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Verstaatlichungspolitik in Bolivien | Lateinamerika | bpb.de

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Verstaatlichungspolitik in Bolivien Nach der Nationalisierung der Öl- und Gasindustrie: neue Entwicklungsperspektiven für das ärmste Land Südamerikas?

Timo Berger

/ 6 Minuten zu lesen

Am 1. Mai 2006 verkündete Präsident Evo Morales, dass die "Plünderung der natürlichen Ressourcen durch die transnationalen Konzerne" vorbei sei. Es setzte eine Welle der "Nationalisierung" ein, der sich selbst die mächtigsten Mineralölfirmen unterordnen mussten.

"Verstaatlicht, Eigentum der Bolivianer" steht auf einem Banner am San-Alberto-Gasfeld in Bolivien. (© AP)

Seit ihrem Amtsantritt Anfang 2006 hat die bolivianische Regierung mit einer Reihe ungewöhnlicher Maßnahmen international für Aufsehen gesorgt. Die bislang folgenreichste war die Anfang Mai 2006 verkündete "Nationalisierung" der Öl- und Gasindustrie des Landes. Am 1. Mai erklärte Präsident Evo Morales auf dem Gasfeld San Alberto im Süden des Landes: "Die Plünderung der natürlichen Ressourcen durch die transnationalen Konzerne ist vorbei." Mit sofortiger Wirkung mussten die in Bolivien operierenden Mineralölkonzerne ihre Produktion dem Staatsunternehmen YPFB (Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos) unterstellen. Dieses ist seitdem für Handel, Weiterverarbeitung, Export sowie Festlegung der Preise zuständig; die internationalen Konzerne besorgen zwar weiterhin die Förderung von 90 Prozent des Erdgases, sie sind aber nicht mehr Eigentümer der Rohstoffe.

Vor dem öffentlichen Akt des Präsidenten in San Alberto besetzten Armeeeinheiten symbolträchtig 56 Gas- und Ölfelder und die beiden größten Raffinerien Boliviens. Die Bilder, die um die Welt gingen, markierten eine Abkehr von der bisherigen liberalen Wirtschaftspolitik. Seit Anfang der 1980er-Jahre hatten bolivianische Regierungen versucht, mit Hilfe von Privatisierungen von Staatsbetrieben, Deregulierung und einer Öffnung der Märkte ausländische Investitionen anzulocken, um das hochverschuldete Land aus der Krise zu führen.

Kontrolle der Rohstoffe

Evo Morales, der Ende 2005 als erster Indigena zum bolivianischen Staatsoberhaupt gewählt worden war, hatte den Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik mehrfach angekündigt. Im Wahlkampf versprach der Präsidentschaftskandidat für die "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), dem bolivianischen Staat die Souveränität über die natürlichen Ressourcen des Landes zurückzugeben. In seiner Rede zum Amtsantritt am 22. Januar 2006 erklärte der ehemalige Kokabauer: "Wir wollen das neoliberale Wirtschaftsmodell ändern und den Kolonialstaat abschaffen." Morales trat für das an, wofür soziale Bewegungen in den vorangegangenen zehn Jahren in Bolivien gekämpft hatten: eine gerechtere Verteilung der Gewinne aus dem Gasgeschäft – vor allem die Menschen indigener Abstammung hatten bislang nur wenig von der Ausbeutung der nationalen Ressourcen profitiert.

Doch das einseitige Vorgehen Morales´ stieß bei Vertretern europäischer Regierungen auf Kritik – obwohl Bolivien versprach, keine Enteignungen ohne Entschädigungen durchzuführen. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte, die Maßnahme schaffe keine günstigen Voraussetzungen für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Bolivien. Vor allem Unternehmen aus der Europäischen Union – wie Repsol YPF (Spanien), BG (Großbritannien) und Total (Frankreich) sind es, die in Bolivien neben dem brasilianischen Mineralölkonzern Petrobras an der Exploration, Förderung, Verarbeitung und dem Transport des Rohstoffs beteiligt sind. Vertreter internationaler Hilfsorganisationen hingegen werteten die Nationalisierungsinitiative als entwicklungspolitisch sinnvoll: Mittel- und langfristig könnte das Land dadurch aus der Armut geführt werden.

Thomas Fritz vom Umweltverband BLUE 21 verweist auf das Scheitern bisheriger Entwicklungsstrategien: Nach der Privatisierung des Rohstoffsektors 1996 hatte sich die Erdgasproduktion bis 2006 zwar fast verdreifacht, jedoch schrumpften gleichzeitig die staatlichen Einnahmen beträchtlich. Im Zeitraum von 1990 bis 1996 erhielt Bolivien im Durchschnitt jährlich 326,69 Millionen US-Dollar, von 1997 bis 2004 waren es nur noch rund 204,3 Millionen. Im Zuge der Privatisierung waren die Lagerstätten neu klassifiziert und die Abgabenquote für einige der größten Gasfelder drastisch gesenkt worden. Das bolivianische Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung schätzt, dass dem Staat dadurch bis 2006 mehr als drei Milliarden US-Dollar verloren gegangen sind.

Armes, reiches Land

Bolivien verfügt nach Venezuela über die größten Erdgasreserven Südamerikas: 2003 wurde ihr Volumen auf 28,69 TCF (Kubikfuß) geschätzt, ihr Wert mit 100 Milliarden US-Dollar veranschlagt. 2005 exportierte Bolivien Erdgas für 984 Millionen US-Dollar, 80 Prozent der gesamten Produktion. Doch der Reichtum an natürlichen Ressourcen – neben Gas und Öl gibt es auch bedeutende Zink-, Silber-, Eisen- und Zinnvorkommen – hat in der Vergangenheit nicht dazu geführt, die Situation der Bevölkerungsmehrheit entscheidend zu verbessern. Bolivien hat mit 3.100 US-Dollar das niedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr auf dem südamerikanischen Kontinent. Zwei Drittel der 9,119 Millionen Bolivianer gelten laut offiziellen Zahlen als arm. Schuld daran ist vor allem die fehlende industrielle Entwicklung des Landes. Bisher wurde größtenteils versäumt, mit den Gewinnen aus dem Rohstoffgeschäft produktive Investitionen zu tätigen.

Die Verstaatlichung von 2006 ist bereits die dritte in der Geschichte Boliviens. Erstmals wurde ein solcher Schritt gegen Standard Oil im Jahr 1937 unternommen. Eine nationalistische Militärregierung verfügte, die Produktionsanlagen des US-Konzerns dem wenige Monate zuvor gegründeten Staatsunternehmen YPFB einzugliedern. Nach der bolivianischen Revolution vom April 1952 wurden unter dem Präsidenten Paz Estenssoro die YPFB-Produktion ausgeweitet, die Minengesellschaft verstaatlicht und eine erste Agrarreform durchgeführt.

Zum zweiten Mal wurde eine Verstaatlichung der fossilen Energieträger im Jahr 1969 von einer linksgerichteten Militärregierung beschlossen. Betroffen war damals mit der Gulf Oil Company ebenfalls ein US-Unternehmen. Nach der Militärdiktatur von General Hugo Banzer (1971-1978) durchlitt Bolivien in den 1980er-Jahren eine schwere Wirtschaftskrise. YPFB musste immer höhere Anteile seines Gewinns an den Staat abführen, um den Haushalt zu sanieren. Ab 1993 trieb Gonzalo Sánchez de Lozada die Privatisierungen voran. Diese Entwicklung gipfelte 1996 im Verkauf der fünf wichtigsten Staatsbetriebe. YPFB wurde aufgelöst. Während die ertragreichen Gasfelder international zur Konzessionsvergabe ausgeschrieben wurden, übernahmen drei Nachfolgeunternehmen von YPFB die kleineren Lagerstätten sowie das Pipeline-Netz. Gleichzeitig ließ Sánchez de Lozada die für Gas- und Ölförderung zu entrichtenden Abgaben drastisch senken. Bei 95 Prozent der Quellen mussten die Firmen nur noch 18 Prozent des Produktionswertes an den Staat abführen. Damit erhob Bolivien die niedrigsten Abgaben des amerikanischen Kontinents.

Der Widerstand der Bevölkerung

Seit Ende der 1990er-Jahre mehrte sich der Widerstand der Bevölkerung gegen die Folgen der Privatisierungen. Wochenlange Proteste zwangen im Jahr 2000 die lokalen Autoritäten in Cochabamba zur Kündigung des Konzessionsvertrages mit einem Wasserversorger. Das Beispiel Cochabamba ermutigte in der Folgezeit soziale Bewegungen und Gewerkschaften, gegen den Ausverkauf der natürlichen Rohstoffe Boliviens zu protestieren. Vor allem Ureinwohnerorganisationen und Nachbarschaftsräte wurden zu treibenden Kräften der Widerstandsbewegung.

Im Jahr 2003 kam es zu einem Aufstand gegen geplante Gasexporte in die USA, die zu sehr ungünstigen Bedingungen für Bolivien verlaufen wären. Der so genannte Gaskrieg begann auf dem Land. Bewohner der beiden Ortschaften Sorata und Warisata errichteten aus Protest gegen den Gasexport Straßensperren. Als die Regierung das Militär einsetzte, um die Blockaden aufzulösen, sprang der Funke auf El Alto über: In der an La Paz angrenzenden Stadt solidarisierten sich die Indigenas mit den Aymara-Rebellen auf dem Land. Unter dem Druck massiver Proteste trat Sánchez de Lozada am 17. Oktober zurück. Zuvor hatten die Sicherheitskräfte bei der versuchten Niederschlagung des Aufstands mehr als 80 Menschen getötet.

Die Forderungen nach einer Nationalisierung der natürlichen Rohstoffe und der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung stehen seitdem auf der Agenda der sozialen Bewegungen. Im Juli 2004 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum für die Wiederverstaatlichung der Öl- und Gasreserven.

Neue Entwicklungsperspektiven

Die 2006 von Morales eingeleitete Nationalisierung ist ein langsamer Prozess: Aktien zuvor privatisierter Unternehmen können nur nach und nach rückübertragen werden; dem Staatskonzern YPFB fehlt das Kapital für einen vollständigen Erwerb. Im August 2007 gingen die beiden größten Raffinerien des Landes wieder in staatlichen Besitz über.

Befürchtungen, Bolivien könnte durch die Verstaatlichung international isoliert werden, haben sich bislang nicht bewahrheitet. Kein Mineralölkonzern hat das Land verlassen. Ende 2006 stimmten die Unternehmen neu ausgehandelten Konzessionsverträgen zu. Ihre Abgaben erhöhten sich auf mindesten 50 Prozent, für die ertragreichsten Gasfelder für eine Übergangszeit sogar auf 82 Prozent. Die staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft stiegen von 200 Millionen US-Dollar auf 1,2 Milliarden pro Jahr an. Geld, das Bolivien 2006 zum ersten Mal nach 20 Jahren einen Haushaltsüberschuss bescherte und die Wirtschaft um 4,1 Prozent wachsen ließ.

Doch auch Morales' Nationalisierung hat sich in erster Linie daran zu messen, ob es gelingt, das Land vom reinen Rohstoffexporteur zum Produzenten industrieller Güter weiterzuentwickeln. Die Verarbeitung der Rohstoffe im Land kann ein erster Schritt sein. Langfristig müssen alternative Einnahmequellen erschlossen werden: Die Gasvorräte sind endlich und ihre Förderung stellt eine nicht zu unterschätzende Belastung für die Umwelt dar.

Quellen

Externer Link: Ministerium für Kohlenwasserstoffe und Energie - Ministerio de Hidrocarburos y Energía.

Externer Link: Centro de Estudios para el Desarolla Laboral y Agrario CEDLA.

Externer Link: Unidad de Análisis de Políticas Sociales y Económicas UDAPE.

Externer Link: CIA - The World Factbook.

Externer Link: Nachrichtenagentur Bolpress.

Externer Link: Tageszeitung La Razón, La Paz.

Literatur

Fritz (2006), Thomas: Die Plünderung ist vorbei. Boliviens Nationalisierung der Öl- und Gasindustrie, Berlin, Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika FDCL.

Mesa u. a. (1998), Carlos: Historia de Bolivia, zweite korrigierte und aktualisierte Ausgabe, La Paz, Editorial Gisbert y CIA S.A.

Weitere Inhalte

Timo Berger, geboren 1974 in Stuttgart, hat Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Lateinamerikanistik in Tübingen, Buenos Aires und Berlin studiert. Er hat in Zeitungen und Zeitschriften zahlreiche Beiträge zu Südamerika veröffentlicht. Heute lebt Berger als freier Journalist und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen in Berlin.