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Wikipedia und Geschichtslernen - Ein Problem?

Jan Hodel

/ 12 Minuten zu lesen

Gerade bei geschichtlichen Themen können sich Probleme durch die Art der Informationen ergeben, die Wikipedia bietet: Sie konzentriert sich auf Faktenaussagen, überrepräsentiert Ereignisgeschichte und in ihrem Anspruch auf Vollständigkeit vernachlässigt sie Partikularität und Perspektivität von Geschichte. Wie kann die Geschichtsdidaktik mit ihr umgehen?

Geschichte ist mehr als eine Aufzählung von Ereignissen (© Bundesarchiv, Bild 146-1972-062-01 / Fotograf: o.A.)

Kann man, darf man, soll man Wikipedia vertrauen, wenn es um Geschichte geht? Im Rahmen meiner Forschungsarbeiten habe ich vor einiger Zeit eine 18-jährige Schülerin kurz vor dem Abitur - nennen wir sie Maria - befragt, mit welchen Hilfsmitteln sie sich bevorzugt historische Informationen beschafft. Wie erwartet nennt Maria Wikipedia, versieht die Aussage allerdings mit einer Einschränkung: Für Vorträge im Geschichtsunterricht würde sie noch andere Informationsquellen angeben. "Denn mein Geschichtslehrer, der hasst sowieso Wikipedia", sagt Maria und kann diese Abneigung sogar bis zu einem gewissen Grad verstehen, da jeder und jede die Inhalte der Wikipedia bearbeiten könne.

Gerade bei geschichtlichen Themen, so Maria, sei dies wegen der "verschiedene[n] Meinungen über gewisse Themen" mitunter problematisch. Diese Vorbehalte hindern sie jedoch nicht an der Nutzung: "Es ist halt einfach der einfachste Weg…Klar passt man manchmal auf [und] geht dann eben auch auf andere Seiten um genau zu schauen". Wie viele ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler hat Maria gelernt, auf pragmatische Weise mit den Unwägbarkeiten der Informationsbeschaffung im Internet und insbesondere in der Wikipedia umzugehen. Zur Absicherung vergleicht sie die vorgefundene Information mit ähnlichen Aussagen aus anderer Quelle. Das schließt Irrtümer nicht vollständig aus, erfüllt jedoch in der Regel den konkreten Alltagsnutzen.

Kritische Leserinnen und Leser mögen nun – nicht ganz unberechtigt – einwenden, dass keineswegs sicher sei, ob Maria (oder andere Schülerinnen und Schüler) wirklich solcherlei Vergleiche anstellen oder dies nur vorgeben zu tun. Es bleibt außerdem unklar, unter welchen Bedingungen sie dies tun und mit welchen Kriterien sie dabei zu welchen Ergebnissen gelangen. Allzu oft dürfte Maria wohl keine Vergleiche anstellen, schließt sie doch ihre Ausführungen zur Wikipedia mit der Aussage: "Ich habe noch nie, also ich habe noch nie irgendwie [...] bei Wikipedia das Gefühl gehabt [.], das sei Mist, was die da geschrieben haben." Auch hier ließe sich einwerfen, dass Maria wohl kaum ausreichend qualifiziert sei, um abschließend die inhaltliche Qualität von Wikipedia-Beiträgen zu beurteilen. Allerdings ist sie wohl in der Lage, zu beurteilen, ob die Wikipedia für ihre Bedürfnisse Informationen in ausreichender Qualität bereitstellt.

Denn die Online-Enzyklopädie ist hilfreich, wenn man kurz etwas nachschlagen, sich vergewissern oder sich einen ersten Überblick verschaffen will. Im Alltag – gerade auch für schulische Zwecke – bewährt sich ihre Nutzung. Die Erfahrung von Maria lässt sich in dieser Hinsicht verallgemeinern: Nur ganz selten gelangen die Schülerinnen und Schüler zu Informationen, die sich bei ihrer Verwendung im und für den Unterricht als falsch oder unbrauchbar erweisen. Warum soll man die Wikipedia in Frage stellen, wo sie sich im Alltagsgebrauch doch bewährt? Gerade darin liegt das eigentliche Problem.

