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"Wir wollen eine gefühlte Wahrheit, eine Gefühlswelt zeigen" | "This Ain't California" | bpb.de

"This Ain't California" Über das Spezial "This Ain't California" – Ein Skater-Märchen Trailer – "This Ain't California" Interview mit Marten Persiel und Ronald Vietz Fake-Dokumentarfilme Freiheit auf Rollen – Ein Skater-Portrait Kommentierte Filmografie Arbeitsblatt Links Redaktion

"Wir wollen eine gefühlte Wahrheit, eine Gefühlswelt zeigen" Ein Gespräch mit Marten Persiel, dem Regisseur des Films "This Ain't California", und dem Produzenten Ronald Vietz.

/ 8 Minuten zu lesen

In einem Gespräch für die bpb erläutern Regisseur Marten Persiel und Produzent Ronald Vietz ihre Vorgehensweise beim Dreh von "This Ain't California" und erklären, warum sie verschiedene Arten der Inszenierung eingesetzt haben, ohne dies später im fertigen Film zu kennzeichnen. Außerdem geht es in dem Interview um ihren dokumentarischen Ansatz und um die Frage nach dem Wert der "emotionalen Wahrheit".

Regisseur Marten Persiel (Mitte) und Produzent Roland Vietz (rechts) (© Berlinale 2012)

Der Film "This Ain't California" erzählt die Geschichte des Skateboardfahrens in der DDR und stellt dabei den Skater "Panik" aka Denis Paraceck in den Mittelpunkt. Die DDR ist längst Geschichte und die Skater vom Alexanderplatz sind heute in alle Winde zerstreut. Wie ist es Ihnen gelungen, trotzdem einen so bildgewaltigen Film zu machen?

Marten Persiel: Es gab in der DDR viele Hobbyfilmer, gerade auch in der Breakdance- und Skateboard-Szene. Wir hatten am Ende unheimlich viel Material zur Verfügung, in dem Lebensfreude steckte. Das war dann am Ende auch das, worauf ich hinaus wollte: Lebensfreude zu zeigen, und nicht nur geschichtliche Daten zu vermitteln. Im Film gibt es keine Jahreszahlen oder Mengenangaben darüber, wie viele Skater es genau gab. Wir wollen eine gefühlte Wahrheit, eine Gefühlswelt zeigen.

Ronald Vietz: Wir haben auch gemerkt, dass ein und derselbe Event von verschiedenen Leuten ganz unterschiedlich erinnert wird. Bei den Deutsch-deutschen Skater-Meisterschaften, da hatten wir am Ende drei Jahreszahlen und fünf verschiedene Storys. Wir haben das dann im Film so geschnitten, wie es uns am wahrscheinlichsten erschien und am Ende sind die Leute aus dem Kino gekommen und haben gesagt: "Ja, so war es!"

Marten Persiel: Wir haben schon festgestellt, dass wir als Dokumentarfilmer Entscheidungen treffen müssen, wie es war. Die präzise Wahrheit findet man manchmal nicht. Es gibt einfach zu viele verschiedene Geschichten und dann musst du selbst entscheiden. Ich glaube, das ist eine Sache, die nicht nur bei unserem Projekt so ist, sondern bei jedem Dokumentarfilm so ist. Derjenige der es aufschreibt sagt, wie es war.

InterviewerinLuc-Carolin Ziemann

Luc-Carolin Ziemann hat in Hamburg und Leipzig Kultur-, Medien- und Politikwissenschaften studiert. Sie ist als Kuratorin, Autorin und Dozentin tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Dokumentar- und Kurzfilm sowie zeitgenössische Kunst.


Sie sagen, Sie wollen mit dem Film das Genre Dokumentarfilm neu definieren. Wie sieht ihre neue Definition aus?

Marten Persiel: Wir benutzen gerne den Begriff "dokumentarische Erzählung". Es ist ganz klar ein Dokumentarfilm in dem Sinne, dass er eine Geschichte, die tatsächlich so passiert ist, erzählt. Formal ist das ein Dokumentarfilm, aber erzählerisch hatten wir einen anderen Ansatz, da haben wir gesagt, es soll sich wie ein Buch anfühlen. Deswegen sind auch die Kapitelmarken da, deswegen ist die Animation da, denn es gibt bestimmte Sachen, da gibt es einfach keine Bilder dazu. Da ist zum Beispiel der Moment, in dem die Hauptfigur Denis aufhört mit seiner Schwimmerkarriere. Das wurde uns mehrfach erzählt, aber dazu gibt es natürlich keine Bilder. Deshalb habe ich gesagt, dann machen wir das als Animation. Dann zeigen wir, wie ein Junge aufhört zu schwimmen und statt geradeaus zu schwimmen plötzlich zur Seite weg schwimmt. Das ist eine Metapher und dafür ist die Animation da, das hat aber mit Dokumentarfilm in diesem Sinne nichts zu tun. Wir haben immer gesagt, wir machen einen Dokumentarfilm, wo die Erzählung wichtiger ist, als sich irgendeiner Form unterzuordnen.

