluss auf die Gegenwart. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Mythen und Nationenbildung?

Das Hermannsdenkmal wurde von 1838 bis 1875 zur Erinnerung an die "Schlacht im Teutoburger Wald" erbaut, mit der der Führer der Germanen, Hermann der Cherusker, ein weiteres Vordringen der Römer verhinderte. Inzwischen besuchen Jahr für Jahr mehr als eine Million Menschen das Monument. (© AP)

Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat die Nation als eine "imagined community" bezeichnet, eine "vorgestellte Gemeinschaft", wie die deutsche Übersetzung lautet. Damit wollte Anderson zum Ausdruck bringen, dass es sich bei der Nation nicht um eine real erfahrene Gemeinschaft handelt, wie etwa die Familie oder den Freundeskreis, sondern dass sie als Gemeinschaft nur in unserer Vorstellungswelt existiert. Aber zugleich hat er darauf Wert gelegt, dass es sich um eine Gemeinschaft und nicht um einen politisch-administrativen Großverband handelt. Mit der Nation kann man sich identifizieren, und sie verleiht dafür im Gegenzug Identität. Das ist bei allein auf Steuerung ausgerichteten Großverbänden nicht der Fall.

Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Nation ist etwas besonderes. Das hat auf dem Scheitelpunkt des Nationalbewusstseins in Europa dazu geführt, dass jede Verletzung der nationalen Grenzen als eine Verletzung des eigenen Körpers erfahren und jeder Angriff auf die nationale Ehre als Attacke gegen die persönliche Ehre wahrgenommen wurde. Auch wenn das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eher selten geworden ist: Man kann die Nation lieben. Dass man den Staat liebt, ist hingegen ungewöhnlich. Der Staat verlangt Opfer, und notfalls erzwingt er sie auch. Für die Nation dagegen werden die Opfer oft freiwillig gebracht. Dass das so war (und teilweise noch ist), hat nicht zuletzt mit den in die Idee der Nation verwobenen Mythen zu tun.

Staat und Nation sind zwei Typen politischer Ordnung, die unabhängig voneinander auftreten können, denen aber eine Tendenz zur Annäherung inhärent ist. Dann spricht man vom Nationalstaat. Dabei kann der Staat die initiierende Größe sein, ebenso aber auch die Nation. In Frankreich etwa ist der Staat, der sich als herrschaftlich-administrative, territorial klar umgrenzte Ordnung herausgebildet hatte, nachträglich nationalisiert worden; dabei kam der Revolution und den anschließenden Kriegen eine zentrale Rolle zu. In Deutschland dagegen, wo eine Fülle von Territorialstaaten entstanden war, die keinen nationalen Anspruch erheben konnten, drängte die Vorstellung der Nation darauf, dass ein an ihrer Reichweite orientierter Staat entstehen solle. Hier wartete die Nation also auf ihre "Verstaatlichung". Dementsprechend unterschiedlich sind die Staats- und Nationsbildungsprozesse in beiden Ländern verlaufen. Bis heute bilden sie die beiden Modelle bzw. Entwicklungspfade, anhand deren Natiogenesen in aller Welt beschrieben und analysiert werden.

politische Mythen

In beiden Fällen freilich haben Mythen eine entscheidende Rolle gespielt, und da beide Länder nicht nur um Grenzgebiete, sondern auch um die Hegemonie in Europa stritten, entstand daraus ein System von Gegenmythen, in dem die je eigene Erzählung die andere Seite ins Unrecht setzte oder aber deren Dignität bestritt. Das begann im späten 15. Jahrhundert mit dem Streit einiger Humanisten über die Frage, ob Karl der Große ein Deutscher oder ein Franzose gewesen sei. Dieser Streit ist inzwischen dadurch entschärft worden, dass Karl zum ersten Europäer ernannt und so zur gründungsmythischen Referenzgestalt des vereinigten Europa wurde. War die Debatte über Karl ein Streit unter Intellektuellen, so haben die politischen Mythen seit dem späten 18./frühen 19. Jahrhundert buchstäblich "die Massen ergriffen".

Das begann mit dem Mythos der Französischen Revolution. Für die einen markierte die Revolution in Frankreich den Weg, den auch die Deutschen beschreiten mussten; bis vor kurzem gab es zahllose Stimmen, die das Unglück der deutschen Geschichte darauf zurückführten, dass es in Deutschland keine erfolgreiche Revolution gegeben habe. Das "Schmettern des gallischen Hahns", von dem Marx spricht – eine Revolutionsmetapher –, sollte auch die Deutschen auf die Barrikaden rufen. Tatsächlich waren die Pariser Ereignisse der Jahre 1848 wie 1968 das Startsignal für europäische Vorgänge.

