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Irreguläre Migration

Dita Vogel Norbert Cyrus

/ 10 Minuten zu lesen

Irreguläre Migranten, Undokumentierte, Papierlose – für Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis gibt es viele verschiedene Bezeichnungen. Wie viele von ihnen sich in Deutschland aufhalten, kann niemand mit Bestimmtheit sagen.

Eine junge Frau ohne Papiere, die unerkannt bleiben will, redet am 05.12.2011 im Gesundheitsamt in Frankfurt am Main mit einer Ärztin. In der humanitären Sprechstunde werden Menschen, die ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland leben, kostenlos medizinisch behandelt. Die Einrichtung besteht seit 2010. (© picture-alliance/dpa)

In diesem Beitrag betrachten wir die soziale und rechtliche Situation von Menschen, die sich ohne Kenntnis der Behörden in Deutschland aufhalten. Es geht also nicht um die Menschen, die einen Asylantrag gestellt haben oder geduldet werden, sondern um Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität. Sie werden als irreguläre oder undokumentierte Migrantinnen und Migranten, Papierlose, heimliche Menschen, oder Menschen ohne Aufenthaltsstatus bezeichnet. In Deutschland ist politisch umstritten, wie mit ihnen umgegangen werden soll. Aus ordnungsrechtlicher Perspektive wird betont, dass die Bestimmungen zur Regulierung der Einreise und Aufenthalte von Ausländern streng durchgesetzt werden sollen. Aus menschenrechtlicher Perspektive wird darauf hingewiesen, dass Menschenrechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus gelten.

Definition, Umfang und Entwicklungstendenzen


Es gibt keine präzisen Informationen über Umfang und Zusammensetzung der irregulären Migration nach Deutschland und die irreguläre Bevölkerung in Deutschland, da irreguläre Migrantinnen und Migranten jeden Kontakt mit Behörden zu vermeiden suchen. Hinweise auf die nationale Zusammensetzung bieten Erkenntnisse der Bundespolizei über unerlaubte Ein- und Ausreisen. Diese verdeutlichen, dass irreguläre Migrantinnen und Migranten von allen Kontinenten stammen. Besonders stark gestiegen ist die Zahl der Personen aus Kriegs- und Krisenländern, insbesondere Syrien, Eritrea und Afghanistan. Zahlenmäßig bedeutsam sind außerdem Angehörige aus Staaten mit einer historischen Migrationsbeziehung zu Deutschland, vor allem aus den Nachbarländern der Europäischen Union, z.B. der Türkei, Serbien und der Ukraine. An den Grenzen aufgegriffen werden auch Angehörige der bevölkerungsreichsten Länder der Welt, insbesondere aus China, Indien, Brasilien und Nigeria. Die von der Bundespolizei registrierte ist von 15.445 im Jahr 2007 auf 57 092 im Jahr 2014 angestiegen. Dieser Anstieg kann auch durch die Weiterwanderung von Migrantinnen und Migranten verursacht worden sein, die bereits länger irregulär in EU-Staaten gelebt haben und unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise in Südeuropa nach Deutschland kommen.

Eine unerlaubte Einreise führt aber nicht zwangsläufig in einen illegalen Aufenthalt. Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten melden sich nach einer unerlaubten Einreise bei den Behörden, um Asyl oder humanitären Schutz zu beantragen. Sie erhalten zunächst ein befristetes und bei Anerkennung dauerhaftes Aufenthaltsrecht. So haben 2016 nach Angaben des 745.545 Personen einen Antrag auf Asyl gestellt, darunter 266 250 aus Syrien. Sie sind in der Regel unerlaubt eingereist.

Wahrscheinlich sind die meisten Menschen, die in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität leben und den Behörden nicht bekannt sind, z.B. als Touristen oder zur Aufnahme eines Studiums eingereist. Nach Auslaufen des Visums sind sie dann unerlaubt geblieben.

