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Vom Kolonisten in Russland zum Bundesbürger | Russlanddeutsche | bpb.de

Russlanddeutsche Geschichte Von der Anwerbung unter Katharina II. bis 1917 Nationalitätenpolitik gegenüber der deutschen Minderheit in der Sowjetunion von 1917 bis zur Perestrojka Die "Deutsche Operation" Geschichte der Russlanddeutschen ab Mitte der 1980er Jahre Vom Kolonisten in Russland zum Bundesbürger Ankunft in Friedland Vor 100 Jahren: Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen Leben und Kultur der Deutschen im Ural und Sibirien nach der Deportation Leben und Kultur der Deutschen in der Kasachischen SSR nach der Deportation Kultur und Gesellschaft Spätaussiedler, Heimkehrer, Vertriebene Identität und Ethnizität Russlanddeutsche Migrationsgeschichte in kulturhistorischer Perspektive Russlanddeutsche in den bundesdeutschen Medien Russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler in russischen Medien Russlanddeutsche Literatur Postsowjetische Migranten in Sozialen Netzwerken Russlanddeutsche Alltagsgeschichte Der "Fall Lisa" Russlanddeutscher Samisdat Abschnitt I: Einführung A. Deutsche Dissidenten, Oppositionelle und Nonkonformisten im sowjetischen Unrechtsstaat (1950er–1980er Jahre) B. Russlanddeutscher Samisdat und das Umfeld seiner Entstehung C. Anmerkungen zu den Quellen Abschnitt II: Quellenteil Teil 1: Der Kampf um die Autonomie und für nationale und bürgerliche Gleichberechtigung Teil 2: Intellektueller Samisdat Teil 3: Kampf um die Ausreise aus der UdSSR nach Deutschland (BRD und DDR) Teil 4: Künstlerische und volkskundliche unzensierte Werke Abschnitt III: Lebensläufe einiger nonkonformer Aktivisten und Dissidenten Erich (Erhard) Abel Therese Chromowa Eduard Deibert Wjatscheslaw Maier Andreas (Andrej) Maser Ludmilla Oldenburger Friedrich Ruppel Friedrich Schössler Konstantin Wuckert Abkürzungsverzeichnis Redaktion

Vom Kolonisten in Russland zum Bundesbürger

Viktor Krieger

/ 27 Minuten zu lesen

Sie kamen als gerufene Kolonisten nach Russland, gelockt mit Vorteilen wie Selbstverwaltung, Glaubensfreiheit u.a. – und erlebten im 20. Jahrhundert eine Zeit der Unterdrückung, Verfolgung, Ermordung und Zwangsumsiedlung. Diejenigen Russlanddeutschen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland übersiedelten, mussten um ihre gesellschaftliche Akzeptanz kämpfen. Viktor Krieger zeichnet die Grundzüge ihrer Geschichte nach.

Ein Supermarkt in Ludwigsburg am 24.08.2017. (© picture-alliance/dpa)

Für viele Russlanddeutsche bleibt bis heute im historischen Gedächtnis der Umstand maßgebend, dass ihre Vorfahren seit Katharina II. in das Russische Reich zur Kultivierung und Besiedlung der wenig erschlossenen Gegenden "berufen" wurden, um den Zaren bzw. dem Staat zu "dienen". Auf der einen Seite erwuchs daraus ein für die damalige Zeit nicht unübliches Vasallen-Dienstherren-Verhältnis: Der freie Mann stellt sich und seine Familie in die Dienste seines Herren und beide Parteien haben wechselseitige Rechte und Pflichten. Von den angeworbenen Siedlern wurde die Loyalität zum herrschenden Haus, Staatspatriotismus, Gesetzestreue und nicht zuletzt eine dem Staat Nutzen bringende Produktivität erwartet.

Auf der anderen Seite pochten die Einwanderer auf die Einhaltung der versprochenen "Vorteile" wie Selbstverwaltung, Glaubensfreiheit, Befreiung vom Militär- und Zivildienst sowie sprachlich-kulturelle Selbstbestimmung. Gleichzeitig nahm man für sich das Recht auf freie Auflösung des "Dienstverhältnisses" in Anspruch, wenn der Herrscher bzw. die Regierung seinen/ihren eigenen Zusagen nicht nachkam, die Vertragsbedingungen einseitig verletzte oder Gesetze missachtete. Das Letztere implizierte auch das Recht auf Abzug oder auf Auswanderung, und dieses Selbstverständnis wird in der Geschichte der Russlanddeutschen stets eine wichtige Rolle spielen. Somit entstand eine Art von Rechts- und Vertragsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit, was sich unter anderem an einer sehr geringen Beteiligung an staatsgefährdenden Aktivitäten ablesen lässt. Gleichzeitig sind zahlreiche Aufbegehren gegen lokale Behörden und Beamtenwillkür überliefert, was auf ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein der Siedler hindeutet.

Unterstellung unter eine Sonderbehörde

Im Einklang mit den Bestimmungen des Berufungsmanifestes der Kaiserin Katharina II. vom 22. Juli 1763 waren die angeworbenen Siedler in einem gesonderten Landesstand den russischen Kronbauern (Staatsbauern) gleichgestellt. Ein eigenständiger "Kolonistenstand" bedeutete eine gesonderte Gerichtsbarkeit, Unterstellung unter eine staatliche Sonderbehörde, Verwendung des Deutschen als Amtssprache auf allen Ebenen der inneren Verwaltung, Bildung katholischer und evangelischer Pfarrbezirke. Somit reduzierten sich Kontakte zu den Nachbarvölkern auf ein Minimum, wenngleich die vielfach erfolgte Ansiedlung in menschenarme Gegenden derartige Begegnungen ohnehin nahezu ausschloss. Das gemäß den vertraglich vereinbarten Bedingungen bei der Ansiedlung zugewiesene Land stand dem einzelnen Siedler zur "ewigen Erbnutzung" zur Verfügung, galt aber nicht als Privat-, sondern als Gemeindeeigentum. Deshalb durften einzelne Bauern ohne die Einwilligung der ganzen Gemeinde und der vorgesetzten Behörden ihr Land weder verkaufen noch verpfänden, sodass der Zugang in das deutsche Kolonistendorf für Ortsfremde auch aus diesem Grund praktisch versperrt war.

Die Behörden, die Gemeinde- und Kirchenleitung übten auf einzelne Mitglieder einen stark normierenden Druck aus, um sie zur Untertanentreue, Frömmigkeit, Sittlichkeit, Pflichterfüllung und nicht zuletzt zu einer produktiven Arbeitsbeschäftigung zu zwingen bzw. zu erziehen. Auffälliges oder delinquentes Verhalten, religiöse Ketzerei und insbesondere eine wirtschaftliche "Nutzlosigkeit" oder vermutete "Arbeitsunlust" wurden umgehend sanktioniert, vor allem durch den Ausschluss aus der Gemeinde. Bis 1871 wurden die angeworbenen ausländischen Kolonisten und ihre Nachkommen unter eigens zu diesem Zweck geschaffenen Vormundschaftskontoren bzw. Fürsorgekomitees verwaltet. Später wurde diese Sonderregelung aufgegeben und die allgemeine örtliche Verwaltung für zuständig erklärt. An die Stelle des gewünschten zentralen Verwaltungsorgans traten mehrere Gouvernements- und Bezirksbehörden.

Zwischen Emigration und politischer Beteiligung

Allerdings betrachtete ein Teil der deutschen Siedler die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht drei Jahre später, im Jahr 1874 als einen von der Regierung ausgehenden, einseitigen Bruch der gemeinsamen, vertraglich festgeschriebenen Rechtsverpflichtungen.