Die Gegenformel zu Marx´ gallischem Hahn ist Hegels "Eule der Minerva", von der er sagt, sie beginne erst in der Dämmerung ihren Flug. Für Hegel ist es das Kennzeichen der Philosophie, dass sie aufs Erkennen aus ist und darum die Ereignisse inspiziert, nachdem sie stattgefunden haben. Das "Volk der Dichter und Denker", wie man sich in Deutschland mit Blick auf die Weimarer Klassik und die idealistische Philosophie gern nannte, stellte dem Revolutionsmythos also den Kulturmythos entgegen. Das erklärt auch, weswegen die Formel von den Dichtern und Denkern keine Selbstfeier von Intellektuellen blieb, sondern zum nationalen Identitätsmerkmal wurde. In Frankreich entstand dagegen der Mythos des kritischen Intellektuellen, der die Dinge nicht im Nachhinein inspiziert, sondern politisch interveniert. Auf den von Voltaire bis Sartre reichenden französischen Intellektuellen-Mythos wiederum reagierte man in Deutschland beschämt oder zurückweisend: Die einen beklagten, dass es diesen Typus von Intellektuellen in Deutschland nicht gebe und suchten ihn selbst nachzuahmen; die anderen bezeichneten die Intellektuellen als "Mundwerksburschen" (Gehlen) und hielten ihnen vor, andere die Arbeit tun zu lassen.

Ein anderes Paar im System der Gegenmythen waren Imperialität und antiimperialer Widerstand, die zwischen Deutschland und Frankreich mehrmals hin und her wechselten. Zwar hatten deutsche Humanisten seit dem späten 15. Jahrhundert den Cheruskerfürsten Arminius/Hermann als den ersten historisch identifizierbaren Deutschen herausgestellt und auf dem Höhepunkt der Reformation hatte man Luther und Hermann im Kampf gegen die Bevormundung durch Rom miteinander verbunden – aber so lange, wie sich die Deutschen als Träger des Heiligen Römischen Reiches begriffen, dominierte der Reichsmythos und nicht die Verkörperung des antiimperialen Widerstandes.

Das änderte sich mit dem Ende des Reichs und der Kaiserkrönung Napoleons. Jetzt ließ sich der Hermannmythos politisch scharf machen, und der Kampf gegen die römischen Legionen fand im Widerstand gegen die französischen Divisionen seine Neuauflage. Außerdem konnte man so bequem die Zensur umgehen: Man sagte Rom und meinte Paris. Das änderte sich, als nach 1871 die Kaiserwürde wieder in Deutschland war: Zwar baute man jetzt das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, aber die mythische Überzeugungskraft der Antiimperialität lag nun bei den Franzosen, die den Caesar-Opponenten Vercingetorix entsprechend ausstaffierten. Asterix und Obelix wurden dessen spätere Nachfahren, wobei offen bleibt, von wem aktuell die imperiale Repression ausgeht.

Funktion von Mythen

Halten wir fest: Mythen sind nicht eo ipso unwahre Berichte, wie es ein landläufiges Begriffsverständnis nahelegt, sondern Erzählungen, denen es nicht um historische Wahrheit, sondern politische Bedeutsamkeit geht. Sie stiften Bedeutung – im Raum, indem sie Ereignisse mit bestimmten Orten verbinden, und in der Zeit, indem sie Geschichten erzählen, die der Geschichte Bedeutsamkeit verleihen und sie von der Vermutung des bloß Vergangenen befreien. Politische Mythen sind Interpunktionen der Zeit, sie markieren Zäsuren und stellen Ligaturen her. Sie strukturieren Vergangenheit im Hinblick auf das für uns heute noch Bedeutsame, das nicht dem Vergessen anheimfallen darf. Aber das tun sie nicht bloß der besseren Übersichtlichkeit zuliebe, sondern um Einfluss auf die in der Gegenwart lebenden Menschen auszuüben. Mythen verleihen Identität und stiften so Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, für das Individuum wie für sozio-politische Kollektive; aber sie nehmen diese auch in die Pflicht. Man hat sich der Heroen der Vergangenheit würdig zu erweisen.

Politische Mythen sind also keineswegs erbauliche Erzählungen, die wir zum Gegenstand historisch-philosophischer Studien machen können, wie das bei den Mythen der Antike der Fall ist. Solch wissenschaftliche Distanzwahrung ist nur bei bereits erkalteten Mythen möglich; "heiße" Mythen dagegen haben eine direkte Appellstruktur, sie sprechen uns an und nehmen uns in Anspruch. Wir haben Mühe, uns ihnen zu entziehen, zumal dann, wenn sie tief in unsere politische Wahrnehmung eingesickert sind, so dass sie Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte (Koselleck) beherrschen. Man kann "heiße" Mythen also auch daran identifizieren, dass sie die Grammatik der politischen Weltwahrnehmung strukturieren. Wir haben dies vor kurzem an den jugoslawischen Zerfallskriegen beobachten können.

