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"Das Leben im Flüchtlingslager wird zur Normalität" Ein Interview mit der Politikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Krause

Ulrike Krause

/ 13 Minuten zu lesen

Endstation Flüchtlingslager? Nahezu überall auf der Welt zwingen Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen Menschen dazu, ihr Zuhause zu verlassen. In Flüchtlingslagern suchen sie Schutz, in der Hoffnung, bald wieder heimkehren zu können. Wie gestaltet sich das Alltagsleben in einem Flüchtlingslager und wie stehen die Chancen für einen Neubeginn?

Schilderwald der Hilfsorganisationen: Die Einfahrt zu dem Flüchtlingslager in Uganda. (© Ulrike Krause)

Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (Interner Link: UNHCR) befanden sich Externer Link: 2015 6,7 Millionen Flüchtlinge, also 41 Prozent aller Flüchtlinge weltweit (ca. 16,1 Millionen), in sogenannten Langzeitsituationen (protracted refugee situations). Diese bestehen teilweise bereits mehr als 30 Jahre. Mit 86 Prozent lebte der Großteil aller Flüchtlinge in Ländern des Interner Link: Globalen Südens, wo auch viele große Flüchtlingslager zu finden sind. Wie Flüchtlingslager organisiert sind und wie der Lageralltag aussieht, berichtet Politikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Krause am Beispiel von Flüchtlingslagern in Uganda:

Kyaka II Refugee Settlement befindet sich im Zentrum von Uganda, etwa vier Autostunden von der Hauptstadt Kampala entfernt, und beherbergt vorwiegend kongolesische Flüchtlinge. Rhino Camp Settlement liegt im Nordwesten von Uganda. Hier sind hauptsächlich Südsudanesen untergebracht. In beiden Flüchtlingslagern hat Ulrike Krause Forschungen durchgeführt. Aktuell untersucht sie mit einer Kollegin in Kampala und Kyaka II im Rahmen eines Externer Link: Forschungsprojekts, wie Flüchtlinge zu ihrem eigenen Schutz beitragen.

Dr. Ulrike Krause (© GIZ/Deniss Kacs)

Wann und wie ist das Flüchtlingslager Kyaka II entstanden? Wie viele Menschen leben in dem Lager?

Kyaka II wurde 1983 gegründet und hat eine Fläche von 84 Quadratkilometern. Das entspricht ungefähr der Fläche von Görlitz. Das Lager ist für etwa 17.000 Flüchtlinge ausgelegt, zur Zeit meiner letzten Feldforschung im Jahr 2014 waren aber schon mehr als 22.000 Flüchtlinge in Kyaka untergebracht. 2016 stieg die Zahl auf über 27.000 Flüchtlinge, weil die Konflikte in den Nachbarländern anhalten und nach wie vor viele Menschen fliehen müssen. Zum Vergleich: Das Rhino Camp wurde 1992 gegründet, hat aber eine Fläche von 225 Quadratkilometern und ist damit deutlich größer als die Stadt Hannover. Es bietet Platz für etwa 40.000 Personen. Ich spreche von Personen, weil damit Flüchtlinge wie auch Uganderinnen und Ugander gemeint sind, die dort Seite an Seite leben. Die Lager in Uganda sind so groß, weil Flüchtlinge ein Stück Land bekommen, auf dem sie Landwirtschaft betreiben können.

Wie kommt es, dass auch Einheimische in Flüchtlingslagern leben?

Weltweit sind die Strukturen in Flüchtlingslagern ähnlich. Sie dienen als zeitlich und geografisch begrenzte Räume zur Ansiedlung, Unterstützung und Schutzbereitstellung für Flüchtlinge. Je nach nationaler Politik kann sich die Ausrichtung etwas abwandeln. Die ugandische Politik bezog von Beginn an Land für landwirtschaftliche Betätigungen der Flüchtlinge in ihre Flüchtlingspolitik ein und verbindet dadurch Externer Link: Flüchtlingsschutz und nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit. Dadurch können finanzielle Mittel, die die Regierung für die Bereitstellung und den Unterhalt von Flüchtlingslagern erhält, für die Entwicklung der gesamten Region genutzt werden, in der sich die Flüchtlingslager befinden. Diese Regionen waren zuvor dünn besiedelt. Es handelte sich um ländliche Räume ohne Infrastrukturen. Mithilfe der Flüchtlingssiedlungen vor Ort konnten ebendiese Infrastrukturen hergestellt werden: Elektrizität, Straßen, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung. Dabei werden Bildungs- und Gesundheitssysteme so aufgestellt, dass sie langfristig genutzt werden können, also auch wenn Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind.