QuellentextSo heißt es in einem damals entstandenen Volkslied:

Katharina, als sie Kaiserin war,
Und ihren ersten Sohn gebar,
Denkt sie an den großen Eid:
Die Deutschen sollen sein befreit.
Herrscher in dem russ[']schen Reich,
Alexander und Monarch zugleich!
Brichst du deiner Mutter Wort,
So müssen deutsche Kinder fort.

Zum ersten Mal in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte entstand eine Emigrationsbewegung, die vor allem die pazifistischen Mennoniten, aber auch einen Teil der Wolgadeutschen erfasste: Zielländer für die ersteren waren Kanada und die USA, bei den letzteren waren es zunächst Argentinien und Brasilien, da sie den Einwanderern erlaubten, sich in geschlossenen Gemeinden anzusiedeln. Bis zum Ersten Weltkrieg lief die Emigrationsbewegung mit unterschiedlicher Intensität weiter, vornehmlich nach Nordamerika. Dabei waren nicht nur sozioökonomische Gründe wie Landknappheit, Bevölkerungsüberschuss oder bessere Verdienstmöglichkeiten ausschlaggebend. Der wachsende russische Nationalismus, hastige Russifizierungsmaßnahmen im sprachlich-kulturellen Bereich, gesetzliche Restriktionen beim Landerwerb, staatlicher Druck auf die sog. Stundisten (Anhänger eines protestantischen Erneuerungsbewegung, siehe Glossar Stundismus) u. ä. m. haben ebenfalls zur Auswanderung beigetragen. Zwischen 1870 und 1914 emigrierten allein in die USA etwa 120 000 Deutsche aus den Wolga- und Schwarzmeerkolonien.

Auf der anderen Seite versuchten die Siedler, ihre Interessen auf der lokalen Ebene, in den Selbstverwaltungsorganen (Semstwo) und verstärkt seit 1905, dem Jahr des Übergangs zu einer parlamentarischen Monarchie, in der Reichsduma zu vertreten. Dabei sind solche Abgeordnete wie der wolgadeutsche Rechtsanwalt Jakob Dietz in der I. Reichsduma (1906) und der aus einer Siedlerfamilie im Gouvernement Cherson stammende Jurist Ludwig-Gottlieb Lutz in den II-IV Reichduma (1907–1917), Absolvent der Odessaer Universität, hervorzuheben.

Während des ersten Weltkrieges erlebten deutsche Siedler – obwohl russische Staatsbürger – zahlreiche Rechtsverletzungen und Unterdrückungen. Vor allem die seit Februar 1915 beabsichtigte und bis Ende der Monarchie teilweise durchgeführte Enteignung ihres Landbesitzes hatte eine weitgehende Entfremdung von der russischen Gesellschaft und dem russischen Staat ausgelöst. Vor Hunderttausenden Betroffenen tat sich die Perspektive einer weitreichenden kulturellen und politischen Marginalisierung sowie einer wirtschaftlichen Verelendung auf. Das hat die gesetzestreuen und loyalen "russischen Deutschen" zutiefst erschüttert; in allen Siedlungsgebieten und schichtenübergreifend entstand ein allgemeines Nachdenken über ihre Existenzbedingungen und Zukunftsperspektiven im Russischen Reich.

Machtergreifung der Bolschewiki

Die Machtergreifung der Bolschewiki im November 1917 bedeutete für alle russischen Bürger den kompletten Zusammenbruch der alten Lebenswelt; das Land stürzte in den blutigen Bürgerkrieg, der im Wesentlichen bis 1920 andauerte. Die Mehrheit der Russlanddeutschen stand den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zielen der neuen Machthaber skeptisch bis ablehnend gegenüber, umso mehr, als die rücksichtslosen Lebensmitteleintreibungen zu einer beispiellosen Hungerkatastrophe Anfang der zwanziger Jahre in ganz Sowjetrussland führten. Allein unter den Wolgadeutschen waren nicht weniger als 100.000 Hunger- und Seuchenopfer zu beklagen. In beinahe aussichtsloser Verzweiflung griffen die Siedler zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu den Waffen, um ihr Recht auf Leben, auf Unversehrtheit der Person und auf den gesetzmäßigen und unter vielen Opfern erworbenen Privatbesitz zu verteidigen. Ähnlich wie bei anderen russländischen Völkern äußerte sich ihr antibolschewistischer Widerstand in zahlreichen Bauernaufständen und -unruhen.

Erzwungene Rückbesinnung auf die Urheimat

Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Nachkommen der einstigen Kolonisten kein Thema in den bilateralen deutsch-russischen Beziehungen. In den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk mit der selbständigen Ukrainischen Volksrepublik und mit Sowjetrussland wurden sie zum ersten Mal Gegenstand diplomatischer Bemühungen. Das lag vor allem an der Enteignungs- und Verfolgungspolitik der an die Macht gekommenen bzw. drängenden Bolschewiki, die viele verunsicherte und um ihr Leben bangende Russlanddeutsche zu einer Rückbesinnung auf ihre Urheimat bewog. Die verheerende Hungersnot der Jahre 1921-22 ließ erstmals auch eine breite reichsdeutsche Öffentlichkeit auf die wolga- und schwarzmeerdeutschen Siedler aufmerksam werden ("Brüder in Not"-Aktion). Seither blieben sie mit unterschiedlicher Intensität ein politischer und gesellschaftlicher Faktor in den (west)deutsch–sowjetischen/russischen Beziehungen.

Neben Hunderttausenden antibolschewistischen Flüchtlingen aus dem einstigen Zarenreich etablierte sich in Deutschland nach 1917 eine zahlenmäßig kleine, aber politisch durchaus aktive Gruppe russlanddeutscher Emigranten. Aufgrund der ungünstigen Tendenzen im Sowjetstaat propagierte sie die endgültige Rückkehr ihrer "wanderlustigen" Landsleute in die historische Heimat als die einzig mögliche Überlebensalternative. Aus vielerlei Gründen stand der Realisierung dieser Option zu dem damaligen Zeitpunkt vieles im Weg, nicht zuletzt der desolate wirtschaftliche Zustand der Weimarer Republik, der eine osteuropäische Zuwanderung höchst unerwünscht machte.

Modus Vivendi mit dem bolschewistischen Staat

Als eine demographisch unbedeutende Minderheit mussten sich die deutschen Siedler mit den neuen Machthabern in der Ukrainischen Volksrepublik, in den ebenfalls sich als staatlich unabhängig proklamierenden Republiken Georgien und Aserbeidschan und mit dem rumänischen Staat arrangieren, der sich 1918 Bessarabien einverleibt hatte. Auch mit dem bolschewistischen Staat musste ein Modus Vivendi gefunden werden, umso mehr, als die sowjetische Partei- und Staatsführung ihrerseits durch Förderung der mittellosen Bauern und Industriearbeiter, durch eine nationale Territorialautonomie, ein Netz nationaler Rayons und andere Maßnahmen neue Loyalitäten aufzubauen versuchte. Vor allem der kompakt lebenden deutschsprachigen Minderheit an der Wolga kam die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki entgegen mit der Gründung des Autonomen Gebiets (Arbeitskommune) 1918, die Anfang 1924 zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) aufgewertet wurde. Angesichts günstiger Rahmenbedingungen für die Titularnationalität im Bildungs- und Berufsbereich, der Erhebung des Deutschen zur Amtssprache und dank anderer kultur-politischer Maßnahmen stieß die sozialistische Gesellschaftsordnung insbesondere bei Vertretern der jüngeren Generation – sofern sie entsprechende Gesinnung und soziale Herkunft aufwiesen – auf wachsende Unterstützung.

