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Geschlossene Gesellschaft? Wikipedia zwischen Freiheit und Kontrolle

Christian Pentzold

/ 13 Minuten zu lesen

Die Mitarbeit bei Wikipedia schwankt zwischen dem Anspruch einer freiwilligen kooperativen Zusammenarbeit und dem Bedarf, diese Inhalte durch Regeln und technische Mechanismen zu schützen. Daraus ergeben sich die zentralen Konflikte bei der Organisation von Gemeingütern.

Wie frei ist die Wikipedia? (CC, Alexandre Dulaunoy - flickr.com/photos/adulau/) Lizenz: cc by-sa/2.0/de

Wer die Startseite der Online-Enzyklopädie Wikipedia besucht, wird willkommen geheißen im Externer Link: Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten in über 270 Sprachen, zu dem du mit deinem Wissen beitragen kannst. Wikipedia ist frei, im Prinzip zumindest. Ihre Inhalte sind kostenlos aufrufbar, die Texte, Abbildungen und Fotos können unter Beachtung einiger lizenzrechtlicher Vorgaben kopiert und weiterverwendet werden und jeder Interessierte kann an dem Vorhaben selbst mitarbeiten.

Für Wikipedia ist charakteristisch, dass sie zugleich eine freie netzbasierte Ressource enzyklopädischer Informationen und ein freies Projekt zum Aufbau und zur Pflege dieser Sammlung ist. "Wikipedia is both a community and an encyclopedia", wie es der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Joseph Reagle auf den Punkt bringt. Um aber die Aufgabe zu bewältigen, Produkte von enzyklopädischem Format bereitzustellen, muss das Zusammenwirken organisiert werden. Frei mitzumachen heißt folglich nicht, dass die Art und Weise des Tuns völlig ins Belieben der Teilnehmer gestellt sind und sie autonom mitmachen können. Vielmehr werden die Autoren konfrontiert mit einer breiten Palette an Richtlinien für konstruktive Mitarbeit und verbindliches Miteinander, an Maßstäben für enzyklopädische Beiträge sowie an Formatierungshinweisen und -vorlagen für standardisierte Inhalte. Das heißt: Dem Beteiligen und den hervorgebrachten Resultaten werden verschiedentlich Chancen eröffnet und zugleich Beschränkungen auferlegt. Lob gibt es dabei im Falle, dass Mitmachen und seine Ergebnisse für gut befunden werden; Sanktionen bei negativer Beurteilung. Entsprechend werden einerseits Bilder und Artikel als lesenswerte bzw. exzellente Beiträge prämiert oder Externer Link: Autoren erhalten Auszeichnungen und werden in gehobene Positionen gewählt, wie die der Administratoren, Bürokraten, Checkuser, Oversights oder Stewards. Andererseits können Beiträge ebenso gelöscht und Autoren gesperrt werden.

Die Mitarbeit bei Wikipedia schwankt folglich zwischen der Erwartung und dem Anspruch eines kooperativen netzbasierten Zusammenwirkens, in dem sich die freiwilligen Teilnehmer frei entsprechend ihrer Interessen, Kenntnisse und Wünsche kreativ betätigen können, auf der einen Seite, und Grenzen dieses erwünschten freien Tuns auf der anderen Seite. In der öffentlichen Berichterstattung wird diese Spannung von Freiheit und Kontrolle gern mit dem Vermerk aufgegriffen, Wikipedia sei eine geschlossene Gesellschaft vergleichbar mit einem elitären oder zumindest eigenbrötlerischen Klub. Im Projekt wiederum äußern manche Teilnehmer ihre Enttäuschung über reglementierende Umgangsweisen, manche wittern geheime Absprachen oder steigen aus.

Wikipedia als Gemeingut

Um die Möglichkeitsbedingungen für die Wikipedia-typische Projektorganisation zwischen selbstbestimmtem Mitmachen und der ebenso selbst zu erbringenden Abstimmung dieser Tätigkeiten zu verstehen, kann auf das Bewirtschaften von Gemeingütern geschaut werden.

