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Die Hippies | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Die Hippies

Klaus Farin

/ 6 Minuten zu lesen

Der passive Ausstieg der Gammler und Beatniks und das bloße Provozieren der Gesellschaft durch Aktionen der Provos reichten den Hippies nicht aus. Wer Freiheit und Glück suche, müsse dieser Gesellschaft radikal und ganzheitlich den Rücken zuwenden.

Der "Summer of Love" auf dem VW-Bus. Besucher des Woodstock Festivals 1969. (© AP)

Statt zu versuchen, die Gesellschaft von innen zu reformieren, wollten sie aus ihr aussteigen und eine Gegengesellschaft aufbauen, deren positive Ausstrahlung schon bald vor allem Gleichaltrige ebenfalls zum Ausstieg motivieren sollte. Die Mehrzahl der Hippies war eigentlich nicht "politisch" motiviert, doch bald merkten sie, dass man aus der Mehrheitsgesellschaft nicht aussteigen kann, ohne politisch zu werden. Denn anders als die Gammler wollten sie nicht nur dem Leistungsdruck der Gesellschaft entfliehen, sondern zugleich neue, menschlichere Lebensweisen und Umgangsformen finden. Doch der Mehrheitsgesellschaft der Sechzigerjahre fehlte das Selbstbewusstein, die "Fliehenden" einfach ziehen zu lassen, und so betrachtete sie jegliche Suche nach einem eigenen Lebensstil fernab der vorgegebenen Standards (Lohnarbeit, Kleinfamilie, Konsumfreude) bereits als radikalen politischen Angriff.

Das Ziel der Hippies war eine "antiautoritäre und enthierarchisierte Welt- und Wertordnung ohne Klassenunterschiede, Leistungsnormen, Unterdrückung, Grausamkeit und Kriege. Der Gesellschaft der Angst, wo ein jeder sich vor dem Vorgesetzten, dem Nachbarn, der Polizei, dem Schicksal und dem Anonymen fürchtet, boten die Hippies mit einer Gemeinschaft Paroli, in der die Freiheit die Autorität, Zusammenarbeit den Wettbewerb, Gleichheit die Hierarchie, Kreation die Produktivität, Ehrlichkeit die Heuchelei, Einfachheit den Besitz, Individualität den Konformismus und Glück den platten Materialismus dominieren sollten" (Hollstein 1981, S. 50). Ihr Blick richtete sich jedoch weniger auf ein anderes System als auf die Veränderung des einzelnen Menschen. Der Kapitalismus, so ihre zentrale Weltanschauung, hatte "nur die materielle Seite des Lebens entwickelt und Seele und Geist verloren. Alle Werte wurden ihres Inhalts entleert und erstarren in bloßer Rhetorik. Die Menschen degenerierten zu Empfangsstationen einer entseelten Bürokratie." (Hollstein 1969, S. 67) Der Kapitalismus habe den "natürlichen" Menschen von seinem eigentlichen Wesen entfremdet und in konsumsüchtige "Plastic People" (Frank Zappa) verwandelt. "Authentizität, Direktheit, Ehrlichkeit fand man jetzt nur noch in den vereinzelten Nischen der westlichen Gesellschaft - bei den Armen, den Untauglichen, den Stigmatisierten." (Willis 1981, S. 122f.) Armut und Unterdrückung sahen die Hippies eher global, bei ganzen Völkern, möglichst solchen, die weit entfernt lebten und sich so aufgrund nicht vorhandener realer Kontakte und Kenntnisse hervorragend zur Idealisierung und Mystifizierung eigneten, wie etwa die Indianer Nordamerikas. Die Realität vor der eigenen Haustür interessierte die meisten weniger. Die Tatsache, dass die Mehrzahl von ihnen selbst aus privilegierten Verhältnissen kam, freiwillig ausgestiegen war und materielle Dinge verachtete, machte sie häufig blind für soziale Probleme um sie herum. "Armut" bekam bei ihnen fast etwas Erstrebenswertes, eine Ambivalenz, die sich auch in ihrem Stil ausdrückte: "Überall in der Kleidung der Hippies gab es neben den Symbolen des Überflusses Symbole der Armut. Besonders prächtige Kleidungsstücke waren fleckig, schmutzig oder zerknittert; damit wurde verleugnet, dass sie einen Stellenwert in irgendeiner klassenbedingten Vorstellung von Kleidung hatten. Schlechte Stoffe, farblose Hemden, abgewetzte Jeans, Jacken oder Westen aus Jeansstoff waren sorgfältig gewaschen und gereinigt; so sollte jede Assoziation mit Armut vermieden werden. Mit nackten Füßen trotzten sie den kältesten Tagen, doch wenn es sehr heiß war, hüllten sie sich in dicke Schaffellmäntel, schwere Umhänge und knöchellange Strickjacken." (a.a.O., S. 128f.)