"Das hat Wikipedia mir aber gesagt". Diese Eltern-Postkarte betrachtet auf witzige Weise eine verbreitete Ansicht: "Das stand in der Wikipedia - also muss es auch stimmen" (Carolyn Sewell www.flickr.com/photos/pedestriantype/) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Denn aus geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive weist die Wikipedia doch einige problematische Aspekte auf. Dabei ist die anzutreffende Qualität der Einträge im Sinne ihrer Richtigkeit und Verwendbarkeit nur der kleinere, aber offensichtlichere Teil der Problemlage. Dieser besteht vor allem in der Zumutung, dass die Nutzerinnen und Nutzer prüfen müssen, ob sich die Inhalte der Wikipedia zur Verwendung eignen. Problematischer einzuschätzen sind die grundsätzlichen Auswirkungen auf den Umgang mit Geschichte, die der Popularität der Wikipedia und ihren spezifischen Eigenschaften als endloser Mitmach-Hypertext entspringen. Diese Effekte drohen einerseits die Errungenschaften geschichtswissenschaftlicher Forschungsbemühungen und die Ergebnisse geschichtsdidaktischer Erwägungen der letzten Jahrzehnte zu unterlaufen: Aspekte der Alltags- oder Geschlechtergeschichte kommen gegenüber ereignisgeschichtlichen Ansätzen zu kurz. Und die sachlich-objektive Sprache lässt Geschichte als Anhäufung von Fakten-Aussagen ("wie es wirklich war") statt als Konstrukt gegenwärtiger Erkenntnisinteressen erscheinen. Andererseits ermöglichen sie aber auch neue und wenig vertraute Formen geschichtlicher Erkenntnis, die hinsichtlich ihrer Chancen und Risiken nur schwerlich einzuschätzen sind. Ob Wikipedia für das Geschichtslernen als Segen oder als Fluch zu betrachten sei, beruht auf der Fähigkeit der Nutzerinnen und Nutzer, mit ihren Eigenschaften und Eigenheiten angemessen umzugehen.

Wikipedia und die "Do it yourself”-Ideologie

Die Beurteilung von Wikipedia-Artikeln ist zugleich einfach und schwierig. Zwar ist dank der Archivierung älterer Versionen und der Diskussionen rund um den dargestellten Sachverhalt die Entstehung jedes Artikels für alle Interessierten transparent und nachvollziehbar. Doch die Offenheit zu Mitwirkung für alle Interessierte führt zu einer unüberblickbaren Fragmentierung und Heterogenität der Wikipedia. Sie wird im Kern nur von der gemeinsamen Idee einer "Enzyklopädie" und durch ein kleines Set von grundlegenden Regeln zusammengehalten. Jeder Artikel hat seine eigene Entstehungsgeschichte und ist geprägt durch einen jeweils unterschiedlich zusammengesetzten Kreis von unterschiedlich qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es ist daher praktisch unmöglich, allgemeingültige und doch konkrete Aussagen über die Qualität von Wikipedia-Artikeln zu treffen.

Dies wird schon deutlich durch die stetig wachsende Menge an Informationen, die sich in der Wikipedia mit Geschichte befassen. Eine Schätzung anhand einer repräsentativen Stichprobe geht davon aus, die sich 20 bis 25 Prozent der Artikel im engeren oder weiteren Sinne Geschichte behandeln. Hierzu gehören nebst Beiträgen zu historischen Ereignissen oder Epochen vor allem Artikel zu Personen, zu Örtlichkeiten (Siedlungen oder Bauwerken), Institutionen oder Objekten, die in der Geschichte eine Rolle spielen oder deren Geschichte Teil des Beitrags darstellt. Nimmt man diesen Schätzwert und rechnet ihn auf den aktuellen Bestand (Ende August 2012) von 1.453 Millionen Wikipedia-Artikeln hoch, dann wird deutlich, um welche Menge an Informationen es sich hier handelt.

Es leuchtet daher ein, dass die Externer Link: Redaktion Geschichte der Wikipedia vor einer schier unlösbaren Aufgabe steht. Die Redaktion besteht aus Freiwilligen, zum Teil Historikern, die kaum mehr gemein haben als das Ansinnen, möglichst viele Artikel zur Geschichte zu verbessern, verständlicher zu schreiben und besser mit Quellen und Literatur zu belegen. Zieht man in Betracht, dass die Redaktion monatlich zwischen fünf und fünfzehn Artikel überarbeitet, wird deutlich, dass diese Arbeit in absehbarer Zeit wohl nicht zum Abschluss gebracht werden kann.