Das kann sowohl negativ als auch positiv gesehen werden. Positiv ist, dass sowohl Flüchtlinge als auch Uganderinnen und Ugander Zugang zu sozialen Dienstleistungen erhalten. Ich selbst sehe die Verknüpfung von Flüchtlingsschutz und Entwicklung kritisch: Zentral sollte der Schutz der Flüchtlinge sein, nicht die infrastrukturelle Entwicklung einer Region. In Uganda passiert zwar viel im Flüchtlingsschutz. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Art und Weise, wie der Flüchtlingsschutz entwicklungsorientiert ausgestaltet wird, Schwachstellen hat. In meiner Doktorarbeit habe ich das genauer untersucht. Einerseits wird unter "nachhaltiger Entwicklung" primär die Versorgung mit lebensnotwendiger Nahrung durch Landwirtschaft verstanden. Dies ist ein unzureichendes Verständnis von Nachhaltigkeit. Andererseits können nicht alle Flüchtlinge Landwirtschaft betreiben, weil der Boden teils sandig ist und darauf nichts wächst oder weil die Menschen vorher in Städten wohnten und keinerlei Erfahrung mit Landwirtschaft haben.

Es bestehen also keine realistischen Möglichkeiten, dass sich Lagerbewohner selbst ernähren können? Sie sind weitgehend auf die Versorgung mit Lebensmitteln durch Hilfsprogramme wie das Interner Link: Welternährungsprogramm angewiesen?

Richtig. Alle mir bekannten Studien und alle Interviews, die ich geführt habe, zeigen, dass die Landwirtschaft nicht ausreicht, um ein selbstständiges Leben zu führen. Darüber hinaus wird mit Blick auf Landwirtschaft das Leben der Flüchtlinge auf die Nahrungsproduktion, also auf das pure Überleben reduziert. Selbstverständlich ist Nahrung notwendig zum Überleben, wenn Flüchtlinge aber über Jahre und Jahrzehnte hinweg im Lager sind, brauchen sie auch Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Wünsche, Ziele und Bedarfe der Menschen werden ausgeklammert.

Welche Aufgaben erfüllen die Hilfsorganisationen vor Ort? Wie läuft die Zusammenarbeit der Hilfsorganisationen?

Generell werden Flüchtlingslager von der Regierung des Asyllandes und von UNHCR geleitet. Maßnahmen im operativen Flüchtlingsschutz werden meist von Nichtregierungsorganisationen umgesetzt und betreffen beispielsweise Bildung, medizinische Versorgung, sanitäre Anlagen sowie Sensibilisierungsarbeit, etwa zur Gewaltprävention. Da die humanitären Organisationen in Flüchtlingslagern weitreichende Entscheidungen übernehmen, werden sie teilweise als "humanitäre Regierungen" Externer Link: bezeichnet.

Der Flüchtlingsschutz wird multisektoral und cross-sektoral umgesetzt. Multisektoral bedeutet, dass alle Organisationen zur gleichen Zeit tätig sind. Organisationen arbeiten entsprechend ihrer Expertise in bestimmten Sektoren. Zum Beispiel ist eine Organisation für die medizinische Versorgung verantwortlich. Sie baut eine Klinik im Lager auf, stellt Medikamente, ausgebildete Mitarbeiter und Ärzte bereit. Eine andere Organisation ist für den Bildungssektor zuständig. Sie stellt Lehrer an und richtet Schulen ein: das physische Gebäude, Schreibtische, Stühle, Tafeln, Kreide, Bücher. Eine weitere Organisation errichtet nachhaltige sanitäre Anlagen, sodass sie auch noch in zehn Jahren benutzbar sind. Dabei können mehrere Organisationen in einem Sektor tätig sein und verschiedene Bereiche abdecken.