Natürlich spielte auch Musik im Leben der Hippies eine große Rolle. Sie mochten vom Blues beeinflussten, auf einer kraftvollen, oft virtuos beherrschten Leadgitarre aufbauenden Heavy Rock à la Cream oder Led Zeppelin, besonders aber, wenn sich darin - wie im so genannten Acid Rock - LSD- und andere psychedelische Erfahrungen deutlich widerspiegelten (The Doors, Grateful Dead, Jimi Hendrix, Jefferson Airplane und andere in Amerika; "intellektueller" und weniger rockig Pink Floyd in Großbritannien). Frank Zappa war seit seiner LP "Freak Out" (1966) der rebellische Gott aller Underground-Fraktionen und betrachtet noch heute von Tausenden von Wohngemeinschafts-(Klo-)Wänden ein wenig überrascht den Wandel der Geschichte.

Hippies hörten LPs, nicht Singles, am liebsten sogar programmatische Themen- oder Konzeptalben wie "Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band" von den Beatles - 1967 ein Meilenstein im Aufbrechen alter musikalischer Muster, nach späteren Aussagen der Band allerdings gar nicht als Konzeptalbum konzipiert, eine LP, die vielen Hippies den Weg in die Szene ebnete. Sie hörten "Happy Jack" (1967) und "Tommy" (1969) von The Who - also Produktionen, die nicht mehr öffentlich, etwa in Klubs und Discotheken, konsumiert wurden, oft auch nicht mehr live aufgeführt werden konnten, sondern eine konzentrierte Zuhörerschaft erforderten, die "sich nicht viel bewegt, still dasitzt, sich nicht mit anderen Dingen beschäftigt und bereit ist, beträchtliche Zeit allein der kritischen Rezeption von Musik zu widmen" (Willis 1981, S. 98). Auch einzelne Songs wurden immer länger (etwa "In-a-gadda-da-vida" von Iron Butterfly oder "Live Dead" von Grateful Dead, der gleich drei Plattenseiten füllte), die Texte immer wichtiger, zugleich aber auch abstrakter, transportierten zum Beispiel nur noch Traumbilder (wie etwa diverse Songs von John Lennon) und verweigerten sich der eindeutigen Interpretation. Bei Konzerten kamen komplexe Lichtanlagen, Filmausschnitte, Dias, Texteinspielungen vom Tonband zum Einsatz, asymmetrische Rhythmen und Verzerrereffekte machten Tanzen unmöglich. Die Musik der Hippies war immer mehr Nahrung für den Geist, nicht für den Körper. "Überraschung, Widerspruch und Unsicherheit waren genau das, was die Hippies in ihrer Musik hoch einschätzten. Sie wollten überrascht und verunsichert werden. Der allgemeine Ruf nach Klarheit in der Popmusik war ihnen fremd. Sie vertrauten ihrer Musik vor allem deswegen, weil deren Komplexität und Schwierigkeit das logozentrische Denken in Schach hielt und spirituelle Bedeutungsgehalte nahe legte, ohne diese auf eine Weise klären zu wollen, die sie unweigerlich reduziert hätte. Statt "Bedeutung" gab es in dieser Musik eine Vieldeutigkeit, die genügend Ansatzpunkte, Gesten und Hinweise barg, um einer Gruppe, deren Denken bereits in diese Richtung ging, eine spirituelle Interpretation zu ermöglichen." (Willis, S. 201)

