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Einführung | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Einführung

Klaus Farin

/ 3 Minuten zu lesen

Sie sind androgyne Wesen, "schwul" oder "weibisch", wie Goldkettchenträger gerne zu sagen pflegen. Sie hassen Gewalt jeglicher Art, lösen ihre Konflikte mit Reden und sind ein äußerst kultur- und bildungsbeflissenes Völkchen – keine andere Jugendkultur steht so sehr für alles, was Neonazis hassen, wie die "Schwarzen".

Besucher des jährlichen Wave-Gotik-Treffens in Leipzig. (© AP)

Obwohl die Gothicszene erst in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre richtig aufblühte, gehen ihre Wurzeln bis in die 70er-Jahre zurück. Fragt man Szeneangehörige nach den "Erfindern" ihres Stils, fällt vor allem der Name eines Musikers: Robert Smith, Kopf und Sänger der 1978/79 in Sussex/Großbritannien gegründeten Band The Cure.

Diese war allerdings alles andere als ein "Heilmittel" für die depressive Jugend. Ihre Konzerte wirkten wie ein "Marathon der Angstzustände", schrieb der Rolling Stone, "Selbstmord-Rock" assistierte Time Out, "manche Leute machen aus Elend einen Beruf", spottete der New Musical Express, als Smith wieder einmal von der Bühne herab sein Publikum mit den aufmunternden Worten empfing: "Du bestehst ja bloß aus drei kranken Löchern, du bist so 'was von scheißüberflüssig, du bist wie eine schleimige Schnecke am Boden, du bist zu nichts nutze und abscheulich." Dazu präsentierte sich Robert Smith in schwarzer Kleidung, mit schwarz gefärbten, hochtoupierten Haaren, die ihm bald nur noch in wilden Strähnen vom Kopf abstanden, das Gesicht totenblass, die Augen schwarz umrandet, die Lippen knallrot gefärbt. Ein androgynes, wildes, melancholisches Wesen, ein Alien von einer fremden Welt, aus einer anderen Zeit, war unter die Menschen gefallen.

Robert Smith, seine visuelle Präsentation, die düstere Atmosphäre seiner frühen Songs, sein auch in Interviews und diversen Ausrastern hervorbrechender Weltschmerz, symbolisiert bis heute den idealtypischen Gruftie schlechthin. Allerdings spitzte Robert Smith nur zu, was bereits im Punk jener Tage angelegt war und auch andere Bands und manche Straßenpunks ähnlich darboten. So wirbelte die dämonische Punk-Prinzessin Susan Dallion alias Siouxsie Sioux als Frontfrau der Banshees (Todesfeen) schon 1976 mit schwarz umränderten Augen im blassen Gesicht durch die Londoner Klubszene - wie viele Punks der ersten Generation sah sie die Farbe Schwarz als realistisches Abbild der Gesellschaft. Siouxsie gab mit ihrer Musik und ihren Texten nicht nur dem Punk und New Wave jener Tage eine deutlich morbidere, introvertiertere Richtung, sie popularisierte auch die Beschäftigung mit okkulten Symbolen und entsprechenden Themen.

Es waren vor allem Kinder aus den "besseren Familien", die zunächst im Punk die Möglichkeit sahen, dem gesicherten, aber stinklangweiligen Alltag ihres Lebens und der Gleichgültigkeit ihrer Eltern zu entfliehen, aber bald merkten, dass sie mit der Extrovertiertheit der rüden Straßenkinder nicht klarkamen, und sich so nach und nach zurückzogen und ihre eigene Szene aufbauten; mit Bands, die nicht nur die Schlechtigkeit der Welt geißelten, sondern auch die schwarzen Seiten in einem selbst anklingen ließen, Bands, bei denen es sich lohnte, zweimal ins Textheft zu sehen: Siouxsie & the Banshees, The Cure, Christian Death, Depeche Mode, Bauhaus, Joy Division, Fields of the Nephilim, Sisters of Mercy.

Die Punks hatten sich seit Ende der 70er-Jahre eine der bis dahin kreativsten und vielfältigsten Subkulturen aufgebaut - mit eigenen Bands, Kassettenvertrieben und Plattenlabels, mit Klubs und Jugendzentren, Fanzines und Infoläden - und sich gleichzeitig vom etablierten Kulturbetrieb radikal abgenabelt. Die bildungsbürgerlich aufgeschlosseneren Grufties dagegen standen zu keiner Zeit in Fundamentalopposition zur Mehrheitskultur. Ihre Rebellion war keine sozial begründete, ihre Provokation keine politische, sondern eine ästhetische. So suchten und entdeckten sie auch weiterhin in der etablierten Kultur Parallelen oder gar Vorfahren (zu) ihrer eigenen Kultur. Dabei spielte die Literatur eine besondere Rolle, bot sie den introvertierten Schwarzen doch als einziges Medium nicht nur die Möglichkeit des Rückzugs vom Alltagslärm der Gesellschaft, sondern auch Anlässe und Anregungen für die Beschäftigung mit grundlegenden Fragen des menschlichen Seins. Autoren wie Hermann Hesse ("Siddharta"), Friedrich Nietzsche ("Also sprach Zarathustra"), H. P. Lovecraft, der misanthrope Schöpfer düsterer Horrorgeschichten, Feodor Dostojewskij und Nikolai Gogol, die gemütsschweren Russen, die in ihren Werken immer wieder das menschliche Seelen- und Triebleben untersuchten, Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus und die schwarzen Romantiker Novalis ("Ariel") und Charles Baudelaire ("Die Blumen des Bösen") sowie Mary Shelley ("Frankenstein"), Bram Stoker ("Dracula"), Sheridan le Fanu ("Carmilla"), Anne Rice ("Interview mit einem Vampir") und andere Schöpfer von Gothic Novels und Vampirgestalten bevölkern seitdem die Bücherregale der Schwarzen. Neben Romanen und Lyrik findet sich auch Sachliteratur, die immer wieder um zentrale Themen kreist: der Tod und mögliche Welten und Reinkarnationen danach, mittelalterliche und (kirchenkritische) Religionsgeschichte(n), nordische Mythen, Runenkunde und Esoterik, Magie und (Neo-)Satanismus (Aleister Crowley, Anton Szandor La Vey).

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.