Was cross-sektoral bedeutet, kann am Schutz vor sexueller Gewalt gezeigt werden. Hierfür setzen Organisationen Projekte in unterschiedlichen Sektoren (z.B. Bildung, Gesundheit, sanitäre Anlagen und Hygiene) um. In den Kliniken werden beispielsweise nicht nur Opfer behandelt, sondern auch Aufklärungs- und Bildungsmaterialien zur Verfügung gestellt. Darin wird erklärt, was widerrechtlich ist, wie man sich vor Gewalt schützen kann und wie Gewalttaten gemeldet werden können. In Büros von Organisationen können Gewaltopfer psychosoziale Betreuung und Beratung erhalten, um Erlebnisse zu bewältigen. Parallel dazu klären Schulen frühzeitig über sexuelle Gewalt und Hilfsmöglichkeiten auf. Im Bereich der sanitären Anlagen wird dafür gesorgt, dass Toiletten abschließbar sind und nicht nur ein Vorhang davorhängt. Abschließbare Toiletten sind ein so einfaches Beispiel, wodurch zu mehr Sicherheit beigetragen werden kann.

Im besten Fall greift die Arbeit der unterschiedlichen Sektoren wie ein Puzzle ineinander und ergänzt sich gegenseitig. Das funktioniert zwar sicherlich nicht immer, aber Organisationen haben sehr viele und regelmäßige Treffen, um sich abzustimmen. Die Büros der Organisationen sind zentral im sogenannten base camp von Flüchtlingslagern angesiedelt, sodass der Austausch möglich ist. Gleichzeitig stehen die verschiedenen Hilfsorganisationen aber auch in Konkurrenz zueinander, da sie alle finanzielle Mittel einwerben müssen, um ihre Arbeit durchführen und Mitarbeiter bezahlen zu können.

Vor welchen Herausforderungen stehen Hilfsorganisationen bei der Versorgung der Flüchtlinge und der Verbesserung ihrer Lebenssituation?

Es herrscht immer Unsicherheit, ob Projekte nachhaltig oder nur für wenige Monate oder Jahre gefördert werden. Eine andere Herausforderung von humanitären Organisationen ist der häufige Wechsel von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Gutes Personal bekommt verschiedene Angebote, weswegen es sehr oft den Arbeitgeber wechselt. Dieser Wechsel ist durchaus problematisch, denn die Mitarbeitenden sind nicht nur Anlaufstellen für Flüchtlinge, sondern sie sind auch in Kontakt mit dem Hauptbüro der eigenen Organisation, mit internationalen Büros sowie mit den anderen Organisationen im Flüchtlingslager. Die hohe Fluktuation kann also weitreichende Auswirkungen haben, weil immer auch ein Stück weit institutionelles Wissen verloren geht.

Besonders spannend finde ich, dass Sie mich fragen, was humanitäre Organisationen tun, damit Flüchtlinge ein besseres Leben haben, und nicht, was Flüchtlinge selbst machen, um ihr Leben zu verbessern. Das geht unmittelbar mit der Logik einher, Flüchtlinge seien Objekte des Systems, reine Hilfsempfänger und keine eigenständigen Akteure. Lassen Sie mich eine Gegenfrage stellen: Wenn bei uns Krieg wäre und Sie und ich fliehen müssten, würden wir dann einfach nur dasitzen und darauf warten, dass uns jemand etwas zu essen gibt? Nein, wir würden uns bemühen, die neue Lebenswelt zu verstehen, Stabilität in unser Leben zu bringen, zu arbeiten, Sicherheit für unsere Kinder oder Angehörigen zu schaffen.

Flüchtlinge unternehmen sehr viel, um sich selbst zu helfen und zu schützen. Aktuell untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend, wie Flüchtlinge dies trotz – oder vielleicht wegen – der schwierigen Lebensbedingungen tun. Eine Studie des Humanitarian Innovation Project der Universität Oxford klärt beispielsweise über fünf Mythen über Flüchtlinge auf und informiert über wirtschaftliches Engagement von Flüchtlingen. In meinen Augen ist die Studie vor allem deswegen sehr wichtig, weil sie deutlich macht, dass Flüchtlinge keineswegs hilflos und passiv sind. In meiner eigenen Forschung habe ich gesehen, dass Flüchtlinge eigenständig sowie in Zusammenarbeit mit anderen Flüchtlingen viele unterschiedliche Möglichkeiten der Existenzsicherung entwickeln. Dazu bauen sie wirtschaftliche Netzwerke auf. Zum Beispiel verkaufen Flüchtlinge in Kyaka II Fisch, den sie in einem anderen Flüchtlingslager im Westen Ugandas gekauft haben. Eine kongolesische Frau benutzte ihre Netzwerke im Kongo und in Kampala dafür, traditionelle Stoffe zu kaufen und in Kyaka II weiterzuverkaufen. Besonders bemerkenswert war ein Mann, der im Kongo Lehrer war und im Flüchtlingslager auf viele Analphabeten traf. Er lehrte sie lesen und schreiben. Als Gegenleistung verlangte er kein Geld. Stattdessen sollten alle etwas zu essen und zu trinken mitbringen, was dann geteilt wurde.

Wie gehen die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen und die Vertreter der Regierungen mit den Flüchtlingen um?

Generell geht es für die humanitären Organisationen darum, ihre Projekte umzusetzen. Sie sollen im Flüchtlingsschutz partizipativ mit Flüchtlingen arbeiten, wofür es auch einige Regularien bzw. Ansätze gibt. Die Ansätze zielen auf die Projektkonzeptionierung, -umsetzung, -evaluierung und das -monitoring gemeinsam mit Flüchtlingen ab. Jedoch haben Organisationen eine starke Machtposition inne. Sie entscheiden über Projekte. Flüchtlinge selbst haben nur wenige Möglichkeiten der Mitbestimmung. In Interviews beklagten einige Flüchtlinge zudem, dass manche Mitarbeiter – nicht alle – sie erniedrigend und unmenschlich behandelten. Sie fühlten sich entmenschlicht und entwürdigt. Nicht zuletzt, weil Flüchtlinge teilweise über viele Jahre hinweg in Lagern leben müssen, ist der Umgang mit ihnen ein ernstzunehmendes Thema.

Stehen die selbstständigen Praktiken der Flüchtlinge in Gegensatz oder Konflikt zu den Strukturen und Maßnahmen der Hilfsorganisationen und der Regierung?

Eine kurze Antwort wäre: Ja und nein. Dadurch, dass die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Lagern durch die humanitären Organisationen und die Regierung des Asyllandes gerahmt werden, müssen sich Flüchtlinge zum Teil darüber hinwegsetzen, um ihren eigenen Wünschen, Hoffnungen, Zielen und Bedarfen nachgehen zu können. Häufig dürfen Flüchtlinge Lager nicht oder nur mit Genehmigung eines Regierungsvertreters verlassen. Wenn man sich nun vorstellt, dass es in Flüchtlingslagern keine oder sehr begrenzte Arbeitsmöglichkeiten gibt, müssen sich Flüchtlinge über die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit hinwegsetzen, um Arbeit zu finden. Flüchtlinge erzählten mir, dass sie das Lager für mehrere Tage oder einige Wochen verlassen, um Geld zu verdienen und zurückzubringen.

Wie steht es um die Beziehungen zwischen Flüchtlingen untereinander, aber auch zwischen der ortsansässigen Bevölkerung und Flüchtlingen?

Das ist wie bei uns auch: Manche Leute mögen sich und manche nicht. Flüchtlinge leben teilweise nebeneinanderher, teilweise entstehen Freundschaften, Arbeitskooperationen oder soziale Unterstützungsnetzwerke. Was das Leben der Menschen selbstverständlich verbindet, sind ähnliche Erfahrungen, die sie im Krieg sowie auf der Flucht gemacht haben und aktuell in den Flüchtlingslagern machen. Häufig ähneln sich Alltagsthemen und -sorgen. Auch mit Uganderinnen und Ugandern entwickeln sich Freundschaften oder auch intime Beziehungen. Teilweise arbeiten Flüchtlinge für Uganderinnen und Ugander.

In Deutschland wird momentan debattiert, ob und inwiefern der Islam in unsere Kultur passt. Solche Diskussionen kenne ich aus Uganda nicht. In Uganda leben Menschen unterschiedlicher Religionen friedlich nebeneinander; sie leben eine religiöse und ethnische Offenheit aus. Natürlich gibt es Vorurteile, wie auch wir in Deutschland Vorstellungen von Sachsen, Bayern oder Ostfriesen haben. Ähnlich ist es in Uganda und unter Flüchtlingen. Es gibt aber keine gewaltsamen Konflikte entlang ethnischer oder religiöser Linien zwischen Uganderinnen und Ugandern und Flüchtlingen.

Wie kann ich mir die Lebensbedingungen und den Alltag in einem Flüchtlingslager vorstellen?