Niemand kann genau sagen, wie viele Menschen in Deutschland in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität leben. Eine Möglichkeit, zu einer nachvollziehbaren Schätzung zu kommen, ist die Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). In der PKS wird der Aufenthaltsstatus von allen ausländischen Tatverdächtigen erfasst. Die Erfassung muss nicht immer korrekt sein. Solange es aber keine bedeutenden Veränderungen der Erfassungspraxis gibt, bieten die Zahlen sinnvolle Ansatzpunkte für Rahmenschätzungen und Trendüberlegungen. Nachdem Indikatoren von 1998 bis 2009 auf einen kontinuierlichen Rückgang der papierlosen Bevölkerung hindeuteten, unter anderem durch die EU-Osterweiterung, ist seit 2010 wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Für das Jahr 2014 wird die Bevölkerung in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität auf mindestens 180.000 bis maximal 520.000 Personen geschätzt. In die Schätzung geht unter anderem die Annahme ein, dass Papierlose nach Erkenntnissen aus qualitativen Studien jegliche Polizeikontakte meiden und sich deshalb auch – von der aufenthaltsrechtlichen Seite abgesehen – überwiegend gesetzeskonform verhalten.

Lebenslagen und Probleme Papierloser


Die Motive für unerlaubte Einreisen und Aufenthalte sind vielfältig. (© picture-alliance/dpa)

Die Motive für unerlaubte Einreisen und Aufenthalte sind vielfältig. Einige Menschen verbinden damit die Hoffnung, für sich und ihre Familien die Situation im Herkunftsland zu verbessern. Sie planen, nur vorübergehend in Deutschland zu leben und zurückzukehren, sobald sie eine bestimmte Summe gespart haben. Andere sehen keine Perspektive im Herkunftsland und sind überzeugt, in Deutschland bleiben zu müssen, weil sie bei einer Rückkehr um ihr Wohlbefinden oder sogar Leben fürchten.

Das Überleben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität setzt das Bestehen sozialer Anschlüsse und Kontakte voraus, die eine Wohnmöglichkeit, eine Einkommensquelle und Unterstützung im Krankheitsfall bieten oder vermitteln. Papierlose Kinder brauchen außerdem Betreuung und Zugang zu Schulen. Einige Beispiele sollen Wege in die aufenthaltsrechtliche Illegalität und Überlebensmöglichkeiten illustrieren.

  • Eine Frau besucht ihre regulär in Deutschland lebende Schwester. Es gefällt ihr und sie kann mit Hilfe ihrer Schwester ein Zimmer zur Untermiete finden. Durch unangemeldete Beschäftigung in Privathaushalten kann sie genug verdienen, um davon zu leben und für eine bald geplante Rückkehr zu sparen.

  • Ein Asylbewerber hat während der Bearbeitungszeit seines Antrags gute Freunde in Deutschland gefunden. Als sein Antrag endgültig abgelehnt wird, zieht er erst einmal zu ihnen und sucht nach einer neuen Perspektive.

  • Ein Student verliebt sich zum Ende seines geplanten Studienaufenthalts in eine Ausländerin, die mit befristeter Aufenthaltserlaubnis in Deutschland lebt und arbeitet. Er zieht nach Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis zu ihr und bewegt sich erst einmal fast ausschließlich in Haushalt und Freundeskreis.

  • Eine illegal in Deutschland lebende Frau holt ihr Kind nach Deutschland, weil das Betreuungsarrangement im Herkunftsland zusammengebrochen ist.

Unabhängig davon, ob ein unerlaubter Aufenthalt geplant oder ungewollt zustande gekommen ist: In der aufenthaltsrechtlichen Illegalität ist das Risiko sehr hoch, dass Notlagen entstehen, die nicht mehr allein oder mit Hilfe des unmittelbaren Netzwerks bewältigt werden können.

