Wikipedia im Schulunterricht
Vermittlung von Informationskompetenz?
Für Schüler ist Wikipedia längst die zentrale enzyklopädische Anlaufstelle. Wie können Bildungseinrichtungen mit ihr umgehen - statt sie zu verbieten? Der Beitrag zeigt unterschiedliche Ansätze, wie Wikipedia im Unterricht eingesetzt werden kann, um einen selbstbestimmten und kritischen Umgang mit Informationen zu fördern.
Wozu braucht es im 21. Jahrhundert noch Schulen, Hochschulen und Bildungseinrichtungen? Ist nicht bereits das gesamte Wissen im Internet verfügbar? So ermöglichen Google, Wikipedia den kinderleichten Zugriff auf das 'Kollektive Gedächtnis' in der digitalisierten Welt — Nicht wenige Menschen sehen in der Wikipedia die wahrgewordene Vision eines basisdemokratisch geschaffenen Wissensschatzes. Kritiker hingegen beklagen kulturpessimistisch den Verlust einer von Experten gestalteten und von professionellen Redakteuren geprüften Wissenskultur.
Tatsächlich ist zu fragen, wie Bildungseinrichtungen, Lehrer, Dozenten und Eltern auf die Informationsgewohnheiten der Digital Natives reagieren wollen: Verbote, Vorschriften, Zensur, Begrenzung? Alle möglichen Varianten werden ausprobiert. Unabhängig davon, wie jeder Einzelne die Potenziale und Grenzen von Wikipedia einschätzt, taugen persönliche Präferenzen im pädagogischen Feld kaum. Denn: Für Viele ist Wikipedia längst die erste enzyklopädische Anlaufstelle und somit zentraler Schlüssel beim Zugang zu Wissen.
Vermittlung von Informationskompetenz
Vor diesem Hintergrund stellen sich drei zentrale Fragen: 1.) Wie kann es gelingen, Wikipedia als Ressource und Werkzeug in Lehr-und Lern-Kontexte sinnvoll zu integrieren? 2.) Über welche Voraussetzungen müssen Lehrer und Schüler verfügen, um sich bei Wikipedia kompetent zu informieren? Und ganz allgemein: 3.) Wie lassen sich Schüler für die Problematiken der 'Copy & Paste'-Mentalität und Umsonst-Kultur sensibilisieren? Wikipedia dient im Folgenden als Folie zur Vermittlung und den Erwerb von Informationskompetenz.Informationskompetenz wird unter Experten als Fähigkeit verstanden, "bezogen auf Herausforderungen in Schule, Hochschule, Wissenschaft, Wirtschaft oder Gesellschaft, Informationsbedarf zu erkennen, Informationen zu ermitteln, zu beschaffen, zu bewerten und effektiv zu nutzen. Denn diese fördert das Grundwissen in Bildung und Berufsleben, führt zu Erfolgen und Innovationen in der Forschung und Entwicklung, ermöglicht Kreativität und Zufriedenheit im Alltag." So beschreibt es die Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis.
Bezogen auf den Schulunterricht bedeutet dies, Schüler in die Lage zu versetzen, mit Informationen selbstbestimmt, souverän, kritisch und emanzipiert umzugehen, um diese in eigene Wissensbestände zu integrieren oder für eigene kommunikative Ziele nutzbar zu machen. Aus Emittentensicht (Informationen zur Verfügung stellen) umfasst Informationskompetenz die Fähigkeit und Fertigkeit, Information zweckorientiert-, zielgruppen-, sach- und medienadäquat aufzubereiten und zu vermitteln. Aus Rezipientensicht (Informationen nutzen) umfasst sie die Fähigkeit und Fertigkeit, Information zu recherchieren und zu organisieren, zu analysieren und zu evaluieren. Da jeder fortwährend sich selbst oder aber andere informiert, sind beide Sichtweisen gleich relevant.
Wikipedia als Untersuchungsgegenstand
Wikipedia ist – so betrachtet – ein prädestiniertes Anschauungs- und Experimentierfeld, um die Facetten von Informationskompetenz im Unterricht durch zu deklinieren. Aus mindestens drei Quellen speisen sich die nachfolgend skizzierten Ideen:- Den klassischen Verfahren der Textarbeit: Das Analysieren, Redigieren oder Interpretieren von Texten kann durch gezielte Anschlussaufgaben ergänzt werden, zum Beispiel durch Exzerpieren und Kommentieren. Lesestrategien und Texterschließungsverfahren können auf beliebige Stichwörter und Unterrichtsfächer angewendet werden, da sie zunächst fachunspezifisch sind.
- Methoden und Vorgehen des wissenschaftlichen Arbeitens (Zitieren, Quellenrecherche, Bibliographieren…) bilden einen weiteren Bezugspunkt. In einer Wissensgesellschaft, in der jeder alles sagen kann, werden diese ursprünglich höhere Anforderungen, bereits in der Schule verlangt, um Schülern eine Orientierung in den 'Weiten des Internets' zu ermöglichen.
- Schließlich handelt es sich um leicht modifizierte oder klassische Aspekte der Wörterbucharbeit, wie sie im Deutschunterricht vermittelt wird.
Ein Blick hinter die Kulissen
Grundlegend können Schüler zunächst durch kleine Arbeitsaufgaben bzw. Rechercheaufträge Fakten und Hintergründe über Wikipedia sammeln:- Wer hat Wikipedia erfunden?
- Seit wann gibt es Wikipedia?
- In wie vielen Sprachen gibt es sie?
- Wie viele Artikel umfasst die englische, deutsche Wikipedia?
- Welche Ziele verfolgt Wikipedia?
- Wie kann man bei Wikipedia mitmachen?
- Wer darf Inhalte einstellen, wer darf sie verändern?
- Welche Regeln sind zu beachten?
- Nach welchem Prinzip werden die Inhalte geschützt?
- Welche Lizenzen sind zu beachten und welche nutzt Wikipedia?
Im nächsten Schritt kann vertiefend die Berichterstattung über Wikipedia thematisiert werden. Schüler können dazu Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel recherchieren und auswerten:
- Was versprechen sich die Befürworter von Wikipedia?
- Wie sind die Chancen einzuschätzen, dass Wikipedia erstes digitales Weltkulturerbe wird?
- Welche Pro- und Contra-Argumente führen Befürworter und Gegner ins Feld?
- Warum gibt es Versuche, Wikipedia-Artikel zu manipulieren und zu welchem Zweck?
Informationsbedarf erkennen – Suchkriterien definieren – Suchstrategien prüfen
Schüler benötigen ein breites Repertoire an Informationsquellen und Suchstrategien. Dazu ist es hilfreich, ihnen unbewusste Abläufe und Entscheidungen des Informationsverhaltens bewusst werden zu lassen und diese systematisch zu trainieren. Enzyklopädien und Lexika übernehmen hierbei eine ganz wichtige, leitende und orientierende Funktion, wodurch es sinnvoll ist, Recherchen mit deren Konsultation zu starten:- Wonach suche ich?
- Was weiß ich bereits über den Sachverhalt?
- Wofür benötige ich die Informationen?
- Will ich mir einen Überblick verschaffen ("Suche in die Breite") oder etwas im Detail verstehen ("Suche in die Tiefe")?
- Wie werden die gefundenen Informationen weiterverarbeitet?
- Welche Art von Information benötige ich (Literatur, Quellen, fachliche, historische oder aktuelle Information etc.)?
- Welche Informationsquellen könnten geeignet sein? Welche Suchanfragen (Stichwörter, Begriffe, Phrasen…) sind erfolgversprechend?
- Welchen Aufwand will ich betreiben?
Analysieren und Selektieren
Quellen, Texte und Informationen zu analysieren ist eine komplexe Tätigkeit, aber notwendig, um zum Beispiel Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können. Analysieren bedeutet zudem die Aussageabsichten von Autoren erkennen und verstehen, aber auch Informationen zu synthetisieren, also Gelesenes mit anderen Quellen in Beziehung zu setzen und Verbindungen zu eigenen Erfahrungen und Vorwissen herzustellen. Alle Wikipedia-Artikel sollten zwar gewissen Standards und Konventionen in Form und Stil entsprechen. Gleichwohl differiert die Qualität der Texte deutlich. Wikipedia bietet Anreize für eine Kandidatur von Artikeln auf die Kategorien: lesenswert und exzellent.In diesem Feld sind der Phantasie für eine vertiefte Auseinandersetzung keine Grenzen gesetzt. Wikipedia selbst bietet eine riesige Werkzeug-Kiste zur technischen Unterstützung an. Auch rein intellektuell ergeben sich jede Menge spannender Fragen im Unterricht. Indem Schüler den formalen Aufbau der Artikel beschreiben oder sprachliche Ausdrucksformen analysieren, beginnen sie 'den Wert‘ der Aussagen zu hinterfragen:
- Wann ist ein Artikel besonders gelungen, wann verbesserungsfähig?
- Woran lassen sich textuelle Qualitätsmerkmale festmachen?
- Wie können Artikel konkret verbessert werden?
- Mit welchen stilistischen Mitteln arbeiten die Autoren?
- Welchen Aufbau haben Lexikonartikel, welche Textteile und welche Argumentationsstrukturen sind erkennbar?
Recherchieren und Bewerten
Eine Informationsbewertung muss immer zwei Aspekte berücksichtigen: 1.) Die Qualitätsbewertung, die sich auf die Information selbst bezieht. Hierbei geht es unter anderem um die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der Informationsquelle. 2.) Die Relevanzbewertung, die sich auf das aktuelle Informationsbedürfnis und das eigene Rechercheziel bezieht. Eine zutreffende Einschätzung der Kategorien "Qualität" und "Relevanz" setzt Vor- und Orientierungswissen bereits voraus. Denn erstens muss immer der Rückbezug zur Ausgangssituation (Suchziel, Suchstrategie) erfolgen und zweitens kann dieselbe Information für eine Person relevant, für eine andere nutzlos oder bekannt sein. Generell eignen sich sowohl wissenschaftliche als auch journalistische Standardroutinen zur ersten Einschätzung:- Welche Quellen werden wie verwendet und zitiert?
- Sind alle Quellenbelege ausgewiesen?
- Wie verständlich, aktuell, neutral ist der Artikel verfasst?
- Gibt es offenkundige 'Leerstellen‘?
- Welche weiterführenden Informationen finden sich?
Wichtig ist es, auf dieser Ebene nicht stehen zu bleiben, sondern erneut hinter die Kulissen von Wikipedia zu schauen. Insbesondere der Button Diskussion ist ein geeignetes Fenster, um mehr über die Entstehung und den damit verbundenen Kontroversen zu erfahren. Hier zeigt sich deutlich, dass mitnichten immer eine 'Wirklichkeit‘ oder gar 'Wahrheit‘ publiziert wird, sondern Texte von Menschen gemacht sind und somit immer auf Weltbildern und Theorien basieren sowie Anschauungen und Meinungen transportieren.
Schüler sollen sich daher aktiv in den Meinungsaustausch einbringen und Artikel kommentieren. Sie können auch unmittelbaren Kontakt mit Administratoren suchen,. indem sie die Autoren oder Administratoren interviewen oder sich direkt mit Fragen an die Redaktionen) wenden. Bereits die Profile der Wikipedianer erlauben interessante Einblicke in die innere (Macht-)Struktur, Funktions- und Konfliktbereiche der Online-Enzyklopädie. Besonders Wettbewerbe eignen sich zur methodischen Umsetzung:
Verschiedene Gruppen treten gegeneinander an, wobei Quellen und Recherchewege vorgegeben und die Ergebnisse anschließend im Plenum verglichen werden. Welche Befunde liefert Wikipedia, welche andere Online- oder Offline-Quellen? Auch WebQuests lassen sich mit Wikipedia sehr gut durchführen. Oder: Einzelne Gruppe müssen von Wikipedia ausgehend recherchieren, andere auf Wikipedia ganz verzichten. Oder: Schüler sollen bis die bei Wikipedia ausgewiesenen Belegen, Quellen und Literaturangaben recherchieren, bis hin zu gedruckten Originaltexten.
Vergleichen
Neben dem oben erwähnten Medien- und Werkvergleich ist Wikipedia für eine Vielzahl weiterer Vergleichsuntersuchungen sehr gut geeignet. Insbesondere interkulturelle und sprachliche Synopsen bieten sich an: Unterscheiden sich die Texte in Aufbau, Wortwahl und gewählten Beispielen? Welche Bilder werden verwendet? Welche Artikel fehlen in bestimmten Sprachen? Wie unterscheidet sich die Beschreibung bestimmte Ereignisse in unterschiedlichen Kulturräumen oder Sprachgemeinschaften?

Mit Bezug auf den fremdsprachlichen Unterricht lassen sich diese Vergleiche beliebig erweitern und mit einem Tastendruck ist eine neue Sprache linken Bildschirmrand gewählt. Der Phantasie von Lehrkräften und Dozenten, wie dieses "Multifunktions-Sprachwerkzeug" im Unterricht zu nutzen ist, sind kaum Grenzen gesetzt. Zahlreiche Gegenüberstellungen funktionieren aber auch innerhalb der deutschen Wikipedia:
- Zu welchen Themen gibt es eigene Portale, die Artikelzusammenstellungen bieten?
- Welche Schlagwörter fehlen ganz, welche Themengebiete sind nur dünn besetzt?
- Wie differenziert werden einzelne Themenbereiche behandelt und wie tiefgehend – im Vergleich zu anderen Medienangeboten?
Besonders interessant ist es, die Genese von Artikeln zu verfolgen, beispielsweise indem verschiedene Überarbeitungsstadien betrachtet werden. Anhand der "Entstehungsgeschichte" lassen sich Schritt für Schritt Änderungen an Artikeln nachvollziehen oder auch aufzeigen, welcher Nutzer wann und in welcher Form kleine oder große Veränderungen vorgenommen hat. Diese Wiki-Funktion verweist auf den Kern des Projekts, nämlich, dass viele Nutzer gemeinsam Wissen 'konstruieren‘ und damit auch 'konstituieren‘.

Zur wahren Fundgrube und Experimentierkiste wird die erweitere Funktion ‚Gewählte Versionen vergleichen‘, da hier eine echte Synopse nach frei wählbaren Kriterien (Autor, Zeit…) erstellt werden kann. Gerade bei besonderen Ereignissen, wie Lebensmittel-Skandalen (Gammelfleisch), Pandemien (Vogelgrippe) oder Katastrophen (Fukushima) lassen sich in zugehörigen Textgruppen quasi seismographische Änderungen nachzeichnen. Ebenfalls interessant ist es, sich der Funktion Links auf diese Seite zu bedienen, um Vernetzungen und Anschlussfähigkeiten des Artikels sichtbar zu machen.

Produzieren und Redigieren
Von besonderer Bedeutung ist das aktive und selbsttätige Beteiligen an der Entstehung und Ausgestaltung von Texten für die Wikipedia, also die Funktionen Bearbeiten und Diskussion. Hier ergibt sich erneut eine Vielzahl unterrichtsspezifischer Möglichkeiten: Kommentare können gemeinsam oder in Gruppenarbeit diskutiert und weitergeführt werden. Um dies angemessen zu tun, empfiehlt sich die Lektüre weiterführender Literatur oder das Rekurrieren auf vertieftes Schulwissen. Gezielt können Schülergruppen Artikeln annehmen, die mit dem Verweis ‚Artikel bedarf der Überarbeitung‘ gekennzeichnet sind, um diese zu verbessern. Aber auch gute und gängige Artikel können Schüler durch passende Beispiele oder geeignete Bilder aufwerten. Dabei werden Urheberrechtsfragen, lizenz- datenschutz- und nutzungsrechtliche Bestimmungen, plötzlich für die Schüler selbst bedeutungsvoll. Anlass für weitere Recherchen und Diskussionen bieten anknüpfende Themen wie Plagiate, Macht oder Zensur.Durch das Formulieren, Gestalten und technische Erstellen der Texte lernen sie den ideellen, intellektuellen und zeitlichen Aufwand kennen, der ihnen ein Gespür für Autorenschaft vermittelt. Außerdem lernen sie eine Menge über Gutes Schreiben im Sinne der Wikipedia und die Anforderungen beim Verfassen und Formulieren anspruchsvoller Texte. Ganz praktische Fragen schließen sich an.
- Welche Links sollten gesetzt werden?
- Wie sind Quellen auszuweisen?
- Was ist für das Verständnis wichtig?
- Was kann wegfallen?
- Wie schreibe ich korrekt, anspruchsvoll und verständlich zugleich?
Bevor die Schüler mit dem Schreiben beginnen, müssen sie die obigen Schritte bei Wikipedia, im Netz oder auf alternativen Wegen durchlaufen. Sie kommen somit weg von der reinen Konsum- und 'Copy & Paste‘-Mentalität hin zu eigenen Texten, zur aktiven Teilnahme an gesellschaftlichen oder fachlichen Diskursen. In besonderer Weise bietet es sich an, kleine Schülergruppen über einen gewissen Zeitraum (geleitet oder frei) kontinuierlich an tagesaktuellen Themen mitschreiben oder Veränderungen beobachten zu lassen. Schüler 'erleben‘ Zeitgeschichte und 'schreiben‘ Geschichte. Auch die Startseite eignet sich hervorragend für vielfältige Gesprächsanlässe im Unterricht: Wikipedia aktuell, In den Nachrichten, Artikel des Tages oder Was geschah am?
Kritisch Reflektieren und Begleiten
Das bewusste Verändern von Seiten ist eine interessante Spielart kritisch-reflexiver Auseinandersetzung mit der Wikipedia. Die ist nicht als Aufruf zum Vandalismus zu verstehen, der ein ernst zu nehmendes Problem darstellt, sondern vielmehr als 'Was-passiert-wenn‘-Versuch:- Wie lange dauert es, bis die geänderte Passage wieder zurückgesetzt wird?
- Wie weitreichend darf die Änderung sein?
- Wie muss sie beschaffen sein, damit sie akzeptiert wird?
- Was wird, was wird nicht toleriert?
- Wie leicht lassen sich zentrale oder völlig randständige Artikel 'bearbeiten‘?
- Was passiert bei/mit Minimaländerungen?
- Wie sind diese Artikel und Diskussionen gestaltet?
- Wie wird versucht, Meinungs- und Stimmungsmache zu vermeiden?
- Was verstößt gegen die guten Sitten, wie weit wird 'schlechter Geschmack‘ toleriert?
- Wann werden Artikel zu Löschkandidaten?
- Wie wird mit problematischen Medien/Bildern umgegangen?
Zum Schluss Wikipedia ist ein besonderes Phänomen: Im Konzert der Big Player des Internets ist es ganz vorne dabei, ganz ohne kommerzielle Interessen zu verfolgen und ist anderseits zugleich Symbol der nicht unproblematischen Kostenlos-Kultur des Internets. Nicht zuletzt deshalb dürften sich professionelle Wissensvermittler wie Lehrer und Dozenten bei der Mitarbeit bislang zurückgehalten haben, obgleich Anerkennung und Renommee die alleinige Währung der Wikipedianer ist. Wodurch aber bitte soll die oft eingeforderte Qualität der Artikel entstehen, wenn nicht aus den 'Vertretern‘ der Bildungseinrichtungen?
Die Pionierzeit der Wikipedia liegt eine ganze Weile zurück. Vieles aber von dem, was oben ausgeführt ist, haben studentische Gruppen im Rahmen von Seminaren oder Projekten ausgetestet; mit großen Lern- und Aha-Effekten. Fast schade, dass besonders spannende Experimente, wie "20plus" kaum mehr möglich sind, da es in der deutschsprachigen Version bereits knapp 1,4 Millionen Artikel gibt. "20plus" basierte auf folgender Vorgabe: In Kleingruppen mussten Studenten verschiedene Artikel für Wikipedia verfassen, ohne diese zu verwenden. Dafür mussten sie mind. 20 Bücher bzw. themenbezogen Fachaufsätze recherchieren und als Basis für Ihren Text verwenden. Zudem mussten sie mind. 20 qualifizierte Internet-Quellen einbauen bzw. verlinken und der von ihnen selbst einzustellende Text musste qualitativ so verfasst sein, dass die Internetcommunity 20 Tage keine substantiellen Veränderungen oder Verbesserungen vornahm. Mit dieser Anforderung war die Minimalforderung erfüllt. Selbstverständlich konnten die Gruppen ihre Leistung (Note) verbessern, wenn sie die entsprechenden Parameter auf 30 oder gar 40 erhöhte oder auch den Rechercheumfang ausweitete (Deutschland, deutschsprachig, englischsprachig, international-vielsprachig).
Wikipedia bietet zwar eine eigene Spielwiese für das experimentelle Verfassen von Beiträgen. Vielfach aber stellen schul-, klassen- und arbeitsgruppenspezifische Wikis eine mindestens ebenso gute Alternative für das gemeinsame Erarbeiten von Themen dar. In diesen sind viele obigen Anregungen in einem geschützten Raum umsetzbar und die sich anschließenden Diskussions-, Bewertungs- Formulierungs- und Reflexions-Prozesse fördern in gleicher Weise den Erwerb von Informationskompetenz. Unabhängig davon, welche Wikis genutzt werden, ist es von zentraler Bedeutung, im Schulunterricht die Unterschiede von Daten, Information und Wissen zu thematisieren, denn erst auf dieser Grundlage erwächst Bildung.
Mehr noch geht es darum, dass Schüler den Unterschied von Wissen, Wahrheit und Weisheit erkennen: Dem Wissen kann ich in Schule und Internet nachjagen, Wahrheiten kann ich nur selbst entdecken, um aber zu Weisheit zu gelangen, benötigt ich ein hohes Maß an Toleranz, Emanzipation, Kritikfähigkeit und schließlich viel Zeit für äußere und innere Begegnungen; da hilft keine Wikipedia, kein Netz, keine App.
Verwendete Quellen
Alle verwendeten URLs und Online-Verweise wurden zum Redaktionsschluss am 27.11.2012 geprüft.- Association of College and Research Libraries (ACRL) (2000): Information Literacy Competency Standards for Higher Education.
- Ballod, Matthias (2005): Dimensionen von Informationskompetenz. In: Computer + Unterricht (Nr. 59). 44 – 46
- Ballod, Matthias (2007): Informationsökonomie – Informationsdidaktik: Strategien zur gesellschaftlichen, organisationalen und individuellen Informationsbewältigung und Wissensvermittlung. Bertelsmann Verlag: Bielefeld
- Ballod, Matthias (2010): Ins Netz geschickt – im Netz verstrickt? Zur Vermittlung der Schlüsselqualifikation ‚Informationskompetenz‘ in der Schule. In: Gauger, Jörg-Dieter; Kraus, Josef [Hg]: Bildung und Unterricht in Zeiten von Google und Wikipedia. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.: Sankt Augustin.
- Ballod, Matthias (2011): Informationen und Wissen im Griff. Effektiv informieren und effizient kommunizieren. Bertelsmann Verlag: Bielefeld
- Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis e.V. (2012): DGI setzt auf Informationskompetenz gegen Informationsüberflutung.
- Paál, Gábor (2011): Alles abgeschrieben? Bildung in Zeiten von Google. Radiointerview im Deutschlandfunk.
- Wikimedia Deutschland e.V. (2011): Alles über Wikipedia und die Menschen hinter der größten Enzyklopädie der Welt. Hoffmann und Campe: Hamburg
Weiterführende Quellen
- Jaschnoiok, Meike (2007): Wikipedia und ihre Nutzer. Zum Bildungswert der Online-Enzyklopädie. Tectum Verlag: Marburg
- Pscheida, Daniela (2010): Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert. Transcript Verlag: Bielefeld
- Schuler, Günter (2007): Wikipedia inside. Die Online-Enzyklopädie und ihre Community. Unrast-Verlag: Münster
- SPIEGEL Online: Ständig aktualisierte Themenseite zu Wikipedia
- Stegbauer, Christian (2009): Wikipedia. Das Rätsel der Kooperation. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.
- Stöckin, Nando (2010): Wikipedia clever nutzen – in Schule und Beruf. Orell Füssli Verlag: Zürich
- van Dijk; Ziko (2010): Wikipedia. Wie Sie zur freien Enzyklopädie beitragen. Open Source Press: München
- ZEIT Online: Zehn Jahre Wikipedia - eine Archivseite