"Kolonisten-Affäre"

Die gesellschaftliche Transformation seit Ende der 1920er Jahre wurde mit äußerster Gewalt vorangetrieben und bedeutete Zwangsenteignung der Bauern (Kollektivierung) und Überführung in eine Kolchose, Kirchenverfolgung, Repressalien gegen sog. Schädlinge, Saboteure und Volksfeinde verschiedener Art. Als Reaktion auf diese Politik versuchten noch im Herbst 1929 um die 13.000 verzweifelte Bauern, vornehmlich Mennoniten, die Auswanderung aus der UdSSR zu erzwingen. Angesichts des verhängten Emigrationsverbotes fand der mutige Versuch der deutschen Bauern – von ausländischen Beobachtern wurden sie weiterhin als Kolonisten benannt, daher die Bezeichnung "Kolonisten-Affäre" – eine breite internationale Resonanz und brachte der Sowjetführung einen enormen außen- und innenpolitischen Prestigeverlust.

Zwangskollektivierung und Hungersnot

Die Zwangskollektivierung und Deportation von Hunderttausenden sog. Kulaken (Großbauern) im Verbund mit der Zerstörung der leistungsfähigen Wirtschaften führte zu einer furchtbaren Hungersnot der Jahre 1932-33, infolge derer Millionen Menschen starben,Dabei unterstreicht er, dass

"(...) die Politik auf einen Genozid am ukrainischen Volk abzielte, wird außerhalb der Ukraine nur von wenigen Historikern angenommen. Dagegen spricht, dass neben der Ukraine auch mehrheitlich von Russen bewohnte Gebiete ähnlich stark betroffen waren. Dass die Ukraine und der Nordkaukasus so viele Tote zu verzeichnen hatten, lag daran, dass sie mit Abstand die wichtigsten Getreidelieferantender Sowjetunion waren und daher von dort besonders viel Getreide für den Export requiriert wurde. Zudem hatten sich die dortigen Bauern als besonders ablehnend gegen die Kolchosen erwiesen. In Kasachstan war die Hungersnot eine Folge der Sessmachung der Nomaden in Kombination mit den Getreiderequirierungen."

Aus: Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013, S. 234-235. "Im Zuge der Entkulakisierung wurden fünf bis sechs Millionen Menschen enteignet und von ihren Höfen vertrieben. Allen 1930/31 wurden mehr als 380.000 Familien oder ca. 1.8 Mio. Menschen in entlegene Regionen der UdSSR deportiert (S. 231)." Das ist nur eine Stimme von vielen, die dem Konzept des "Aushungers" relativ skeptisch gegenüber steht. Aber die wissenschaftlichen Kontroversen in diesem Punkt gehen weiter und sind bei weitem noch nicht endgültig geklärt.

darunter auch Zehntausende deutsche Sowjetbürger. Ob es sich dabei um einen "Holodomor" gehandelt hat, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Frage, welche Motive und welche Ziele die damalige sowjetische Führung mit ihrer Politik in der Hungerkrise verfolgt habe und ob ein stalinistisches Verbrechen wie die Hungersnot 1932/33 als Genozid eingestuft werden kann oder nicht. "Während in der ukrainischen Forschung die Genozid-These – als Genozid am ukrainischen Volk – vorwiegend befürwortet wird, ist das Meinungsbild sowohl in der deutschen als auch in der internationalen Forschung uneinheitlich (Mark; Simon 2004: 5; 10; Simon 2008: 89; Barth 2006: 7; Jilge 2007: 24)." In ihrer Verzweiflung wandten sich die deutschen Bauern mit der Bitte um Hilfe an die Verwandtschaft in den Überseestaaten oder an die Glaubenskirchen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Den Bezug von ausländischen Hilfspaketen oder Geldüberweisungen sowie Kontakte jeglicher Art mit Ausländern fasste die sowjetische Führung – anders als während der Hungerkatastrophe Anfang der zwanziger Jahre – fortan als Loyalitätsbruch, als Untreue zu der "sozialistischen Heimat" auf. So löste ein Telegramm des ZK der Kommunistischen Partei vom 5. November 1934, das die regionalen und lokalen Partei- und Administrativorgane zum Kampf "gegen die Faschisten und ihre Helfershelfer" aufforderte, eine Welle von Verfolgungen und Verhaftungen aus. Der "Große Terror" der Jahre 1937-38 hat die deutsche Minderheit hart getroffen: Obwohl sie nur 0,8% der Bevölkerung der UdSSR stellte, waren es 8,1% bzw. 55.000 Deutsche von den insgesamt 682.000 Sowjetbürgern, die in diesen beiden Jahren erschossenen wurden. Das betraf vor allem die Vertreter der Minderheit außerhalb der ASSRdWD.

Entrechtung und Instrumentalisierung nach 1941

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Mit der Liquidation der von der sowjetischen Verfassung geschützten und anerkannten Autonomen Republik und der Verbannung der deutschen Bevölkerung aus dem europäischen Teil des Landes begann die Sowjetführung 1941 einen gravierenden Rechtsbruch, der bis heute nachwirkt. Die Deutschen wurden zu Personen minderen Rechts erklärt, ihr Vermögen konfisziert, Objekte der geistigen und materiellen Kultur zerstört oder zweckentfremdet, ehemalige Wohnorte umbenannt, Jugendliche, Frauen und Männer zur Zwangsarbeit ausgehoben. Noch ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieben ihnen als Sondersiedler unter Kommandanturaufsicht wichtige Rechte eines Sowjetbürgers verwehrt.

Dieser Rechtsbruch dehnte sich auch auf die Schwarzmeerdeutschen in den besetzten Gebieten aus: schon am 11. September 1941 verkündeten alle auflagestärksten Zeitungen im nationalsozialistischen Deutschland und in den okkupierten Territorien die Nachricht über die Verbannung der Wolgadeutschen. Später wurde in den Besatzungsmedien noch über die Deportationen von der Krim und der restlichen Ukraine berichtet. Neben vielen Entbehrungen, Unterdrückungen und Opfern aus der Zwischenkriegszeit hatte dieser endgültige Verrat des Sowjetstaates an den eigenen Bürgern deutscher Herkunft seinen Anteil an der Loyalitätsaufkündigung und darauffolgenden Instrumentalisierung durch den NS-Staat: Die meisten verbliebenen Schwarzmeerdeutschen sahen die Besatzer als Befreier, man ließ sich in die "Deutsche Volksliste Ukraine" eintragen und flüchtete aus Angst vor ähnlicher Kollektivverfolgungen 1943-44 mit den zurückgezogenen Wehrmachtstruppen, wo sie zunächst größtenteils im Warthegau angesiedelt wurden. Für die erwachsenen Männer bedeutete die Annahme der reichsdeutschen Staatsangehörigkeit, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden.

Unter Zwang und falschen Versprechungen überführten die sowjetischen Behörden nach dem Kriegsende bis zu 220.000 dieser sogenannten Administrativumsiedler in nördliche und östliche Regionen der UdSSR. Dort mussten sie als Sondersiedler schwere körperliche Arbeit beim Holzfällen, in den Kohlegruben oder auf den Baumwollplantagen in Tadschikistan verrichten.