Die Waffe des Systems war die Rationalität, die kalte Logik der Leistungs- und Warengesellschaft. Das Gegenmittel der Hippies logischerweise spirituelle Intensität, Fühlen statt Denken. "Protest und Leben der Hippies waren optimistisch, bunt, gewaltfrei, fröhlich. Ihre Ablehnung der westlichen Industriekultur total. So wurden auch Logik, Rationalität, Systematik und Zweckbestimmheit der westlichen Kultur abgelehnt, der Protest war intuitiv, gefühlsbetont, unsystematisch, hedonistisch. Nicht Analyse, nicht Marx und Marcuse waren interessant, sondern Intuition, Spontaneität, unvermittelte Theorie und Praxis, direkte Erfahrung. Kreativität, Gemeinschaft und Freunde bestimmten die Hippies, sie versuchten zu lernen, sich wieder über kleine Dinge zu freuen: Tautropfen, Sonnenstrahlen, eine Perle, Blumen, Farben - und sie veräußerlichten ihre Haltung in ihrer bunten Kleidung, in ihrem Lächeln, ihren Blumen." (Jaenicke 1980, S. 61)

Um die Fähigkeit zum entspannten Genuss der kleinen Freuden des Alltags zu steigern, nutzten die Hippies (und viele andere, vorwiegend langhaarige Jugendliche weit über die Szene hinaus) gerne Marihuana als Hilfsmittel, das wahlweise als "Gras", "Hasch", "Joint", "Pot", "Mary Jane", "Shit" oder "Ganja" firmierte. Neben Marihuana sollte vor allem das (halb)synthetische Halluzinogen LSD ("Acid") den von der Gesellschaft verkrüppelten Hippies die "Pforten der Wahrnehmung" (Aldous Huxley) öffnen. "LSD kann ein politisches Kampfmittel sein. Wer es nimmt, sollte sich aber darüber klar sein, dass er sich damit Erfahrungen und Einsichten aussetzt, die seine bisherigen Erfahrungen und Einsichten zu widerlegen imstande sind, was zum Ausgangspunkt eines psychischen Konflikts werden kann. Nur der sollte LSD nehmen, der eine gesellschaftliche Vorausentscheidung getroffen, sich zum Drop Out entschlossen und damit der bestehenden Ordnung sowieso schon den Kampf angesagt hat." (Salzinger 1982, S. 142) Auf ihren chemisch verstärkten Abenteuerreisen ins eigene Selbst entdeckten die Hippies völlig neue Welten - und vergaßen darüber allerdings häufig die äußere Welt. "Psychedeliker neigen dazu, sich sozial passiv zu verhalten", musste selbst der Hippie-Kultautor und LSD-Prophet Timothy Leary zugestehen. So stellten sie letztlich eher ein dankbares Rekrutierungsfeld für neue religiöse Bewegungen dar als eine "Reservearmee der Revolution". "Die Hippies tragen zur Verschönerung des Kapitalismus bei, nicht zu seiner Abschaffung", kritisierte denn auch der linke Berliner Extra-Dienst (Nr. 91, hier zitiert nach Schwendter 1993, S. 170).

Literatur

Hollstein, Walter: Der Untergrund. Zur Soziologie jugendlicher Protestbe- wegungen. Neuwied/Berlin 1969.

Hollstein, Walter: Die Gegengesellschaft. Reinbek (4., erweiterte Auflage) 1981.

Jaenicke, Dieter: Bewegungen. Versuch, die eigene Geschichte zu begreifen. Berlin 1980.

Salzinger, Helmut: Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? Reinbek 1982.

Schwendter, Rolf: Theorie der Subkultur. Hamburg (4. Auflage) 1993.

Willis, Paul: "Profane Culture". Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugend- kultur. Frankfurt am Main 1981.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.