Ronald Vietz: Wir wollen beim Dokumentarfilm das "Film" größer schreiben als das "Dokumentar". Um das wiederzugeben, wie es damals war, sind natürlich auch die Fakten wichtig, aber vor allem die Tatsache, dass man es vom Gefühl her trifft. Wir haben uns darauf konzentriert, die gefühlte Wahrheit zu zeigen und dadurch eine hohe erzählerische Dichte erzeugt.

Mit dieser Konzentration auf die "gefühlte Wahrheit" setzen Sie sich dem Vorwurf aus, es mit den Fakten nicht allzu genau zu nehmen, vor allem deshalb, weil Sie mit inszenierten Szenen und mit Schauspielern und Schauspielerinnen arbeiten, das im Film aber nicht kenntlich machen.

Ronald Vietz: Jede einzelne Geschichte, die erzählt wird, ist wahr und die gab es so. Wir haben sie anders bebildern müssen, wir haben uns beholfen, wir haben mal eine Sache nachgedreht. Das ist alles richtig. Aber die Geschichten, die wir erzählt haben, das war immer unser Anspruch, die sind alle wahr. Aber wenn ich einen Dokumentarfilm mache, werde ich immer meinen Betrachtungswinkel mit einbringen, jederzeit.

Marten Persiel: Wir hatten zum Beispiel die Entscheidung zu treffen: Gab es viel Repression gegen die Skater oder gab es wenig? Wir haben beides erzählt bekommen. Wir haben uns dafür entschlossen, es hereinzunehmen, weil es wichtig ist, aber man hätte es auch rauslassen können. Das wäre auch richtig gewesen.

Ronald Vietz: Wir wollten gerade die Ernsthaftigkeit und die Wahrhaftigkeit eines Dokumentarfilms erreichen.

Aber ist es denn wahrhaftig, einen Dokumentarfilm ins Kino zu bringen, von dem große Teile inszeniert sind, ohne dass diese Tatsache dem Publikum bewusst gemacht wird?

Ronald Vietz: Aber das ist ein ganz klassisches Reenactment. Das Besondere bei uns ist vielleicht, dass die Reenactments bei uns schwer auszumachen sind. Es würde aber das Gefühl töten, wenn ich jedes Bild, das nachgedreht ist, mit einem Wasserzeichen Reenactment versehen würde.

Marten Persiel: In der Hinsicht haben wir überhaupt nichts Neues erfunden, das wird in diversen Dokumentarfilmen ständig verwendet. Das interessiert auch die Zuschauer gar nicht. Filmwissenschaftler denken über diese Fragen nach, aber die Leute, die den Film sehen, nicht.

Es würde auf jeden Fall der Enttäuschung vorbeugen, herauszufinden, dass große Teile des Films nachgestellt sind. Die einzig logische Reaktion darauf ist, die gesamte Filmerzählung anzuzweifeln.

Marten Persiel: Aber wenn die Zeitzeugen sagen, der Film ist genau richtig so, dann ist er wahr. Das grenzt doch an Haarspalterei. Wir haben weit weniger als 60 Prozent des Films nachgedreht.

Ronald Vietz: Formal ist es ein Dokumentarfilm, er kommt als Dokumentarfilm daher, enthält Interviews mit Zeitzeugen und Archivmaterialien, hat einen Aufbau wie ein Dokumentarfilm. Unser Film ist nicht nur "based on a true story", sondern eine wahre Geschichte.

Marten Persiel: Ich würde es mal so sagen: Wenn man mal zwei Kreise zeichnen will – das eine ist der Spielfilm, das andere der Dokumentarfilm – dann gibt es ja immer eine Schnittmenge dazwischen und unser Film grenzt sicher eher an die Schnittmenge. Aber wenn man damit ein Problem hat, dann liegt es daran, dass man diese beiden Kreise vorher schon so wichtig fand.

Dann frage ich mal anders herum: Gab es Denis Paraceck und hat er all das erlebt, was er im Film erlebt?

Ronald Vietz: Ja, ich habe ihn mehrmals getroffen und interviewt. Ich hatte eine schwere Zeit mit ihm, weil er wirklich eine zerrissene Person war. Ich habe immer sehr gelitten nach so einem Tag mit ihm, weil er einfach so ein enormes Leben gehabt hat. Wir haben sogar viele Sachen, die er erlebt hat einfach rausgelassen, weil wir dachten, dass gehört nicht zu seinem Leben und zu unserem Film.

Marten Persiel: Es geht natürlich auch darum, eine Heldenstory zu bauen. Aber eine Heldenstory hat eben auch immer ein Ende – ein echtes Leben hat das aber nicht immer. Sein Leben ist ja weiter gegangen nach der DDR Zeit und da haben wir natürlich ausgewählt, was rein soll. Aber wir haben uns nichts aus den Fingern gesogen, wir haben immer alles recherchiert und dann stimmig eingepackt.