Aber Mythos ist nicht gleich Mythos, auch und gerade nicht mit Blick auf den Prozess der Nationenbildung. Man kann zwischen Gründungs- und Opfermythen unterscheiden, wobei sich die beiden nicht prinzipiell ausschließen, aber unterschiedliche Funktionen haben. Opfermythen können durchaus zu Gründungsmythen werden, aber dann verlieren sie ihre appellative Dimension, fordern nicht mehr neue Opfer, sondern berichten von denen der Vergangenheit, denen wir so viel verdanken. Die Erzählung vom antifaschistischen Widerstand als Gründungsmythos der DDR ist dafür ein Beispiel; sie stand für politische Parteinahme und Identität und markierte eine Trennlinie zur Vergangenheit wie zur Bundesrepublik als einem nach wie vor faschismusanfälligen Staat, gegen den man sich durch den "Antifaschistischen Schutzwall" sichern musste. Der antifaschistische Gründungsmythos verlangte keine neuen Opfer, aber "politische Wachsamkeit" und hochgerüstete Abwehrbereitschaft. Man gedachte der Opfer, damit man keine neuen Opfer bringen musste. Dagegen ist der Nibelungenmythos, gleichgültig, ob er vom Helden Siegfried oder vom Todesritt der Nibelungen zu Etzels Burg handelt, eine Erzählung, die auf neue Opfer und neuen Kampf vorbereiten soll. Hier hat der Mythos eine sakrifizielle Dimension, und dementsprechend ist er auch eingesetzt worden.

Deutsche Gründungsmythen

Ein gänzlich opferfreier Gründungsmythos ist dagegen die Erzählung von Währungsreform und Wirtschaftswunder in der alten Bundesrepublik, die der Legitimation einer bestimmten Wirtschaftsordnung und der Abgrenzung gegen die DDR diente. Auch antifaschistischer Widerstand und Wirtschaftswunder bildeten eine gegenmythische Struktur, in der sich beide Seiten wechselseitig jene Legitimation bestritten, die sie sich selbst attestierten: Die DDR, indem sie die Bundesrepublik in die Kontinuität des Faschismus stellte, die Bundesrepublik, indem sie der DDR ihre Versorgungsdefizite und ihre wirtschaftlichen Mängel vorhielt. Beide Mythen sollten zunächst nicht zur Natiogenese dienen, sondern vielmehr konkurrierende Ansprüche auf den zu richtigen Weg zur deutschen Einheit markieren. Aber mit Vertiefung der Teilung wurden sie doch zu Elementen eigener Nationenbildung, gezielt im Osten, wider Willen im Westen. Erst der Zusammenbruch der DDR hat dem ein Ende gesetzt.

Die Wirkung von Geschichtsmythen entfaltet sich nicht bloß über Erzählungen, sondern dazu dienen auch Bilder und Feste. Zur narrativen Extension kommen ikonische Verdichtungen und rituelle Inszenierungen hinzu: Nur wenn alle drei Dimensionen zusammenwirken, können Geschichtsmythen ihre ganze Kraft entfalten. Die Denkmalsgründer haben das immer schon gewusst und versucht, den Mythen eine Gestalt zu verleihen. Der Mythos sollte sich nicht im Ungefähren verlieren, sondern brauchte einen Ort, an dem er in rhythmischer Wiederholung in Szene gesetzt werden konnte. So gewann er Präsenz in Raum und Zeit. An solchen denkmalbewehrten Orten lässt sich auch das Schicksal der Mythen beobachten – etwa dann, wenn nur noch Touristen zum Picknick kommen. Dann hat sich der Schauder des Sakralen verloren der "heißen" Mythen eigen ist. Hier kann man sich aufhalten, ohne in die Pflicht genommen zu werden.

Quellen / Literatur

Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hgg.): Mythen in der Geschichte, Freiburg/Br. 2004.

Yves Bizeul (Hg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Po-len, Berlin 2000.

Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Berlin 1998.

Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2008 (i.E.).

Rudolf Speth: Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Opladen 2000.

Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918, München 1991.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Herfried Münkler lehrt Politische Theorie an der Humboldt-Universität in Berlin. Zu seinem Forschungsschwerpunkt gehört u.a. Ideengeschichte.