Verantwortung der Bundesrepublik für die Deutschen in der UdSSR

Der geringere Teil der Umsiedler konnte weiter nach Westdeutschland fliehen und dort untertauchen. Bei der zweiten deutschen Nachkriegszählung 1950 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 51.200 Russlanddeutsche und in der DDR lediglich 11.000 registriert. Die Bundesregierung hat im Februar 1955 die Einbürgerungen aus der Kriegszeit anerkannt. Das war nur einer von vielen Schritten auf den Weg der Kriegsfolgenbewältigung, die sich auch auf das Schicksal der deutschen Minderheiten in Osteuropa erstreckte, deren Mitglieder das Recht bekamen, als Aussiedler bzw. seit 1993 als Spätaussiedler in der Bundesrepublik aufgenommen zu werden. Die "Aussiedlerfrage" ist aus der moralischen und politischen Verpflichtung Nachkriegsdeutschlands entstanden, das als Rechtsnachfolger des NS-Staates seinen Teil der Verantwortung für das schwere Kriegsfolgenschicksal, für die bedrängte Lage der deutschen Minderheiten in den osteuropäischen Staaten übernommen hat.

"Wir bekennen uns in Deutschland unmissverständlich auch zur Verantwortung für diejenigen, die als Deutsche in diesen Gebieten unter den Folgewirkungen des Zweiten Weltkrieges gelitten haben – unabhängig davon, ob diese Menschen in ihrer Heimat bleiben oder nach Deutschland kommen wollen." (S. 10.)

Minister Wolfgang Schäuble:

"Die besondere Hilfsbereitschaft für die Deutschen in den Ländern Osteuropas war zwar grundgesetzlich geboten, sie blieb Teil der Aufarbeitung der Folgen des Zweiten Weltkrieges und damit auch eine moralische Verpflichtung… Ich habe immer darauf hingewiesen, dass es eine Frage nationaler Solidarität und Identität ist, sich der Verantwortung für diese Deutschen zu stellen, die unter den Folgen des deutschen Schicksals – des gemeinsamen deutschen Schicksals – mehr gelitten haben als andere." (S. 17-18)

Christoph Bergner, der damalige (2008) Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten:

"2. Aussiedlerpolitik und historische Verantwortung Deutschlands

Die Aussiedlerpolitik beansprucht innerhalb der Zuwanderungspolitik eine Sonderstellung, denn sie ist Teil des Bemühens der Bundesregierung, sich der nationalen Verantwortung Deutschlands für die Bewältigung der Folgen des Zweiten Weltkrieges zu stellen. Bei dieser Kriegsfolgenbewältigung geht es einerseits um Versöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus und der Hitlerschen Aggressionskriege. Es geht aber auch um Solidarität mit den Deutschen, die von den Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft besonders betroffen waren. Eine solche Solidaritätsverpflichtung besteht für die Deutschen in den Ländern Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion, die infolge des Krieges wegen ihrer Volkszugehörigkeit schwere Lasten zu tragen hatten. Sie gilt besonders für die Deutschen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, bei denen das Kriegsfolgenschicksal am längsten nachwirkte und die noch immer auf eine abschließende gesetzliche Rehabilitierung durch das russische Parlament warten. (…)Die deutsche Bundesregierung steht damit auch zukünftig in einer besonderen Verpflichtung gegenüber den deutschen Minderheiten in den Herkunftsgebieten der Aussiedler, die sie gemeinsam mit den Regierungen der Titularnationen wahrnehmen und gestalten soll." (S. 24-25) Aus: Christoph Bergner und Matthias Weber (Hg.):Externer Link: Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven.München 2009 (Schriften des Bundesinstituts Band 38).

Im Grundgesetz ist dieses Recht in Form von Paragraph 116, Abs. 1, verankert. Das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz aus dem Jahr 1953 bildet bis heute den Kern des sog. Kriegsfolgenrechts. Es bildet den verwaltungstechnischen Rahmen, wie die Wiedergutmachungsabsicht der bundesdeutschen Gesellschaft auf dem Wege der Kriegsfolgenbewältigung zu erbringen sei.

Allmähliche Normalisierung nach 1955

In der UdSSR wurden die Deutschen erst Ende 1955 von der Sonderkommandantur befreit: Im entsprechenden "Befreiungserlass" vom 13. Dezember stand unmissverständlich, dass die Verbannten "nicht das Recht haben, an die Orte zurückzukehren", aus denen sie ausgesiedelt worden waren. Auch die Rückgabe des bei der Deportation konfiszierten Vermögens wurde ausdrücklich abgelehnt. Wenn auch das Alltagsleben weniger bedrückender wirkte und eine begrenzte Orts- und Berufswahl gestattet wurde, fehlte es in der Nachkriegssowjetunion an einer substanziellen finanziellen, politischen, rechtlichen und nicht zuletzt moralischen Wiedergutmachung. Als sichtbare Vertreter derjenigen Nation, die gegen die Sowjetunion den langjährigen, verlustreichen Krieg entfesselt hatte, fungierte die Minderheit weiterhin als bevorzugtes Ziel antideutscher Ressentiments der Nachbarn, Kollegen oder Vorgesetzten. Ihre Geschichte wurde in Schulbüchern und wissenschaftlichen Untersuchungen, in Massenmedien und musealen Ausstellungen konsequent verschwiegen und ausgeblendet.

Reaktionen der Betroffenen auf ihren minderen Rechtsstatus

Die Reaktionen der Deutschen auf die fehlende Wiedergutmachung, alltägliche Diskriminierungen und weit verbreitete GermanophobieRe Patria. Sbornik materialov, posvjaščennych nemcam Sovetskogo Sojuza. Nr. 1 [Re Patria. Ein Sammelband von Materialien, die den Deutschen in der Sowjetunion gewidmet sind]. Moskau 1974. In deutscher Sprache ist das Gros der dort versammelten Beiträge veröffentlicht worden in der Zeitschrift:

Deutschtum im Osten. Eine Dokumentationszeitschrift. Hrsg. vom Bund Re Patria (Frankfurt), 1/1975

Deutschtum im Osten. Dokumente. Externer Link: Ausgabe Nr. 2. März/April 1976. Hrsg. vom Bund Re Patria (Frankfurt)

Deutschtum im Osten. Externer Link: Ausgabe Nr. 3. I. Quartal 1979. Hrsg. vom Bund Re Patria (Frankfurt).

fiel unterschiedlich aus: die einstigen "Repatrianten" strebten mehrheitlich an, in die Bundesrepublik überzusiedeln. Dieser Entschluss fiel vielen Betroffenen umso leichter, weil zahlreiche Deportationen und Verfolgungen die einst fest verwurzelten Landwirte, Handwerker oder Gewerbetreibenden systematisch zu besitz- und heimatlosen Proletariern degradiert hatten, die, frei nach Karl Marx, "nichts zu verlieren hatten". Bis 1986 bekamen nur 95.107 Personen die Erlaubnis, im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland wegziehen zu dürfen. Die Ausreisewilligen nahmen mit ihrem Begehren viele Nachteile in Kauf, weil in der Sowjetunion der Auswanderungswunsch und dazu noch in ein kapitalistisches Land, als eine feindliche, antisowjetische Tat aufgefasst wurde.

Für das Gros der Deutschen in der UdSSR war die Ausreise aus vielen Gründen kein vordergründiges Ziel, da man sich trotz jüngster tragischer Vergangenheit doch dem Land und der engeren Heimat stark verbunden fühlte. Immerhin hofften nicht wenige darauf, dass der einstige Rechtsbruch rückgängig gemacht würde, und sie machten sich für die Wiederherstellung der Autonomen Wolgarepublik stark, weil in der UdSSR – wie auch in der heutigen Russländischen Föderation – politische Interessenvertretung, lokale Selbstverwaltung und sprachlich-kulturelle Förderung einzelner Nationalitäten an das Vorhandensein einer territorialen Autonomie gebunden waren und bis heute sind. Die schroffe Absage der Kremlführung auf legitime Forderungen der deutschen Autonomiebewegung der 1960er-Anfang der 1970er Jahre führte zu einem erzwungenen Identitätswandel, den die Samisdat-Schrift aus dem Jahr 1973 unter dem Titel "Von dem Gedanken über die Autonomie zum Gedanken über die Emigration" besonders anschaulich schildert:

Kerstin Armborst: Ablösung von der Sowjetunion: die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987. Münster u.a. 2001, S. 170-171, 278-279.

Der Appell an die UNO wurde auszugsweise veröffentlicht in:

Weißbuch über die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa. CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, 1977, S. 60-61.

Zu den Autoren dieser Samisdat-Dokumentation zählten Therese Chromowa-Schielke, Maria Steinbach, Leo Eichhorn und Andreas Maser, alle damals in der Unionsrepublik Kirgisien wohnhaft. Russischsprachige Urfassung im Privatarchiv von Andreas Maser (München), Kopie im Besitz d. Verf.

QuellentextSamisdat-Schrift aus dem Jahr 1973

Der Gedanke über die Emigration ist keine Einzel- oder Zufallserscheinung, sondern eine logische Folge erniedrigender Bedingungen, in denen die Deutschen in der UdSSR im Verlauf von mehr als 30 Jahren durch die Sowjetregierung gestellt worden sind. Zuerst war der Glaube an das sowjetische Gesetz. Dann folgten Beleidigungen und Unterdrückungen im Namen des sowjetischen Gesetzes. Danach verschwand endgültig der Glaube an die Gerechtigkeit des sowjetischen Gesetzes. Die Entwicklung des Gedanken über eigene Ausweglosigkeit [in Bezug auf Existenz als eigenständiges sowjetisches Volk mit eigener Geschichte, Sprache und Kultur – V.K.] durchlief viele Stufen. Das wurde nicht im Laufe einer Nacht erkannt, sondern es war das Ergebnis eines quälenden, mehr als 30 Jahre andauernden Prozesses, der in den Seelen der Menschen abspiegelte. Dieser Gedanke geht auf die erlebte Vergangenheit und eine ungewisse Zukunft unseres Volkes zurück. Alle im Laufe der 31. Jahre veröffentlichten und geheimen Erlasse bedingten diesen Gedankengang und führten zum Bewusstsein dessen, dass SEIN [hervorgehoben im Original – V.K.] bedeutet EMIGRATION, fern all den Schrecken, die uns beherrschen. So bestimmt das Dasein der Sowjetdeutschen ihr Bewusstsein.

Schließlich suchte ein für die sowjetischen Verhältnisse nicht unerheblicher Teil der Betroffenen die geistige Beheimatung unter seinesgleichen in den sog. Brüdergemeinden. Seit Mitte der 1950er Jahre erfasste größere Teile der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion eine Welle der Besinnung und Rückkehr zu religiösen Werten, die in diesem Ausmaß wohl einmalig in der UdSSR war. Die psychologische Last der ungesühnten stalinistischen Verbrechen und spürbare antideutsche Feindseligkeiten führten neben dem Leid und der Trauer um die umgekommenen Angehörigen dazu, dass sie sich überdurchschnittlich in religiösen Gemeinden verschiedener Glaubensrichtungen wiederfanden.Zu den Erwachungs- und Erweckungsprozessen unter den Mennoniten seit 1950er Jahre siehe z.B.: Gerhard Wölk: Frömmigkeit und gemeindliches Leben der Mennoniten in der Sowjetunion, in:200 Jahre Mennoniten in Russland. Aufsätze zu ihrer Geschichte und Kultur. Bolanden-Weierhof 200, S. 227-241, v.a. S. 232ff. Vgl. auch ferner: Walter Graßmann: Externer Link: Geschichte der evangelisch-lutherischen Rußlanddeutschen in der Sowjetunion, der GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition. Inaugural-Dissertation. München 2006, v.a. S. 122 ff. (Erweckung).

Über Erweckungs-, Versammlungs-, Brüderkreis- und Bekehrungsprozesse der 1950er Jahre wird sehr anschaulich und anhand zahlreicher zeitgenössischer Dokumente und Illustrationen am Beispiel der deutschen Gläubigen der Stadt Karaganda/Kasachstan dargestellt: Viktor Fast, Jakob Penner: Wasserströme in der Einöde. Die Anfangsgeschichte der Mennoniten-Brüdergemeinde Karaganda. 1956-1968. Steinhagen 2007, v.a. S. 89-168 (Die Erweckungszeit 1956-1960)

Bei vielen entwickelte sich eine starke Abneigung zu den politisch-moralischen Werten der sozialistischen Gesellschaft und zu ihren Institutionen und Trägern. In der Sowjetunion, in der die marxistisch-leninistische Ideologie als einzige offizielle Staats- und Parteidoktrin galt, bedeutete ein öffentliches Bekenntnis zum Glauben eine herausfordernde Brüskierung und wurde als schwerwiegender Verstoß gegen die bestehende Ordnung aufgefasst. Hunderte Prediger und einfache Gläubige, vor allem aus dem Kreis der sog. Initiativ-Baptisten und anderer freikirchlicher Vereinigungen, wurden für mehrere Jahre in Straflager gesteckt für ihren Glauben und religiöse Aktivitäten; Zigtausende erlebten administrative und polizeiliche Schikanen, hohe Geldstrafen, körperliche und verbale Gewalt.

Demokratisierungspolitik seit 1985

Erst die Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft seit 1985 im Zuge von Glasnost und Perestroika weckte Hoffnungen auf eine gerechte Lösung der "russlanddeutschen Frage". Auf dem Weg zur Überwindung der totalitären Vergangenheit galten die Erklärung des Obersten Sowjets der UdSSR vom 14. November 1989 "Über die Bewertung der Repressionsakte gegen Völker, die gewaltsam umgesiedelt wurden, als ungesetzlich und verbrecherisch und über die Wahrung der Rechte dieser Völker" und das Gesetz der Russländischen Föderation vom 26. April 1991 "Über die Rehabilitierung der repressierten Völker" als wichtigste Meilensteine. Darin wurden alle Maßnahmen des stalinistischen Regimes gegenüber den deportierten Völkern, die "dem Genozid und verleumderischen Angriffen ausgesetzt worden waren", für "ungesetzlich und verbrecherisch" erklärt. Den Betroffenen stand damit unter anderem das Recht "auf die Wiederherstellung der territorialen Integrität" zu.

Leider konnte sich auch die russländische Staatsführung, ähnlich wie zuvor die Unionsregierung, nicht zu einer rechtsstaatlichen Lösung des inneren deutschen Problems durchringen. Die meisten Vertreter dieser marginalisierten Volksgruppe waren schließlich nicht mehr bereit, ihren Status als Personen minderen Rechts auch nach dem Zerfall der UdSSR widerspruchslos hinzunehmen und siedelten in die Bundesrepublik über. Zu diesem Entschluss haben auch eine wachsende Islamisierung, interethnische Konflikte, weit verbreitete Korruption und Tribalismus in den zentralasiatischen Staaten beigetragen, wo zuletzt (1989) mehr als die Hälfte der Betroffenen wohnhaft war.Manfred Sapper, Volker Weichsel, Andrea Huterer (Hg.): Machtmosaik Zentralasien. Traditionen, Restriktionen, Aspirationen. Bonn 2007 (Schriftenreihe, Band 656). Darunter v.a. die Aufsätze:

  • Anette Krämer: Islam in Zentralasien: Blüte, Unterdrückung, Instrumentalisierung, S. 53-76;

  • Andreas Heinemann-Grüder, Holger Haberstock: Sultan, Klan und Patronage. Regimedilemma in Zentralasien, S. 121-138;

  • Beate Eschment: Elitenrekrutierung in Kasachstan. Nationalität, Klan, Region, Generation, S. 175-193;

  • Gunda Wegmann: Staatsversagen in Tadschikistan. Lokales Regieren nach dem Bürgerkrieg, S. 225-235;

  • Sebastien Peyrouse: Rückkehr und Aufbruch. Zentralasiatische Migrationsströme, S.245-255.

Übersiedlung nach Deutschland

Mittlerweile befinden sich im wiedervereinigten Deutschland ca. 2,5 Mio. Bürger russlanddeutscher Herkunft (andersethnische Familienmitglieder inbegriffen) verschiedener Generationen; 0,6 Mio. halten sich noch in den Ländern der GUS auf. Blickt man in periodisch erscheinende Medien wie die nationalen Zeitungen in Russland und Kasachstan oder das russlanddeutsche Medium "Volk auf dem Weg", zeigen sich folgende Motivationen: Die meisten Russlanddeutschen kamen, um gleichberechtigt als Deutsche in einem freiheitlich und demokratisch verfassten Nationalstaat mit einer sozial- und marktwirtschaftlichen Ordnung leben zu dürfen. Sie hofften auf ein Leben in einem stabilen Rechtsstaat mit verlässlichen Institutionen, mit einem sicheren und gewaltfreien Alltag, im christlich geprägten Umfeld, kurzum, mit Zukunftsperspektiven für sich und vor allem für ihre Nachkommen. Auswertungen von Erinnerungswerken und Zeitzeugenberichte unterstützen diese Annahme.

Dazu waren die meisten Betroffenen der ersten Generation bereit, sich in die Aufnahmegesellschaft einzuordnen, harte Arbeit – oft unter ihrer persönlichen Qualifikation – zu verrichten und weitere persönliche Entbehrungen und Einschränkungen hinzunehmen. Gesetzliche Restriktionen wie etwa die Obergrenze für die Aufnahme von Spätaussiedlern, hohe Hürden für den Nachzug der Hinterbliebenen, Residenzpflicht, Sprachtest und die wohl entschiedenste Einschränkung, dass die nach 1992 Geborenen nicht mehr "aus eigenem Recht das Aufnahmeverfahren einleiten" können, wurden zumindest ohne wahrnehmbaren Protest hingenommen. Das waren übrigens alles Punkte, die es im einschlägigen Paragraphen 116, Abs. 1 des Grundgesetzes nicht gibt.

Ihre gesellschaftliche Akzeptanz war nie unumstritten, mediale Berichterstattung zeichnete sich oft empathielos und vorurteilsverhaftet, nicht wenige Befunde von Kriminologen, Migrationsforschern oder Soziologen waren mit düsteren Prognosen und Vorhersagen behaftet, was das Einleben und die Zukunft dieser Menschen in der bundesdeutschen Gesellschaft angeht.

Befremdlich wirkten auf die russlanddeutschen Bundesbürger eine – gewiss bedingt durch historische Nachlassenschaften des NS-Regimes – dezidiert ablehnende Haltung von Seiten des links-liberalen bundesdeutschen Milieus.Dazu gehört sicher an erster Stelle die zentrale Bedeutung, die für die Einwanderer aus Russland ihre ethnische Zugehörigkeit hat. Ganz allgemein ist es das Eingangsticket zu einer legalen und privilegierten Einwanderung. Es entbehrt nicht der Ironie, dass man seit 1990 entweder (ethnisch) Deutscher oder Jude sein muss, um aus Russland in die Bundesrepublik eingelassen zu werden. Jenseits dieses rein instrumentellen Volksbezugs hat sich aber, ganz überwiegend in der älteren Generation, tatsächlich eine Identifikation mit dem Deutschtum erhalten, für die es in der Bundesrepublik kaum ein Äquivalent gibt. Auf die verschiedenen historischen Quellen dieser Identifikation bin ich im ersten Teil meines Vortrags eingegangen. Sie verstärkt sich zum Teil unter dem Schock der Ankunft und der Erkenntnis, wie weit das gegenwärtige Deutschland vom erinnerten oder phantasierten abweicht. Während die Jüngeren dieser Erfahrung das "Russische" entgegensetzen (etwa mit Urteilen wie: russische Schüler lernen besser, in Russland gibt es weniger Pornografie), glauben die Alten, ihre Werte repräsentierten ein eigentliches Deutschland, dass im negativen Sinn verwestlicht sei. Auf uns wirkt diese Deutschtümelei in mehrfacher Hinsicht politisch suspekt. Denn wir verknüpfen sie häufig pauschal, d. h. ohne genaue Kenntnis und Prüfung, mit Nähe zum Nationalsozialismus. Diese vermeintliche Nähe aber hat zur Folge, dass wir den Russlanddeutschen den moralischen Status als Opfer nur unwillig, wenn überhaupt zuerkennen mögen, was wiederum zur Folge hat, dass sie die Anerkennung ihres historischen Schicksals in einer Opferkonkurrenz vor allem gegen die Opfer der Shoah glauben erkämpfen zu müssen. Hier wiederholt sich eine Konstellation des Kalten Krieges, mit dem entscheidenden Unterschied, dass anders als in den fünfziger Jahren die deutsche Mehrheitsgesellschaft für solche Kämpfe kaum noch zu haben ist. Weder eine häufig unkritische Haltung zum Nationalsozialismus noch ein latenter Antisemitismus der älteren Russlanddeutschen sollen hier geleugnet werden. Es bleibt aber die Frage, ob uns die Anerkennung der russlanddeutschen Geschichte zu stärkerer, die Fronten aufweichender Empathie befähigen könnte, und es darüber hinaus nicht angebracht wäre, den Russlanddeutschen einen differenzierteren, situativen Opferstatus zuzugestehen, der nicht per sé an "Unschuld" geknüpft ist.

Aus: Dorothee Wierling:Externer Link: Deutsche aus Russland - Russen in Deutschland. Ein erfahrungsgeschichtlicher Blick auf Russlanddeutsche in der Bundesrepublik, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2007. Hamburg 2008, S. 12-26, hier S. 23-24.

Stark irritiert war man von populistischen Attacken etwa im Wahlkampf des Jahres 1996, womit Teile der SPD, angeführt von dem damaligen Partei-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, mit der Stimmungsmache gegen die Aussiedler die wichtige Landtagswahl in Baden-Württemberg zu gewinnen suchten. Wörtlich sagte er zu diesem Sachverhalt in einer Aussprache im Saarländischen Parlament am 6. März 1996 u.a.:Siehe auch Externer Link: hierzu

Was die "letzten Jahre" und "über zwei Millionen Aussiedler" aus der Rede von O. Lafontaine betrifft, so stimmt das insofern, wenn man unter der Periode die letzten zehn Jahre berücksichtigt: Statistisch gesehen sind im Verlauf von diesen zehn Jahren (1986-1995) in der Tat 2 Mio. 210.049 Personen als (Spät)Aussiedler nach Deutschland eingetroffen, wobei in den letzten fünf Jahren (1991-95) es insgesamt 1 Mio. 111.937 Personen waren. Danach gingen die Zahlen kontinuierlich zurück: im Jahr 2000 waren es 95.615 und 2006 gerade mal 7.747 Personen, die als Spätaussiedler aufgenommen wurden.

QuellentextOskar Lafontaine im Saarländischen Parlament am 6. März 1996

Sie [CDU/CSU – V.K.] haben die Aussiedlerinnen und Aussiedler über Jahre zu einer bevorzugten Einwanderungsgruppe erklärt, weil Sie an der völkischen Ideologie festhalten, die wir nicht für richtig halten… Wir haben in den letzten Jahren eine Zuwanderung von mehr als zwei Millionen Aussiedlerinnen und Aussiedlern gehabt, und das sind mehr als eine Million Erwerbspersonen. … Diejenigen, die betroffen sind – ich sage es hier noch einmal ganz klar – sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den niederen Lohngruppen, sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die es eben gerade aufgrund ihrer geringen Qualifikation schwer haben, einen Arbeitsplatz zu finden, sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die es aufgrund ihres geringen Einkommens schwer haben, eine preiswerte Wohnung zu finden. Ich bin nicht bereit, diesen Personenkreis aus unserer Betrachtung auszuschließen, wenn wir über Integration reden.

Bundestreffen der Russlanddeutschen am 26.05.2007 in Wiesbaden. (© picture-alliance/dpa)

Trotz all dieser Widrigkeiten scheinen sich die Russlanddeutschen gut integriert zu haben, wie mehrere Studien um die 2010er Jahre belegen, insbesondere mit Blick auf die zweite und folgenden Generationen. Der Zuzug der Spätaussiedler hat sich mit dem zwischenzeitlichen Tief von 1.782 Personen (2012) mittlerweile auf einem geringen Niveau um 6-7.000 Personen pro Jahr eingependelt (2016: 6.572).

In letzter Zeit lösen Euro-, Russland-, Ukraine- und Flüchtlingskrise in Teilen der Erlebnisgeneration der übergesiedelten Russlanddeutschen wachsendes Unbehagen und Unruhe aus. Hier spielen viele Faktoren mit, die zum einen auf etliche gesamtgesellschaftliche Phänomene in Deutschland zurückzuführen sind und zum anderen einige spezifische, nur für die betroffene Bevölkerungsgruppe relevante Sachverhalte aufweisen. Es bedarf noch eingehender Untersuchungen, um sicher über die Ursachen und Folgen der wachsenden politischen Mobilisierung in diesem Milieu urteilen zu können.

© Bundeszentrale für politische Bildung

Weiterführende Literatur zum Thema

  • Externer Link: Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland: Bilanz und Perspektiven

    . Hg. von Christoph Bergner und Matthias Weber. München 2009.

  • Alfred Bohmann: Menschen und Grenzen, Bd. 3: Strukturwandel der deutschen Bevölkerung im sowjetischen Staats- und Verwaltungsbereich, Köln 1970

  • Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Hg. von Alfred Eisfeld und Victor Herdt. Köln 1996

  • Victor Dönninghaus: Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917 – 1938, München 2009.

  • Viktor Krieger: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft: Historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis. Berlin, Münster 2013.

  • Ders.: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der Russlanddeutschen. Bonn 2015

  • Externer Link: Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland.

    Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009.

Glossar

Bolschewik – Mitglieder der bolschewistischen Partei oder im breiteren Sinne Anhänger des Bolschewismus (russ. bolschinstwo, "Mehrzahl"), eine radikale politische Strömung in der russischen Sozialdemokratie. Unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin waren die Bolschewiki in einer Kaderpartei vereint und verfolgten das Ziel, die Diktatur des Proletariats im Bündnis mit besitzlosen Bauern (Armbauern) zu errichten. Im November 1917 rissen sie die Macht im Russischen Reich an sich und wurden ein Jahr später zur allein regierenden Partei (Staatspartei). Im Bürgerkrieg 1918–20 setzen sich die Bolschewiki gegen ihre Widersacher aus dem konservativ-monarchischen und konstitutionell-liberalen Lager durch und konnten fast alle abtrünnigen Gebiete des einstigen Reiches unter ihre Kontrolle bringen (außer der baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen, Polen und das sich im Bestand von Rumänien befindende Bessarabien). Sie gründeten die "Russländische Kommunistische Partei (Bolschewiki)", die 1925–52 den Namen "Kommunistische Allunionspartei (B)" [russ. Abk. WKP (B)] trug und danach in "Kommunistische Partei der Sowjetunion" (KPdSU) umbenannt wurde.

Deutsche Volksliste (DVL) – ein Selektionsverfahren im NS-Staat, wonach die Personen deutscher Herkunft in den eingegliederten oder besetzten Gebieten "für das Deutschtum (wieder)gewonnen" werden sollten. Nach einem Verifikationsverfahren erhielten solche Personen, in eine von vier Gruppen eingestuft, die reichsdeutsche Staatsangehörigkeit bzw. ein späteres Anrecht auf sie. Am 19. Mai 1943 ordnete der Reichminister des Inneren an, dass die meisten der sich in die DVL Ukraine eingetragenen Personen die reichsdeutsche Staatsangehörigkeit seit dem 21. Juni 1941 verliehen bekommen. Dadurch erhielten die NS-Stellen eine bessere Verfügungsgewalt über diese Menschen.

Kolchose (russ. kollektiwnoje chosjajstwo) – Kollektivwirtschaft. War formal eine landwirtschaftliche Genossenschaft von angeblich freiwillig vereinigten Bauernwirtschaften, die aber faktisch vollständig von staatlichen Vorgaben abhing. Entstand im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft seit Ende der 1920er Jahre und war bis zur Auflösung der UdSSR neben den Sowchosen die wichtigste Organisationsform eines Agrarbetriebs.

Nationalrayon (nationaler Rayon) – eine Form, die nationale Frage in der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit zu lösen. Bezeichnete einen administrativ eigenständigen Landkreis für eine kompakt siedelnde nationale Minderheit, in dem der Schulunterricht, die lokalen Massenmedien wie Presse oder Radio, kulturelle Arbeit und der interne Amtsverkehr neben den dominierenden Republiksprachen (Russisch, Ukrainisch, Usbekisch, Tatarisch usw.) auch in einer Minderheitensprache erfolgen bzw. erscheinen konnte. In der UdSSR existierten bis zu 500 Nationalrayons, davon elf deutsche. Ende der 1930er-Jahre wurden sie aufgelöst bzw. in administrativ-territoriale Rayons umgewandelt. Seit 1991 bzw. 1992 existieren zwei deutsche Nationalrayons: Halbstadt in der Region Altai und Asowo unweit der Stadt Omsk, beide in Sibirien. Allerdings spielt die deutsche Sprache nun keine öffentliche Funktion mehr.

Samisdat (russ. sam isdatelj) – d.h. Selbstverleger: in der Sowjetunion bedeutete es die Verbreitung von Schriftgut ohne eine offizielle Druckgenehmigung. Dadurch machte sich der "Selbstverleger" strafbar.

Sonderkommandantur – Institution im Rahmen der Gulag-Verwaltung bzw. des Innenministeriums, die zum Zweck der Kontrolle und Ausbeutung von Sondersiedlern im hohen Norden, in Sibirien und in Zentralasien eingerichtet wurde. Zahlreiche Sonderkommandanturen bestanden ab Ende der 1920er- bis Ende der 1950er-Jahre.

Sowjetdeutsche – in der UdSSR ab den 1930er-Jahren eine ideologisierte Bezeichnung für die dort lebenden Sowjetbürger deutscher Herkunft bzw. Nationalität. Eine breite mediale und offizielle Verwendung fand er allerdings erst nach der politischen Amnestie Mitte der 1950er-Jahre; er war bis Ende der 1980er-Jahre in Gebrauch.

Sowchose (russ. sowjetskoje chosjajstwo) – Sowjetwirtschaft, landwirtschaftlicher Staatsbetrieb (Staatsgut) mit Arbeitern und Angestellten.

Stundismus – eine protestantische Erneuerungsbewegung unter den rechtgläubigen Bauern, vor allem in der heutigen Südukraine, die ihren Ursprung in deutschen pietistischen Kreisen hatte. Russische und ukrainische Tagelöhner, Knechte und Mägde, die in den Kolonien beschäftigt wurden, nahmen an den Erbauungsstunden der deutschen Bauern teil und bekehrten sich, das heißt, sie fielen vom orthodoxen Glauben ab. Die Anhänger und insbesondere die Missionare wurden von der russisch-orthodoxen Staatskirche massiv diffamiert und waren bis 1905 polizeilichen Eingriffen und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Der Stundismus ist einer der Vorläufer des ukrainischen und russischen Baptismus, der auch zunehmend unter der deutschen Kolonistenbevölkerung in Form von verschiedenen freikirchlichen Brüderkreisen und Strömungen Verbreitung fand.

Titularnationalität bzw. -volk – Namensgebende Nationalität einer territorialen Autonomie. In der SU existierten autonome Kreise (Bezirke) und Gebiete, autonome und Unionsrepubliken. Solche Völker galten offiziell als autochthon (russ. korennoj), wörtlich übersetzt "verwurzelt", und genossen unterschiedliche Möglichkeiten zur Erhaltung und Weiterentwicklung ihrer nationalen Sprache und Kultur. Sie wurden von der Spitze der Partei und des Staates als systemrelevant und zuverlässig betrachtet. Dagegen waren die "autonomielosen"Volksgruppen und Minderheiten, v.a. wenn sie ein ausländisches "Mutterland" besaßen, generell dem amtlichen Misstrauen und zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dass dieses Faktum auch eine identitätsstiftende Rolle spielt – gewiss nicht so herausragend in der kollektiven Erinnerung wie die erlebten Opfererfahrungen – geht aus vielen Selbstzeugnissen und literarischen Werken, die vor 1917, oder in der Zwischenkriegszeit und auch nach 1941 entstanden sind. Es wäre übrigens eine interessantes Vorhaben, solche Zeugnisse in Bezug auf dieses und auf andere Erinnerungsnarrative kritisch zu überprüfen. Einige Beispiele von Autoren, u.a. mennonitischer Herkunft, etwa bei

    David H. Epp: Externer Link: Die Chortitzer Mennoniten. Versuch einer Darstellung des Entwicklungsganges derselben. Odessa 1889. Hier die Überschrift des ersten Kapitels: "1. Der Ruf nach Russland" mit dem Verlauf der Verhandlungen und endgültigen Verträgen (S. 1-36).

    Und dieses Erinnern, das Bewusstsein, eine Vertragsgemeinschaft mit dem Staat/der Regierung nachzugehen (mit festgelegten beiderseitigen Absichten, Vergünstigungen und Verpflichtungen) ist bis heute ziemlich verbreitet, insbesondere unter den Nachkommen der mennonitischen Einwanderer, siehe z.B.

    N.J. Kröker: Erste Mennonitendörfer Russlands. 1789-1943. Chortitza–Rosental. Vancouver 1981, S. 10ff (Russland lädt Siedler ein; Rechte und Privilegien, die den zukünftigen Kolonisten geboten wurden usw.), S. 240ff (Ursachen der Auswanderung nach 1917, schwere Entschlüsse hierzu etc.).

    Aber auch bei anderen Gruppen der deutschen Minderheit, etwa bei den Wolgadeutschen, ist das ähnlich, wenn auch nicht so prononciert und stark betont wie bei den Mennoniten.

  2. Der führende Osteuropahistoriker Dietmar Neutatz beziffert in seinem neusten Werk (2013) die Hungeropfer der Zwangskollektivierung zwischen 5 und 8 Millionen Menschen.

  3. Vgl. Externer Link: www.bundestag.de, S. 10.

  4. Über die Verantwortung und Verpflichtung sprechen zuletzt u.a. die Kanzlerin A. Merkel:

  5. Zu Germanophobie siehe u.a., mit Literaturverweisen: Germanophobie im Russischen Reich und in der Sowjetunion, in: Viktor Krieger: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft: Historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis. Berlin, Münster 2013, S. 141-168, v.a. S. 158ff (Die Nachkriegsentwicklung). Die Einschätzung ihrer Lage durch unzensierte zeitgenössische Selbstzeugnisse, nachzulesen in der Samisdat Untergrundschrift:

  6. Diese Schrift zusammen mit dem "Appell der Bürger deutscher Nationalität aus der Sowjetunion an die Adresse der Vereinigten Nationen (UNO)" und in Kopie an die Adresse der Sowjetregierung wurden Anfang Mai 1973 fertig gestellt und einige Tage später, am 18. Mai, zusammen mit Unterschriftenlisten von 7.000 ausreisewilligen Familienvertretern – insgesamt etwa 35.000 Menschen – dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR in Moskau überreicht, siehe u.a.:

  7. Nach amtlichen Angaben lag die Religiosität unter den Deutschen wesentlich höher als unter anderen nationalen Gemeinschaften: obwohl sie zum Beispiel nur 6% der Bevölkerung in Kasachstan stellten, war ihr Anteil unter den Gläubigen mit 20% unverhältnismäßig hoch, und im Gebiet Karaganda machten sie die Hälfte der Gläubigen aus – bei einem Bevölkerungsanteil von gerade einmal 10,4%, aus: Istorija rossijskich nemcev v dokumentach (1763-1972 gg.). Tom 1. [Geschichte der Russlanddeutschen in Dokumenten, 1763-1992. Bd. 1]. Moskau 1993, S. 210. Es handelte sich um einen Bericht an das ZK der KPdSU über die Lage der deutschen Bevölkerung in Kasachstan, 1985.

  8. Einen guten Überblick in die Thematik bildet der von der bpb herausgegebene Sammelband:

  9. Hierzu möchte ich ein längeres Zitat von Prof. Dr. Dorothee Wierling anbringen, das die ganze Denkweise der "Wertegemeinschaft der eher linksliberalen Nachkriegsgeneration" über russlanddeutsche Aussiedler recht anschaulich widerspiegelt:

    "Zum Schluss möchte ich auf Probleme der gesellschaftlichen Anerkennung zu sprechen kommen, genauer auf "uns", d.h. jene Deutschen, die der Wertegemeinschaft der eher linksliberalen Nachkriegsgeneration zuzurechnen sind. Während die Russlanddeutschen nach 1990 gesamtgesellschaftlich überwiegend als russische Variante der Asylbewerber angesehen wurden, als finanzielle Belastung, als ökonomische Konkurrenz und als kriminelles Potenzial, verbanden sich solche Ängste im Milieu der Linken und Liberalen mit weiteren, politisch-kulturellen Vorbehalten.

  10. Externer Link: www.archiv.jura.uni-saarland.de

  11. Zum einen geht es um die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung Externer Link: Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland aus dem Jahr 2009

    Zum anderen um die BAMF-Studie: Externer Link: (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse, 2013

    Eine interessante Untersuchung wird demnächst veröffentlicht von:

    Waldemar Vogelgesang, Luisa Kersch: Angekommen in Deutschland? Integrationsverläufe von jugendlichen Spätaussiedlern aus Russland, in: Viktor Krieger (Hg.): Russlanddeutsche im Wandel der Zeit. 250 Jahre Kultur und Geschichte. Berlin, Münster 2017 (zum Druck vorbereitet)

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Dr. Viktor Krieger wurde 1959 im Gebiet Dschambul, Kasachstan, geboren. Er studierte in Nowosibirsk und promovierte über deutsche Siedler in Kasachstan zur Zarenzeit an der Akademie der Wissenschaften in Alma- Ata. 1991 siedelte er nach Deutschland über. 1992-93 war er im Generallandesarchiv Karlsruhe beschäftigt. Zurzeit freiberuflicher Historiker und Lehrbeauftragter des Historischen Seminars an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen im Kontext der multikulturellen und -konfessionellen Vielvölkerstaaten Russland und die Sowjetunion, insbesondere in Zentralasien seit Ende des 19. Jh. bis heute.