Der Alltag gestaltet sich ähnlich wie bei uns. Die Menschen stehen morgens auf, versorgen ihre Kinder und Angehörigen, kümmern sich um ihren Haushalt, kochen, sie gehen einer Arbeit nach. Flüchtlinge – ob in Lagern oder nicht – haben ein Familienleben, sie haben Freunde und Freundinnen, mit denen sie Zeit verbringen und die sich gegenseitig unterstützen. In Flüchtlingslagern gibt es Bars, Cafés und soziale Plätze, Märkte. Die Menschen versuchen, Einkommensquellen zu finden. All diese Aspekte tragen dazu bei, dass Flüchtlingslager als Städte dargestellt werden können und das Leben trotz vielfältiger Einschränkungen normal wird.

Das Leben im Flüchtlingslager wird also zum Alltag, zur Normalität, weil es über viele Jahre andauert. Flüchtlingslager dienen zwar als Übergangsräume, in denen zeitweise Schutz und Unterstützung bereitgestellt werden, bis eine dauerhafte Lösung für die Flüchtlinge gefunden wird. Da es weltweit jedoch viele Langzeitsituationen gibt, entwickeln sich diese Übergangsräume zu provisorischen Lebensräumen. Gleichzeitig soll die Unterbringung in Lagern den Asylländern ermöglichen, Kontrolle über die im Land lebenden Flüchtlinge auszuüben.

Zentral ist, dass die Lebensbedingungen im Flüchtlingslager durch humanitäre Strukturen geprägt sind. Es ist klar geregelt, was Lagerbewohner dürfen und was nicht, welche Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten sie haben. Das kann für Flüchtlinge sehr einschränkend sein. Ferner ist die Gewalt in Flüchtlingslagern immens hoch. Dennoch passen die Menschen ihr Leben diesen Strukturen irgendwie an. Ich habe mit Menschen gesprochen, die seit den 1960er Jahren im Flüchtlingslager leben. Kyaka II und Rhino Camp existieren seit mehr als 20 Jahren. Manche Flüchtlinge leben ununterbrochen in einem Flüchtlingslager, andere immer wieder.

Das Rhino Camp in Uganda, in dem Ulrike Krause Forschungen durchführte. (© UNHCR/Mark Pearson)

Welche Erfahrungen machen Flüchtlinge mit Gewalt in Flüchtlingslagern?

Im letzten Forschungsprojekt zu sexueller Gewalt an Frauen in Flüchtlingslagern haben wir eine Umfrage durchgeführt. Wir fragten, wie häufig ihrer Einschätzung nach sexuelle Übergriffe geschehen. Das Ergebnis: Die meisten Flüchtlinge schätzten, dass Gewalt täglich oder regelmäßig ausgeübt wird. Gewalt kann überall stattfinden: Nicht nur zu Hause, sondern auch auf öffentlichen Plätzen, auf Märkten, beim Wasserholen, auf den Schulwegen, in Schulen durch Lehrer. Gewalt ist omnipräsent.

Dennoch ist das Leben außerhalb von Flüchtlingslagern nicht unbedingt sicherer. Auch in Städten sind Flüchtlinge vielfältigen Herausforderungen, Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung, Gewaltvorfällen und Korruption ausgesetzt. Flüchtlinge müssen oft in informellen Sektoren arbeiten. Dabei sind vor allem Frauen häufig dazu gezwungen, sexuelle Gegenleistungen für die Miete oder für Lebensmittel in Städten zu erbringen. Somit können Erfahrungswelten von Flüchtlingen stark von Gewalt und Unsicherheit geprägt sein.

Wie gehen die Geflüchteten und auch die Hilfsorganisationen mit dieser Gewalt um?

Das sehen wir uns im Externer Link: aktuellen Forschungsprojekt an. Erschreckenderweise antworteten Frauen in Kampala in den Interviews häufig, dass sie schnellen Schrittes gehen, um ihr Ziel rasch zu erreichen und sich keinen Übergriffen auszusetzen. In Kyaka II setzen humanitäre Organisationen Maßnahmen gegen Gewalt um. So sollen beispielsweise Aufklärungsprogramme über Gewalt die Zahl der Übergriffe reduzieren oder psychosoziale Betreuung zur Heilung der Opfer beitragen. Darüber hinaus ergreifen Flüchtlinge nicht nur individuelle Maßnahmen, sondern sie unterstützen sich auch gegenseitig: Kinder gehen zum Beispiel morgens gemeinsam zur Schule. Gleiches zeigt sich beim Wasserholen oder bei der Arbeit auf dem Feld: Vor allem Mädchen und Frauen unternehmen alles gemeinsam, um Gewaltübergriffe zu vermeiden.