Dennoch ist festzustellen, durchaus im Einklang mit Marias Einschätzung, dass insbesondere die Artikel zu wichtigen und zentralen Geschichtsthemen (Externer Link: 1. Weltkrieg, Externer Link: Che Guevara, Externer Link: Französische Revolution) kaum Fehler aufweisen und in ihren Kernaussagen den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion abbilden. Bei weniger geläufigen Themen, unbekannteren Persönlichkeiten oder kleineren Ereignissen, für die sich nur Wenige interessieren - und wozu ebenso Wenige Informationen beitragen können und wollen - ist dies jedoch nicht in jedem Fall gewährleistet. Aufgrund der intensiven Verlinkung innerhalb der Wikipedia gelangt man schnell von einem Bereich in den anderen.

Aus den geschilderten Gründen lassen sich auch keine allgemeingültigen Aussagen dazu treffen, ob Einträge in der Wikipedia für die Verwendung im Unterricht oder allgemein zum Lernen von Geschichte taugen. Die Beurteilung ist nicht nur von der jeweiligen Qualität des einzelnen Artikels abhängig, sondern auch von den konkreten Umständen seiner Verwendung: Geht es darum, einen Begriff zu klären oder ein Detail zu überprüfen? Oder soll ein erster Überblick gewonnen oder die Grundlagen einer Facharbeit gelegt werden? Je nach Verwendungszusammenhang, Verwendungszweck und konkreter Gestalt eines Artikels kann die Nutzung sinnvoll oder problematisch sein.

Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrpersonen müssen folglich in jedem einzelnen Fall abwägen, ob sie den in Frage kommenden Wikipedia-Artikel verwenden können oder nicht. Sie sind mit anderen Worten selbst dafür verantwortlich, die Qualität der Informationen sicherzustellen.

Die Objektivitäts- und Totalitätsfalle

Aus der Warte der Geschichtsdidaktik ist der Anspruch einer objektiven und ausgewogenen Darstellung, einer der zentralen Grundsätze der Wikipedia, besonders problematisch. Wikipedia selbst nennt es das Grundprinzip des Externer Link: Neutralen Standpunktes (NPOV) "Ein Artikel und seine Unter-Artikel sollen alle unterschiedlichen Standpunkte, Meinungen und Streitigkeiten eines Themas klar beschreiben und charakterisieren, ohne einzelne davon zu befürworten, zu vertreten oder abzulehnen."

Es ist unstrittig, dass eine Enzyklopädie sachlich objektiv den Stand wissenschaftlicher Erkenntnis abbilden will. Ebenso unstrittig ist der Befund, dass die Geschichtswissenschaft wissenschaftliche Methoden entwickelt hat, um möglichst objektiv Aussagen über die vergangene Wirklichkeit zu erstellen. Weil dieses Ansinnen in vielen Fällen jedoch nicht in letzter Instanz und mit letzter Sicherheit möglich ist, sind plausible Interpretationen des vergangenen Geschehens nötig. Hierüber kann es einen wissenschaftlichen Disput geben. Es gibt also nicht eine einzig wahre, wissenschaftliche belegte Geschichte. Unter diesen Voraussetzungen erscheint die Vorgabe einer ausgewogenen Darstellung der Standpunkte durchaus sinnvoll.

Doch gerade in Bezug auf Geschichte gerät der Versuch einer ausgewogenen Darstellung nur zu gerne in Konflikt mit gesellschaftlichen Setzungen. Es wäre undenkbar, dass zum Holocaust in "ausgewogener Art und Weise" alle Ansichten dargelegt und damit den Holocaust-Leugnern eine Plattform geliefert würde. Hier ist allerdings anzuerkennen, dass die Wikipedia gerade in Bezug auf den Nationalsozialismus sehr wohl differenziert vorgeht und Routinen entwickelt hat, die gesellschaftlich akzeptierte Deutung in den meisten Fällen zu garantieren.

Doch muss auch festgehalten werden, dass in gewissen Grenzbereichen der Umgang mit dem Gebot der Objektivität und Sachlichkeit nicht einfach anzuwenden ist: Welche Bedeutung wird beispielsweise in Biografien von Personen dem Umstand beigemessen, dass sie mit dem Nationalsozialismus verstrickt waren? Soll das betont und herausgestrichen werden? Oder ist es in ein "vernünftiges" Verhältnis zu den weiteren Bereichen des jeweiligen Lebenslaufs zu stellen? Auch bezüglich des Leids der armenischen Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg (handelte es sich hierbei um ein Genozid oder nicht – die deutsche Wikipedia sagt ja ) oder des andauernden Konflikts zwischen Israel und Palästina wird deutlich, dass "ausgewogene" Darstellungen der Geschichte nicht so einfach herzustellen sind – denn was den einen als ausgewogen gilt, halten andere für schönfärberisch, verschleiernd oder schlicht für falsch. Die spezifischen Regeln der Wikipedia, die eine Mischung darstellen aus Konsensfindung, demokratischer Entscheidung und Machtworten von Administratoren (die nicht aufgrund fachlicher Qualifikationen, sondern fleißiger Mitwirkung in der Wikipedia über das Recht verfügen, Artikel zu sperren und Mitwirkende auszuschließen) gelangen hier zuweilen an ihre Grenzen.

Bulletpoint-Prosa (Autorlosigkeit)

Problematisch ist für den Bereich Geschichte auch die Neigung, möglichst sämtliche Aspekte eines Themas zu erfassen. Unvermeidbare Voraussetzung jeder Geschichtsschreibung ist die Partikularität und Perspektivität von Geschichte. Kein Ereignis und kein Sachverhalt der Vergangenheit kann in allen Teilen beschrieben werden. Je umfassender der Versuch ausfällt, alle Details zu einem Sachverhalt der Vergangenheit zusammenzutragen, desto unübersichtlicher und beliebiger droht die Darstellung zu werden und desto schwieriger fällt es den Leserinnen und Lesern, die wichtigen Fakten und Erklärungen von den weniger wichtigen zu unterscheiden.

Diese Unterscheidung nehmen üblicherweise die Autorinnen und Autoren vor. Rosenzweig hat bemängelt, dass die in der Wikipedia zu beobachtende Zusammenstellung von Inhalten durch mehrere Personen zweifellos schnell erfolgt. Zugleich führt dies aber tendenziell zu zerstückelten Texten, die als "Bulletpoint-Prosa" beschrieben werden können: eine Aneinanderreihung von einzelnen, kaum zusammenhängenden Aussagen. Es gibt wohl Beispiele von Wikipedia-Artikeln zu historischen Themen, die diese Feststellung widerlegen und auch in stilistisch-argumentativer Hinsicht die Qualität eines herkömmlichen Handbuch-Artikels erreichen. Meistens sind diese Artikel aber maßgeblich von Einzelpersonen gestaltet worden. Und den unbestritten gelungenen Beiträgen stehen viele mittelmäßige Kompilationen im eben beschriebenen Stil gegenüber.

Darüber hinaus führt die Anlage der Wikipedia als Enzyklopädie zu einer Partikularisierung der Geschichte. Sie lässt einen ereignisgeschichtlichen und personenorientierten Zugang zu Geschichte wiederaufleben, den die Geschichtswissenschaften und die Geschichtsdidaktik glaubten überwunden zu haben. Ansätze der Sozial- und Strukturgeschichte, der Geschlechter- oder der Alltagsgeschichte kommen in der Wikipedia kaum zur Geltung. Im Artikel zu den Externer Link: Goldenen Zwanziger (Jahren) wird die Emanzipation der Frauen in drei Zeilen abgehandelt, im (als lesenswert ausgezeichneten) Artikel zum Externer Link: 1.Weltkrieg wird wohl das Kriegsgeschehen ausführlich protokolliert. Die gesellschaftlichen Auswirkungen und Folgen erhalten darin jedoch nur marginale Beachtung.

nsgesamt führt die Abhandlung historischer Ereignisse, Kategorien, Themen, Begriffe, Personen, Unterbegriffe, Orte und Epochen als Anordnung zahlloser, miteinander vielfach verbundener Hypertext-Module zu einer gänzlich neuen Form der Präsentation von Geschichte, die mit herkömmlichen Formen der Geschichtsschreibung bricht. Hier führt nicht ein Autor oder eine Autorin den Leser oder die Leserin durch eine Darstellung, in der er oder sie historische Fakten möglichst sinn- und bedeutungsvoll zusammenstellt und vorträgt. In der Wikipedia werden die Nutzerinnen und Nutzer zu Akteuren, die durch ihre Auswahl von Modulen oder durch eigenhändiges Mitwirken an der Geschichte mitschreiben. Es wird sich weisen, ob diese Anordnung modularisierter, hochgradig und vielfältig verbundener Geschichtstexte lediglich zur Reproduktion konventioneller Geschichtsbilder oder zu neuen, erhellenden Einsichten in geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen führt. Dass zumindest unkonventionelle Explorationen der Geschichte in der Wikipedia möglich sind, zeigt Danny Kringiel im Externer Link: Zeitgeschichtsportal einestages des Spiegel.

Gerade zu Themen der Geschichte kann man die Wikipedia ideal nutzen, wenn man sich vor Augen hält, dass die Wikipedia eher einen Ort der Auseinandersetzung als einen Wissensbehälter darstellt. Die Dynamik und die Heterogenität der Inhalte werden mit dieser Vorstellung weitaus besser erfasst und ermöglichen eine dem Verwendungszweck angepasste Nutzung der Online-Enzyklopädie.

Wikipedia im Geschichtsunterricht

Noch liegen erst wenig Vorschläge und noch weniger Erfahrungsberichte dazu vor, wie Wikipedia im Geschichtsunterricht sinnvoll eingesetzt werden kann. Im Folgenden werden daher verschiedene allgemeine Vorschläge für den Geschichtsunterricht adaptiert.

Die wohl anspruchsvollste Verwendung dürfte das gemeinsame Erstellen eines eigenen Wikipedia-Beitrages durch die Klassengemeinschaft darstellen; beispielsweise zu einem regional- oder lokalgeschichtlichen Sachverhalt (Personen, Ereignisse, Örtlichkeiten). Hierzu gehört sowohl die inhaltliche Arbeit, wozu etwa das gemeinschaftliche Aushandeln des zu behandelnden Sachverhalts, der anzulegenden Perspektive, der daraus resultierenden Gliederung und der darin konkret darzustellenden Inhalte zu zählen ist. Wichtig ist aber auch die Auseinandersetzung mit den Prozessen und Instanzen der Wikipedia, dies umfasst den Umgang mit den spezifischen technischen Anforderungen ebenso wie jenen mit anderen Mitwirkenden und den Administratoren. Dieses Vorgehen könnte man als Königsweg bezeichnen, denn es verbindet die didaktischen Prinzipien der Handlungsorientierung und des eigenverantwortlichen Lernens mit einer anschaulichen Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen der Wikipedia selbst. Zu berücksichtigen ist allerdings der beträchtliche Aufwand für ein solches Vorhaben, das gut vorbereitet und begleitet werden muss. Externer Link: Die Wikipedia rät aus diesen Gründen selber mittlerweile eher von solchen schulischen Projekten ab. Weniger spektakulär, aber für den Unterrichtsalltag vielleicht fast wichtiger erscheint das gemeinsame Aufbereiten von Artikeln der Wikipedia. Die Artikel können je nach Thema lange, umständlich gegliedert oder schwer verständlich sein, oder aber sehr kurz und wenig aussagekräftig. Hier können jene Bearbeitungsvorgänge, die Schülerinnen und Schüler sonst außerhalb des Unterrichts vornehmen, zum Teil des Unterrichts gemacht werden. Dies beginnt beispielsweise mit der Sichtung und Selektion von Artikeln, die zu einem bestimmten Unterrichtsthema Inhalte bereitstellen. Es kann schließlich münden in die gemeinsame Erstellung eines "Readers", den die Klasse auf der Basis der aufgefundenen Wikipedia-Texte zusammenstellt.

Ergiebig kann auch der Vergleich von Wikipedia-Artikeln sein: einerseits mit anderen Materialien zu gleichen Inhalten (Schulbuchtexten oder Lexika-Einträge), mit Versionen des Artikels in anderen Sprachen der Wikipedia oder mit früheren Versionen des gleichen Artikels. Interessant werden Vergleiche insbesondere dann, wenn sie nicht nur dazu dienen, anhand der Schnittmenge verschiedener Darstellungen die unbestrittenen und damit vermutlich gesicherten Aussagen zu ermitteln. Mittels Vergleich lassen sich die Texte im Hinblick auch auf die darin jeweils erkennbaren unterschiedlichen Perspektiven untersuchen. Dies macht deutlich, dass Geschichte auf verschiedene Weise geschrieben werden kann, ohne im einen Fall falsch und im anderen richtig zu sein. Unterschiede lassen sich am besten an kontroversen Beispielen wie etwa der bis heute sagenumwobenen Ermordung John F. Kennedys zeigen. Aber auch weniger politisch besetzte Themen wie die Geschichte der Eisenbahn bringt im Vergleich der deutschen und englischen Version den interessanten Befund zu Tage, dass in derExterner Link: englischen Version History of Rail transport, die Verbreitung der Eisenbahn in Deutschland überhaupt nicht erscheint. Vergleiche dieser Art verdeutlichen den Umstand, dass Auswahl und Gliederung der Inhalte von den Erkenntnisinteressen der Autorinnen und Autoren abhängen.

Wenn die Wikipedia bereits Gegenstand der Bearbeitung und des Vergleichs geworden ist, kann sie auch als Ausgangspunkt für das Explorieren von Geschichte dienen. Gerade zu Beginn, aber auch am Ende der Behandlung geschichtlicher Themen im Unterricht kann das Erkunden der vielfältigen Verzweigungen, die der Hypertext Wikipedia anbietet, zu interessanten Entdeckungen führen, die Zusammenhänge und Widersprüche erkennen lassen. Das Zusammentragen solcher Erkundungen im Klassenverband kann die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, Fragen zu generieren, oder im Sinne einer Repetition die Fundstücke mit bereits erarbeiteten Unterrichtsergebnissen zu verbinden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alle Zitate aus einem Interview mit einer 18-jährigen Schülerin im September 2007 im Rahmen des Dissertationsprojekts von Jan Hodel, vgl. Hodel, Jan: "… dann schreibe ich es in meinen eigenen Wörtern". Geschichtslernen im Zeitalter von Social Software . In: ders.; Ziegler, Béatrice (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung «geschichtsdidaktik empirisch 07», Bern 2009, S. 226-234.

  2. Selbst die Idee der "Enzyklopädie" wird nicht von allen Mitwirkenden der Wikipedia gleich verstanden, wie die Debatte über die Auswahlkriterien für Artikel zeigt, also der Streit um die Frage, zu welchen Themen überhaupt Artikel in der Wikipedia angelegt werden sollen, vgl. Biermann, Ralf: Die Diktatur der Relevanz. In: Zeit online, 23.10.2009, verfügbar unter Externer Link: zeit.de/digital/internet/2009-10/wikipedia-streit-fefe/komplettansicht (6.4.2012).

  3. Eine aufschlussreiche, wenngleich kritische Würdigung der Funktionsweise der Wikipedia hat die Historikerin Maren Lorenz verfasst: Lorenz, Maren: Wikipedia. Zum Verhältnis von Struktur und Wirkungsmacht eines heimlichen Leitmediums. In: WerkstattGeschichte 43 (2006), S. 84-95, verfügbar unter Externer Link: werkstattgeschichte.de (6.4.2012) - Eine empfehlenswerte Alternative ist die Einführung des Wikipedianers: Stöcklin, Nando: Wikipedia clever nutzen in Schule und Beruf, Zürich 2010.

  4. Vgl. hierzu Hodel, Jan: Wikipedia und Geschichte (II): Zahlenspiele. In: weblog.hist.net, 28.8.2009, verfügbar unter Externer Link: weblog.hist.net/archives/2686 (4.4.2012).

  5. Vgl. Rosenzweig, Roy: Can History be Open Source? Wikipedia and the Future of the Past. In: Journal of American History 93 (2006), Nr. 1, S. 117-146, verfügbar unter Externer Link: ecpdata.mdsa.net (6.4.2012)

  6. Stand: 6.4.2012

  7. Hinweise zu Einsatzmöglichkeiten (und Verweise auf entsprechende Materialien und Tipps) gibt es bei Wikipedia selber: Externer Link: de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia_im_Unterricht

  8. Stand: 6.4.2012

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jan Hodel für bpb.de

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Dr. des Jan Hodel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und des Zentrums für Demokratie (ZDA) in Aarau. Studium der Geschichte, Journalistik, Geographie und Biologie in Fribourg, Berlin und Basel. 2012 erfolgt die Promotion zur Internetnutzung Jugendlicher für das historische Lernen unter dem Titel "Verkürzen und Verknüpfen: Geschichte als Netz narrativer Fragmente Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden" promoviert. Er ist Mitbegründer von hist.net, der Plattform zum Thema Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter. Externer Link: www.hist.net/jan-hodel/