Rechtlicher Schutz und Unterstützung für Menschen ohne Papiere


Weit verbreitet ist die Annahme, dass Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität keine Rechte haben oder zumindest "faktisch rechtlos" sind. Inzwischen hat der deutsche Gesetzgeber jedoch für einige Bereiche rechtliche Klarstellungen vorgenommen und die Rechtsstellung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus gestärkt. So hat der Gesetzgeber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei einer Notfallbehandlung von Papierlosen ein "verlängerter Geheimnisschutz" besteht. Auf Antrag der behandelnden Krankenhäuser haben Sozialbehörden die Kosten zu erstatten, ohne dass die personenbezogen Daten der behandelten Person an Ausländerbehörden weitergeleitet werden dürfen. Inzwischen gibt es in mehreren Städten spezialisierte private Projekte zur Gesundheitsversorgung irregulärer Migrantinnen und Migranten, die von Initiativen der medizinischen Flüchtlingshilfe oder der Malteser Migrantenmedizin angeboten werden. An einigen Orten werden diese Angebote mit öffentlichen Mitteln unterstützt, z.B. in Externer Link: München, Hamburg, Externer Link: Bremen und Externer Link: Göttingen.

Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sind seit 2011 von der Externer Link: Verpflichtung öffentlicher Stellen, Kenntnisse über einen illegalen Aufenthalt an die Ausländerbehörden zu melden, ausdrücklich ausgenommen. Damit soll dem Menschenrecht auf Bildung für alle in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen unabhängig vom Aufenthaltsstatus Geltung verschafft werden. Eine aktuelle Studie weist allerdings darauf hin, dass papierlose Kinder an vielen Schulen praktisch nicht angemeldet werden können, weil das Schulpersonal weiterhin von einer faktischen Rechtlosigkeit von Papierlosen ausgeht.

Im Jahr 2011 hat der Gesetzgeber ausdrücklich festgelegt, dass Papierlose Anspruch auf Auszahlung einer vereinbarten Vergütung auch aus unangemeldeter Beschäftigung haben und sie vor einem deutschen Arbeitsgericht einklagen können. Unter dem Dach der Gewerkschaften bieten einige Beratungsstellen irregulären Migrantinnen und Migranten gezielte Beratung und Unterstützung im Falle von Arbeitsausbeutung oder Lohnbetrug an. Allerdings hat eine Studie mit bulgarisch und albanisch sprechenden Personen in Berlin gezeigt, dass die arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen und Ansprüche nicht bekannt sind und an ihrer Durchsetzbarkeit gezweifelt wird.

Schließlich gibt es auch Ansätze, um individuelle Auswege aus der Illegalität zu finden. Härtefallkommissionen, die in den Bundesländern nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes von 2005 eingerichtet wurden, können in besonders gelagerten Einzelfällen auch irregulären Migrantinnen und Migranten eine Bleibeperspektive eröffnen. Einzelne Ausländerbehörden (München, Hamburg) bieten zudem anonymisierte Fallberatungen an. Dabei wird ohne Angabe der Identität geprüft, ob eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung erteilt werden kann. Das anonymisierte Verfahren klärt die Perspektiven von Personen, die möglicherweise Anspruch auf einen Aufenthaltsstatus haben, aus Angst vor Abschiebung aber jeden Kontakt mit Behörden vermeiden. Im Ergebnis ist es auch möglich, dass Betroffene eine freiwillige Rückkehr für sich als sinnvoll erkennen und angebotene Rückkehrhilfen annehmen.

Zwischen menschenrechtlicher Verpflichtung und Kontrollanspruch



Nach illegalen Einwanderern suchen zwei Bundespolizisten am 30.09.2014 auf dem Hauptbahnhof in Frankfurt am Main. (© picture-alliance/dpa)

Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität sind in Deutschland nicht völlig recht- und schutzlos. Sie haben grundlegende Rechte, brauchen aber Unterstützung, um sie in Anspruch zu nehmen. Die Unterstützungsangebote sind bisher aber lokal begrenzt und meist vom privaten Engagement abhängigInterner Link: abhängig. Die rechtlichen Bestimmungen zur Absicherung menschenrechtlicher Ansprüche irregulärer Migrantinnen und Migranten sind besser geworden, aber noch nicht umfassend.