Die sozialen Hierarchien unter Flüchtlingen in Kyaka II sind stark altersbezogen. Älteste oder Ältestenräte bekommen aufgrund ihres Alters sehr viel Respekt vonseiten der Gemeinde. Ältestenräte unterstützen nicht nur bei der Lösung familiärer Konflikte. Besonders weibliche Älteste setzen sich für die Aufklärung gegen Gewalt an Frauen ein. Sie erklären, dass Gewalt nicht in Ordnung ist, sie helfen Frauen dabei herauszufinden, wo sie Unterstützung erhalten.

Wie stehen die Integrationschancen vor Ort, die Rückkehrchancen und die Resettlementchancen der Geflüchteten?

Hiermit sprechen Sie die drei dauerhaften Lösungen im Flüchtlingsschutz an: Freiwillige Rückführung in Heimatländer, lokale Integration und Interner Link: Umsiedlung in sichere Drittstaaten. Umsiedlungsprogramme in sichere Drittstaaten gibt es immer wieder, vor allem in die Interner Link: USA und nach Interner Link: Kanada. Das sind allerdings sehr kleine Programme, in denen nur wenige Menschen unterkommen können. Die Chancen, umgesiedelt zu werden, sind also ausgesprochen gering.

Flüchtlinge sind zwar insofern lokal integriert, als dass sie meistens mehrere lokale Sprachen sprechen, von denen es in Uganda über 40 gibt. Sie sind aber nicht strukturell und formal integriert und haben nur sehr geringe Möglichkeiten, dauerhaft in Uganda zu bleiben und die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Uganda ist bei der dauerhaften Integration der Flüchtlinge sehr zurückhaltend. Zum einen hat Uganda eine eigene Vertreibungsgeschichte aufgrund des Bürgerkrieges von 1986 bis 2006. Die Bevölkerung ist kriegsmüde und friedenshungrig, doch liegt das Land in einem Brennpunkt. Im Norden ist der Südsudan, im Westen die Demokratische Republik Kongo und Interner Link: Burundi. Während im Interner Link: Südsudan Konfliktgewalt wieder ausgebrochen ist, herrscht im Interner Link: Kongo seit Jahrzehnten Krieg. Immer wieder fliehen Menschen. Die Flüchtlingszahlen steigen rasant, in Uganda befinden sich derzeit über eine Million Flüchtlinge. Seit der Staatsgründung in den 1960er Jahren hat Uganda sehr viele Flüchtlinge aus Nachbarländern aufgenommen. Es hat nicht die Kapazitäten, eine tatsächliche lokale Integration im Sinne von Einbürgerungen umzusetzen. Dann wäre Uganda nämlich dafür verantwortlich, dass die Menschen Englisch lernen und kulturell integriert werden. Uganda wäre für alle weiteren administrativen Schritte zuständig.

Die ugandische Regierung verfolgt langfristig das Ziel der freiwilligen Rückführung von Flüchtlingen in ihre Herkunftsländer. Aufgrund der anhaltenden Unsicherheit oder der wieder aufflammenden Konflikte in den Herkunftsländern können Flüchtlinge jedoch nicht zurückkehren. Flüchtlinge müssen daher auf unbestimmte Zeit in Flüchtlingslagern leben.

Das Interview führte Anna Flack, Redaktion focus Migration.

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arbeitete nach dem Studium der Friedens- und Konfliktforschung für verschiedene Hilfsorganisationen in mehreren Flüchtlingslagern in Uganda. Derzeit ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, Mitglied im Vorstand des Netzwerks Flüchtlingsforschung und der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. Sie leitet den Flüchtlingsforschungsblog und ist Mitherausgeberin der Zeitschrift für Flüchtlingsforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Zwangsmigration, Flüchtlingsschutz und -arbeit, Flüchtlings- und Entwicklungszusammenarbeit, Geschlechterverhältnisse und geschlechterbasierte Gewalt sowie Global and Local Governance.