Kurz gesagt sind Gemeingüter (bzw. Allmende oder Commons) in ihrer ursprünglichen Form Ressourcen wie Viehweiden oder Wasserreservoirs, die idealerweise von einem Kreis an dazu befugten Allmendegenossen kollektiv erschlossen und genutzt werden. Gedacht ist hier insbesondere an natürliche und damit zumeist knappe und verbrauchbare Ressourcen, bei denen der Zugriff eines Teilnehmers folglich mit anderen Nutzungswünschen rivalisiert. Zu diesen möglichen Aneignungsproblemen kommen noch Bereitstellungsprobleme, wenn die Gemeingüter erst mit aktivem Zutun bereit stehen. Damit die Nutzung von Gemeingütern nachhaltig erfolgreich ist, haben Kollektive entsprechende Managementformen entwickelt. In einer Reihe von Studien zur genossenschaftlichen Verwaltung von Gemeingütern konnte die US-amerikanische Ökonomin Elinor Ostrom zeigen, wie es erfolgreichen Regimen gelingt, die Bewirtschaftung von Gemeingütern dauerhaft verbindlich sicher zu stellen. Im Kern bestehen die Lösungen darin, das sich die Gemeinschaft der am Gemeingut beteiligten Akteure freiwillig darauf einigt, einige ihrer individuellen Freiheiten zu Gunsten des kollektiven Nutzens zu begrenzen, und zur Einhaltung dieser Selbstverpflichtung Maßnahmen der lokalen Selbstorganisation entwickelt und durchsetzt.

Für die Beschäftigung mit der Organisation von Wikipedia ist das Konzept der Gemeingüter und der von Ostrom festgestellten Praxis ihrer Organisation in zweierlei Hinsichten aufschlussreich: So können netzbasierte Informationsressourcen wie Wikipedia selbst als Gemeingüter verstanden werden. Zudem finden sich in Wikipedia Bedingungen und Prozesse der Projektorganisation, die in weiten Teilen analog zu den von Ostrom herausgearbeiteten Merkmalen erfolgreicher Gemeingüterregime sind.

Wikipedia als Gemeingut umfasst im Grunde drei Ebenen, die gemeinschaftlich gebraucht werden können: Erstens die technische Infrastruktur aus Hard- und Software, was bei Wikipedia vordringlich die vom Projekt genutzte MediaWiki-Software ist. Zweitens die Darstellungsformate von Informationen, wie sie in Wikipedia in Form von Artikeln, Kategorien und Bildersammlungen zugänglich sind. Drittens die Ideen selber, die mittels dieser Formate aufbereitet, präsentiert und erschlossen werden.

Die Aneignung der Wikipedia-Gemeingüter ist besonders für die erste und die zweite Ebene geregelt, das heißt für die Mediawiki-Software und die Weisen, wie Informationen in Wikipedia aufbereitet sind, ob als Text, Bild, Ton oder ähnlichem mehr. Anders als bei knappen stofflichen Gütern ist die Aneignung der Wikipedia-Gemeingüter nicht-rivalisierend; sie können in ihrer digitalen Form ohne Verluste vervielfältigt werden ohne sich aufzubrauchen. Entsprechend sind die freien Lizenzen der GNU General Public License für die Software und der Creative Commons-Lizenz für die Texte und die anderen medialen Formate darauf ausgerichtet, die Nutzung offen und schwach reglementiert zu gestalten. Die dritte Ebene ist in diesem Sinn insofern juristisch geregelt, dass Wikipedia nur Informationen verfügbar machen will, die dazu urheberrechtlich bestimmt sind, auch wenn es praktisch zu zahlreichen Urheberrechtsverstößen seitens der Autoren kommt, wenn sie geschütztes Material in Wikipedia einpflegen.

Entgegen dieser Freiheiten bei der Aneignung der beiden ersten Ebenen der Wikipedia-Gemeingüter ist die Bereitstellung der Gemeingüter auf allen drei Ebenen – also dem Entwickeln der Software, dem Schaffen von Artikeln, Einstellen von Bildern etc. als auch dem Beitragen von Informationen – vergleichsweise stark kontrolliert. Zum einen sind die Wikipedianer als Staatsbürger an die geltenden Gesetze gebunden, beispielsweise hinsichtlich der Einhaltung urheberrechtlichen Schutzes, der Meinungsfreiheit und ihrer Grenzen, dem Persönlichkeitsrecht oder dem Jugendschutz Zum anderen verwalten sie zugleich ihr Projekt selbst. Die hierzu im geltenden juristischen Rahmen aufgestellten und überwachten Maßnahmen der Selbstorganisation entsprechen den von Ostrom genannten Erfolgsprinzipien des Managements von Gemeingütern:

  1. Nicht jeder kann alles beitragen, sondern dem Mitmachen sind technische, formale und inhaltliche Grenzen gesetzt. So kann beispielsweise ein neu hinzukommender Nutzer nicht auf Editierfunktionen zugreifen, die für Administratoren reserviert sind, und Artikel müssen minimalen Anforderungen genügen, sowohl was das Thema als auch die Art der Darstellung angeht, um nicht umgehend gelöscht zu werden.

  2. Die Regeln, mit denen die Bereitstellung geordnet wird, entstehen oft als mehr oder weniger konsensfähige Lösungen von Problemen des Zusammenarbeitens bzw. werden sie im Blick auf bestehende, gewohnheitsmäßig ausgeübte Praktiken entworfen. Auf diese Weise sind Regeln und die Umstände, auf die sie sich beziehen, weitgehend kongruent.

  3. Solcherart Regeln sowie die Durchsetzung dieser Regeln wird von den Nutzern selbst und nicht von externen Instanzen bewerkstelligt. In der Sprache von Wikipedia heißt dies, die Projektorganisation ebenso wie die Inhalte sind 'nutzergeneriert'. Zum Beispiel sind, dem Wiki-Prinzip gemäß, auch die Regeln der Wikipedia grundsätzlich von jedem Interessierten zu bearbeiten. Das Regelwerk besteht somit nicht aus wortwörtlich festgelegten Gesetzestexten, sondern Wortlaut und Sinn von Regeln werden diskutiert und verändert.

  4. Das Recht und die Verantwortung der Nutzer, die Bereitstellung der Software und der Informationen in ihrer jeweiligen Form selbst zu regeln und zu kontrollieren, werden von der Wikimedia Foundation als Betreiberin der Server und Besitzerin der Markenrechte an Wikipedia akzeptiert. Nur in Ausnahmefällen greifen bezahlte Mitarbeiter in die Geschicke des Projekts ein.

  5. Um Regeln effektiv durchzusetzen, muss deren Einhalten überwachbar sein. Auch zu diesem Zweck wird jede über die MediaWiki-Software getätigte Aktion dokumentiert, archiviert und kann über verschiedene Werkzeuge beobachtet und gegebenenfalls korrigiert werden.

  6. Die andere Bedingung, Regeln effektiv durchzusetzen, ist die Verfügbarkeit effektiver Sanktionsmaßnahmen, die entsprechend der unterschiedlichen Schwere des Vergehens variabel angewendet werden können. Auf diese Weise kennt Wikipedia mehrere Stufen, als ungeeignet bewertete Inhalte bzw. als destruktiv eingestufte Nutzer auszuschließen, was im konkreten Fall heißt zu löschen oder zu sperren.

  7. Um Unstimmigkeiten zwischen den Mitarbeitenden beizulegen, wurden Konfliktlösungsmechanismen für unterschiedlich gravierende Meinungsverschiedenheiten entworfen. Geraten Wikipedianer aneinander, können sie etwa die Dritte Meinung eines anderen Nutzers einholen, einen Vermittlungsausschuss oder schließlich ein Schiedsgericht anrufen.

  8. Weil das Projekt in seinen einzelnen Sprachversionen und diese mit steigenden Nutzerzahlen wiederum selbst zunehmend schwerer als Ganzes zu organisieren sind, haben sich projektintern kleinere Organisationseinheiten zusammengefunden. Damit ist auch Ostroms achtes Prinzip erfüllt, wonach das Management von Gemeingütern in verschachtelten Instanzen vonstattengeht. Über ihre allgemeine Mitarbeit an Wikipedia hinaus werden engagierte Nutzer auch Teilnehmer in Portale und Projekten, die wiederum eigene Standards und Richtlinien aufstellen und deren Einhalten überwachen.

Wikipedia schützen

Folgt man den Beschreibungen und Erklärungen zur Organisation der Wikipedia, dann gewinnt man den Eindruck, die Aneignung und Bereitstellung der Gemeingüter funktioniert erfolgreich und wohl geordnet. Vollständiger wird dieses Bild mit empirischen Daten, wie Regeln ausgestaltet werden und welche Konsequenzen ihre Durchsetzung hat.

Eine einschneidende Begrenzung des Bereitstellens ist der Externer Link: Schutz von Seiten. Wikipedia kennt zwei grundlegende Formen des Seitenschutzes, um Editiermöglichkeiten zu begrenzen: Halbgesperrte Seiten können nur von Nutzern editiert werden, die mindestens vier Tage mit einem Benutzerkonto angemeldet sind. Bei vollgesperrten Seiten beschränkt sich der Zugriff auf Administratoren. In jedem Fall sind die Seiten noch sichtbar und können gelesen werden. Beide Arten des Schutzes werden durch Administratoren gesetzt und aufgehoben. Die Schutzdauer kann von wenigen Stunden bis zu einem dauerhaften Aufheben des allgemeinen Schreibzugangs reichen. Nutzer, die keine Administratoren sind, müssen den Schutz für eine Seite bzw. dessen Aufhebung beantragen. Seiten werden dann geschützt, wenn sie häufig Ziel von Vandalismus sind, etwa im Bereich tagesaktueller Ereignisse, Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses, kontroverser Themen oder wenn sie Gegenstand eines Editierkonflikts zwischen Nutzern sind. Zudem gelten Sperren für Seiten mit wichtigen Informationen. Entsprechend sind weder die Startseite noch die Seiten, auf denen die Regeln erklärt sind, völlig frei zu bearbeiten. Damit ist die prinzipielle Idee, Wikipedia sei ‚the free encyclopedia anyone can edit’ in ihrer Absolutheit praktisch aufgehoben, da nicht alle Nutzer die gleichen Freiheiten im Bearbeiten von Seiten haben.

In mehreren Studien wurde die Entstehungsgeschichte der entsprechenden Regel in der englischsprachigen Wikipedia von ihrer Initiierung am 7. Dezember 2003 bis zum 3. Januar 2008 analysiert. Ihre Ergebnisse lassen sich für diesen Zeitraum in der Tendenz auch auf die deutschsprachige Ausgabe übertragen.

Der Wortlaut der englischsprachigen Regel wurde im Laufe der Zeit vielfach umgeschrieben, in Teilen erweitert oder gekürzt und so, gemäß den Prinzipien von Ostrom, mit den Entwicklungen des Projekts kurzgeschlossen. In dem untersuchten Zeitraum wurde sie durch 864 Eingriffe verändert. 458 Nutzer waren an diesen Edits beteiligt. Im Schnitt kommt damit jeder der Regelschreiber also auf nicht mehr als zwei Eingriffe an dem Regeltext. Der aktivste Autor zählt 38 Editierungen. Fragt man weiter, wie allgemein der Konsens über den Inhalt und die Form der Regeln und wie groß das Engagement der Nutzer im Editierprozess sind, dann zeigt sich, dass die Regel in bedeutendem Maß von Mitarbeitern einer Nutzergruppe geschrieben wurde:

So waren 154 der Autoren an der Regel Administratoren, die insgesamt 366 der 864 Änderungen vornahmen. Zieht man kleinere Verbesserungen an Grammatik und Rechtschreibung sowie Vandalismus und dessen Bearbeitung ab, dann bleiben 187 kritische Änderungen. Von diesen gehen sogar 103 auf das Konto der Administratoren. Während also im Januar 2008 nur rund 1.500 Nutzer, d.h. 0,44 Prozent der aktiven Wikipedianer in der englischsprachigen Version, den Status eines Administrators inne hatten, steuerte diese zahlen- und verhältnismäßig kleine Gruppe zirka zwei Drittel aller wesentlichen Edits zur Regel bei.

Zum Gebrauch der Regel ist zu sagen, dass bis 2008 zunehmend mehr Artikel geschützt wurden. Waren zu Beginn 2006 nur 0,05 Prozent aller Artikel geschützt, waren es 2008 schon 0,4 Prozent. Anders gesagt: Von den rund 2 Millionen englischsprachigen Artikeln im Jahr 2008 waren rund 16.000 schon einmal gesperrt. Pro Tag wurde im Schnitt 44mal geschützt, womit bis 2008 insgesamt mehr als 48.000 entsprechende Eingriffe vorgenommen wurden. Die Hälfte der Seitenschutze dauert weniger als 16 Stunden. Für drei Viertel der geschützten Seiten wurde innerhalb von zwei Wochen der Schutz wieder aufgehoben. Von den etwa 1.500 Administratoren haben rund 85 Prozent bereits von ihrem Recht, Seiten zu schützen, Gebrauch gemacht, jeder von ihnen durchschnittlich 95mal. Indessen nimmt in der deutschsprachigen Wikipedia seit 2008 sowohl die absolute Zahl der geschützten Seiten als auch ihre relative Zahl kontinuierlich ab. In der englischsprachigen Version ist zwar die absolute Zahl sowohl der halb- wie der vollgesperrten Seiten gestiegen, doch auch hier sinkt im Vergleich zum Artikelwachstum ihr prozentualer Anteil.

Manche große Sprachversionen zeigen ebenfalls in der Tendenz eine Externer Link: sinkende Zahl geschützter Seiten. Im Juli 2012 enthielt die Externer Link: deutschsprachige Version 151 vollgesperrte Artikel (d.h. 0,0106% aller Artikel), darunter die Einträge zur Neuen Akropolis und zum Scharia-Islam, aber auch zu Friedrich Schiller und zur Blue-Ray-Disc. Etwa 2.300 Artikel waren in der deutschsprachigen Version zumindest zeitweise halbgesperrt (was 0,1593% aller Artikel entspricht).

Die allgemeine Zahl an geschützten Seiten ist verhältnismäßig gering, doch sind von den Schutzmaßnahmen insbesondere die Seiten mit hohem Aktivitätsaufkommen betroffen, weil sie entweder vitale Aspekte des Miteinanders, bekannte Persönlichkeiten, wichtige gesellschaftliche Themen oder tagesaktuelle Brennpunkte behandeln. Entsprechend entfiel im untersuchten Zeitraum mehr als ein Siebentel aller gemachten Edits in der englischsprachigen Wikipedia auf mehr oder minder lang geschützte Seiten. Zugleich bedeutet die nachlassende Zahl an geschützten Seiten nicht, dass die Inhalte von Wikipedia weniger intensiv beobachtet und kontrolliert würden. Vielmehr ist die Sperre von Seiten durch den Ausschluss potentieller Mitarbeiter ein Teil eines wachsenden Puzzles an Maßnahmen, die Inhalte von Wikipedia zu schützen. Wichtige Instrumente der Eingangskontrolle von Beiträgen sind überdies beispielsweise die persönlich zusammengestellten Beobachtungslisten, in denen Nutzer für sie wichtige Wiki-Seiten listen und so über jede Änderung informiert sind. Sortierte Übersichten finden sich auch zu Beiträgen von unangemeldeten Nutzern und zu Seiten, die wegen verschiedener inhaltlicher oder formaler Probleme markiert wurden.

Eine neue Stufe der Wartung wurde 2008 zudem mit dem Installieren des technischen Features zum Sichten von Versionen und, damit verbunden, dem Aufstellen entsprechender Prozeduren und Zuständigkeiten erreicht. Damit werden die Edits unangemeldeter und neu angemeldeter Benutzer nicht mehr automatisch angezeigt, sondern müssen erst von einem Wikipedianer gesichtet und so Externer Link: für alle Leser freigeschaltet werden.

Nicht unterschätzt werden darf zudem die Rolle von Bearbeitungswerkzeugen und technischen Hilfsmitteln, die insbesondere von den hochaktiven Autoren eingesetzt werden, um zu erledigende Aufgaben anzuzeigen, ihre Arbeit zu unterstützen und zu organisieren. Beliebt beim Umgang mit Vandalismus etwa ist das Tool Externer Link: Huggle, das eine eigene Oberfläche zum fokussierten Editieren anbietet, über die Nutzer beispielsweise vandalismusverdächtige Änderungen sichten und über wenige Befehle ändern können.

Überblickt man die zahlenmäßigen Befunde zur aktiven Beteiligung an der Entstehung der englischsprachigen Richtlinie für geschützte Seiten, so sind, anders als von Ostrom vorgestellt, nicht alle von der Regel betroffene Nutzer zugleich auch in die Aufstellung und Durchsetzung der Regel involviert. Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine vollständige Beteiligung aller aktiven Mitarbeiter an der Gestaltung der Regeln nicht praktikabel ist, zeigt sich bei Wikipedia keinerlei proportionale Arbeitsteilung, welche die zahlenmäßigen Verhältnisse der Gruppen an Wikipedianern abbildet.

Stattdessen bestätigt sich ein auch für andere Sprachversionen und für andere Arbeitsbereiche in Wikipedia typisches Bild: Einige (relativ zur Zahl der aktiven Autoren wenige) Nutzer spezialisieren sich auf das Organisieren des Zusammenarbeitens, das Gros bleibt untätig. Über ihr Schreiben von Artikeln hinaus oder auch anstatt des Schreibens von Einträgen übernehmen sie die Wartung der Gemeingüter, was oftmals damit einhergeht, dass sie früher oder später auch in einen anderen Nutzerrang, etwa den der Administratoren, Checkuser oder Oversights, aufgenommen werden. Als Administratoren ist ihre Funktion bei der Überwachung und Kontrolle der Gemeingutproduktion durch spezielle Regeln festgelegt und sie sind mit entsprechenden Zugangsrechten und Softwarewerkzeugen ausgerüstet. Umgekehrt sind die Administratoren wiederum sowohl in der Entstehung der für sie relevanten Regeln als auch in der Schaffung der entsprechend von ihnen gebrauchten Werkzeuge anteilsmäßig stark aktiv.

Diese Schlüsselposition beim Schaffen von Kontrollmöglichkeiten, bei der Abwägung von Kontrollchancen und dem Durchsetzen von Kontrolle wird von Kritikern des Projekts Wikipedia als Beleg für die Herrschaft einer kleinen Machtelite gedeutet. In diesem Sinn verschleiere die Rhetorik von Freiheit und Offenheit nur die realen Machtverhältnisse, in denen die Verfügungsgewalt bei einer bürokratischen Clique läge. Zugleich ist aber auch zu fragen, ob die praktische Konzentration an organisatorischen Befugnissen bewusst und strategisch angestrebt wurde, oder ob sie sich auch deshalb eingestellt hat, weil die Autoren die Freiheit haben, ihren Interessen gemäß manche Dinge intensiver zu betreiben als andere. So gesehen hätten sich im Zuge des Ausbaus der organisatorischen Tätigkeiten des Managements Gemeinguts Wikipedia allmählich entsprechende Nutzerrollen ausgebildet, die von denen eingenommen werden, die sich freiwillig auch gern an Kontrolle und Koordination beteiligen.

Fazit: Geschützte Freiheiten?

Der Schutz von Seiten ist nur eine, wenn auch eine einschneidende Begrenzung der Freiheiten, in Wikipedia aktiv zu werden. Betrachtet man die Kontrollmaßnahmen in ihrer Gesamtheit, dann fällt es zunehmend schwer zu sagen, was das eigentlich Besondere ist: Dass Wikipedia trotz oder gerade wegen der vielfältigen Versuche funktioniert, die Aktivitäten der Nutzer und die Ergebnisse dieser Aktionen aufzuzeichnen, zu beobachten und mit entsprechend passenden Aktionen zu beantworten. Während auf der einen Seite immer neue Regeln hinzukommen, bestehende Regeln weiter differenziert werden und Anleitungen, Beschreibungen, Vorlagen und Werkzeuge ein Eigenleben zu führen scheinen, wird auf der anderen Seite vor Regelhuberei und blindem Gehorsam gegenüber Anweisungen gewarnt. Allen angesichts des Dickichts an Vorschriften, Richtlinien und Befugnissen eingeschüchterten Autoren wird zur Beruhigung geraten: Externer Link: Ignoriere alle Regeln.

Sich selbst und andere zu kontrollieren, gehört zum elementaren Inventar an Nutzungsweisen eines jeden engagierten Wikipedianers über alle Sprachversionen hinweg. Der erste Blick vieler aktiver Nutzer geht zur Beobachtungsseite, auf der Änderungen an den Seiten anzeigt werden, für die ein Mitarbeiter sich besonders interessiert. Zugleich beachtet ein Autor selten die Aktivitäten und Arbeitsergebnisse andere Nutzer, ohne sie beständig zu bewerten, ob sie konstruktiv oder destruktiv, ob sie zu löschen oder zu loben sind. So gesehen besteht das freie Projekt Wikipedia schon immer (und vielleicht gerade deshalb) als geregeltes Zusammenarbeiten von Nutzern, die sich und andere und das Produkt ihrer Arbeit (freiwillig) kontrollieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die grundlegenden Darstellung hier ist das Buch von Elinor Ostrom (1999): Die Verfassung der Allmende. Tübingen: Mohr. Einführend zur Debatte um Gemeingüter vgl. auch Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 28-30/2011. Den Blick speziell auf Informationen als Gemeingüter richten die Bücher von Elinor Ostrom & Charlotte Hess (Hrsg.)(2011): Understanding Knowledge as Commons. Cambridge/MA: The MIT Press und von James Boyle (2009): The Public Domain. New Haven/CT: Yale University Press.

  2. Ostroms insgesamt acht Prinzipien wurden in diesen Studien für Wikipedia nachgewiesen: Andrea Forte, Vanesa Larco & Amy Bruckman (2009): Decentralization in Wikipedia Governance. In: Journal of Management Information Systems 26(1); Fernanda B. Viégas, Martin Wattenberg & Matthew M. McKeon (2007): The Hidden Order of Wikipedia. In: Lecture Notes in Computer Science 4564/2007 und Christian Pentzold (2011): Imagining the Wikipedia Community. In: New Media & Society, 13(5), 704-721.

  3. Die Regel ist unter http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Protection_policy nachzulesen (letzter Zugriff: 12.03.2012, 13:22 MEZ). Die Daten gehen zurück auf Studien von Max Loubser (Oxford Internet Institute, University of Oxford) und Christian Pentzold (Institut für Medienforschung, Technische Universität Chemnitz), deren Ergebnisse im Vortrag "Rule Dynamics and Rule Effects in the Commons-based Peer Production" auf der 5th European Consortium for Political Research (ECPR) General Conference in Potsdam vom 10. bis 12.09.2009 vorgestellt wurden.

  4. Diese Automatisierung des Editierens wird diskutiert bei Sabine Niederer/José van Dijk: Wisdom of the Crowd or Technicity of Content? Wikipedia as a Social Technical System, in: New Media & Society 7 (2010)

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Christian Pentzold für bpb.de

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ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienforschung, Technische Universität Chemnitz und er ist assoziiertes Mitglied des Humboldt Instituts für Internet & Gesellschaft, Berlin. In seiner Arbeit fragt er nach den Möglichkeiten, wie Internetnutzer in die Lage kommen, gemeinschaftlich produktiv zu sein. Daneben forscht er zur Erinnerungsarbeit in neuen Medien und zur Governance in digital vernetzten Umgebungen. Externer Link: christianpentzold.de