Wie ist es denn mit solchen Momenten wie Paracecks Tod in Afghanistan, den ja niemand miterlebt hat? Da schreiben Sie mit Ihrem Film, in dem sein Tod als Freitod inszeniert und als Animation ins Bild gesetzt wird, Geschichte, nicht nur gesellschaftliche, sondern auch die persönliche Geschichte. Damit übernehmen Sie eine große Verantwortung.

Marten Persiel: In diesem Fall fühlte sich das richtig an nach den Gesprächen, die Ronny mit Denis geführt hatte. Da hatte Denis über Situationen von der Front erzählt und auch über den enormen Druck gesprochen, unter dem er steht, wenn er wieder zurück in Afghanistan ist. Das macht schon Sinn. Aber die ganz genauen Umstände seines Todes – das stimmt – das ist natürlich eine Hochrechnung unsererseits.

Ein anderes problematisches Moment ist die Darstellung des Sportfunktionärs, der auch von einem Schauspieler gespielt wird und zwar auf eine Weise, die zeigt, dass er heute noch völlig ungebrochen zu dem steht, was er getan hat. Und diese Behauptung ist durch nichts gestützt.

Marten Persiel: Aber es geht doch eigentlich um etwas ganz anderes. An diesem Punkt, wo der Stasi-Mann vorkommt im Film, da hat er die Funktion, dass der Zuschauer gefühlsmäßig bei den Jungs bleibt. Die oberste Regel war immer, das Lebensgefühl der Jungs abzubilden. Wenn wir jetzt eingestiegen wären in diese ganze Stasi-Geschichte, dann würden wir uns davon entfernen. Das ist eine kategorische Entscheidung. Und wir stehen dahinter, dass eine emotionale Wahrheit den gleichen Stellenwert hat wie eine faktische, statistische Wahrheit. Nur so bekommt man es hin, dass das in 30 Sekunden so erzählt wird, wie es sein muss und gefühlsmäßig in den Fluss des ganzen Films passt.

Dass die faktische Wahrheit länger braucht, kann doch kein Grund sein, Zeitzeugenaussagen nach Belieben passgenau zu inszenieren!

Ronald Vietz: Ich könnte jemanden auch real interviewen und dann im Schnitt so zurecht schneiden, wie es mir passt. Als Dokumentarfilmer habe ich immer die Verantwortung für die Darstellung meiner Protagonisten.

Trotzdem macht es einen Unterschied, vorzugeben, man habe einen ganz "klassischen" Dokumentarfilm gedreht, wenn dies de facto nicht der Fall ist. Damit entziehen Sie sich der Diskussion über den Wahrheitsgehalt ihrer Bilder.

Marten Persiel: Wir wollen eben nicht das tun, worin wir Deutschen eh schon Weltmeister sind: alles im Kopf zu verarbeiten. Wir wollen, das die Leute reingehen, was fühlen, 'ne Träne im Augenwinkel haben und nach dem Kino noch gemeinsam einen Wein trinken gehen.

Ein Genre wie Dokumentarfilm fördert bestimmte Erwartungshaltungen. Auch wenn Realität niemals 1:1 im Film abgebildet werden kann, so erwartet man doch, dass immer versucht wird, sich dieser Idealvorstellung anzunähern, beziehungsweise dass die Stellen, an denen das nicht gelingen kann, kenntlich gemacht werden. Würde es den Film wirklich schwächer machen, wenn diese Diskussion zugelassen würde?

Marten Persiel: Wir haben natürlich das Publikum im Auge, den Effekt, den unser Film haben soll. Wenn wir vorher schon sagen würden: Leute, da kommt jetzt gleich ein Film, da ist das und das zu beachten, das bringt doch nichts.

Ronald Vietz: Die Magie ist dahin, wenn ich alle in meinen Zauberkasten gucken lasse. Wenn jemand sich dafür interessiert, dann findet er im Internet doch alles über den Entstehungsprozess. Warum müssen wir als Filmemacher das unserem Publikum denn schon vorerzählen? Es ist doch gar nicht wichtig.

Nachtrag

Das Interview fand am 22. Juni 2012 in Berlin statt. Eine spätere Anfrage an das Bundesverteidigungsministerium ergab, dass es unter den in Afghanistan gefallenen deutschen Soldaten keine Person namens Denis Paraceck gegeben hat. Ausserdem wurde festgestellt, dass ein großer Teil der Mitwirkenden des Films von Schauspielern und Schauspielerinnen verkörpert wird, auch Teile der vermeintlichen Archivaufnahmen und der Interviews wurden nachträglich inszeniert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Reenactment: Das Nachspielen von Szenen, die sich real abgespielt haben, aber nicht mit der Kamera dokumentiert werden konnten.