Die Aufhebung von Übermittlungspflichten im Aufenthaltsrecht kann die faktische Inanspruchnahme von Rechten erleichtern, wenn sie bekannt sind und akzeptiert werden.

Vor diesem Hintergrund wurden auch weiter reichende Ansätze zur Achtung von Menschenrechten unabhängig vom Aufenthaltsstatus in die politische Debatte eingebracht. Diese scheitern bisher am ordnungspolitischen Einwand, dass damit die Einheitlichkeit der Rechtsordnung verletzt und eine Sogwirkung erzeugt würde. Aus menschenrechtlicher Perspektive wird diese Ansicht nicht geteilt. Die SPD Bundestagsfraktion hatte in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen, die Übermittlungspflicht grundsätzlich auf die Strafverfolgungsbehörden zu beschränken. Die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration stellte im September 2012 HandlungsempfehlungenExterner Link: Handlungsempfehlungen ihres Beirats vor, die u.a. eine weitere Einschränkung der Übermittlungspflichten in der Gesundheitsversorgung und Unterstützungsleistungen für den Kindergartenbesuch beinhaltete. Der Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen hat im Frühjahr 2015 vorgeschlagen, in Deutschland faktisch integrierten irregulären Migranten und Migrantinnen eine Bleibeperspektive zu eröffnen. Die Diskussionen um einen menschenrechtlich angemessenen Umgang mit Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus sind nach wie vor nicht abgeschlossen.

Literatur


Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015), Migrationsbericht 2013. Nürnberg, S. 186.
Externer Link: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2013.html?nn=1663558

Cyrus, Norbert (2013), Irreguläre Migration in Deutschland - Zur Kontroverse zwischen ordnungspolitischer und menschenrechtlicher Sichtweisen. In: Ministerium für Integration Baden-Württemberg (Hg.): Integrationspolitik im internationalen Vergleich. Beiträge zum internationalen Symposium des Ministeriums für Integration Baden-Württemberg an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 4.12.2012. Stuttgart.
Externer Link: http://www.integrationsministerium-bw.de/pb/site/pbs-bw/get/documents/mfi/MFI/pdf/2013-08-12-Integrationspolitik%20%282%29.pdf

Funck, Barbara; Karakaşoğlu, Yasemin; Vogel, Dita (im Erscheinen 2015) "Es darf nicht an Papieren scheitern" – Theorie und Praxis der Einschulung von papierlosen Kindern in Grundschulen. Universität Bremen.

Kößler, Melanie; Mohr, Tobias; Habbe, Heiko (2013), Aufenthaltsrechtliche Illegalität. Beratungshandbuch 2013. Berlin und Freiburg: Deutscher Caritasverband e.V. und Deutsches Rotes Kreuz e.V.
Externer Link: https://www.drk-wb.de/download-na.php?dokid=19382

Kovacheva, Vesela; Vogel, Dita (2012), Weniger Rechtsverletzungen durch mehr Informationen? Arbeitsmarkterfahrungen und Informationsbedarf bulgarisch- und albanischsprachiger Zugewanderter in Berlin. HWWI Research Paper 120. Hamburg.
Externer Link: http://www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/HWWI_Research_Paper-120.pdf

Vogel, Dita (2015), Update report Germany: Estimated number of irregular foreign residents in Germany (2014), Database on Irregular Migration, Update report,
Externer Link: http://irregular-migration.net/

Vogel, Dita; Aßner, Manuel (2011), Umfang, Entwicklung und Struktur der irregulären Bevölkerung in Deutschland. Expertise im Auftrag der deutschen nationalen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN) beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Nürnberg.
Externer Link: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/EMN/emn-wp-41-expertise-de.pdf?__blob=publicationFile.

Weitere Inhalte

Dita Vogel, Dr. rer. pol., ist Senior Researcher im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Sie ist unter anderem Projektleiterin "Nachfrageorientierte Maßnahmen und Initiativen gegen Menschenhandel".

Norbert Cyrus, Dr. phil, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen.