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Brasiliens Widersprüche Das Gesundheitswesen im Spiegel der Kritik

Klaus Hart

/ 6 Minuten zu lesen

Das öffentliche Gesundheitswesen in Brasilien leidet unter chronischem Geldmangel. Nur wer es sich leisten kann, geht zum Arzt oder gleich zum Schönheitschirurgen. In keinem anderen Land werden mehr kosmetische Operationen durchgeführt als im bevölkerungsreichsten Staat Südamerikas.

Schönheitschirurgie ist vor allem in Brasilien, Venezuela und wie hier zu sehen in Kolumbien gesellschaftlich weit akzeptiert. (© AP)

Bereits seit mehreren Jahren hat Brasilien die USA bei den Schönheitsoperationen abgehängt, begibt sich dort also ein höherer Prozentsatz alljährlich unters Messer der Spezialisten. Oberflächlich betrachtet liegt es daran, dass Brasilianerinnen und Brasilianer laut Weltumfragen die mit Abstand eitelsten Bewohner des Planeten sind und dass man unter Tropensonne den Körper etwa an den Stränden eben häufiger zeigt als in Europa. Doch selbst die plastischen Chirurgen kritisieren exzessiven Körperkult und die "Ditadura da Beleza", die Schönheitsdiktatur.

Enorme Nachfrage

Sao Paulo ist Lateinamerikas reichste Stadt, dazu Wirtschafts- und Kulturmetropole - weit vor Rio de Janeiro gibt es hier die meisten Schönheitskliniken, die größte zahlungskräftige Klientel. Dr. Luiz Carlos Martins zählt zu den großen Namen der Branche, hat in der Megacity einen Lehrstuhl, eine Privatklinik unter Palmen und ist häufig in den Medien zu sehen. Denn er entwickelte eine Operationstechnik, die Frauen mittels Implantaten zu einem runden, wohlgeformten Po verhilft – hier "Bumbum" genannt. "Jede Rasse besitzt ein vorherrschendes ästhetisches Charakteristikum – im sehr kosmopolitischen Brasilien dominieren Frauen mit einem größeren Gesäß. Doch auf die vielen Spanisch- und Italienischstämmigen, auf die Asiatinnen trifft das nicht zu. Ihnen nützt meine Operationstechnik am meisten. Die Nachfrage ist enorm. Ich setze das Implantat direkt in den Gesäßmuskel ein, die Operation dauert etwa zwei Stunden, kostet je nach Schwierigkeitsgrad zwischen 3.000 und 10.000 US-Dollar." Allein in Rio und Sao Paulo lassen sich jährlich mehrere tausend Frauen den "Bumbum" vergrößern.

Fernanda Alencar arbeitet in einer Großbank Sao Paulos, möchte als nächstes größere Brüste haben. Wegen der Wirkung auf die Männer? "Nein, keineswegs – wir Brasilianerinnen tun es, um uns in der Gesellschaft, zwischen den Frauen selbst besser zu fühlen. Wir konkurrieren doch zuallererst mit anderen Frauen um das attraktivste Erscheinungsbild, wollen sie neidisch machen." Auch die 37-Jährige sieht eine "Ditatura da Beleza" – auf der Arbeit, der Straße, in Universitäten, Schulen. "Viele Frauen, die dem propagierten Schönheitsmodell nicht entsprechen, fühlen sich minderwertig, werden depressiv. Aber nach einer kosmetischen Operation sind sie wie ausgewechselt, viel selbstbewusster und beruflich noch leistungsfähiger." 90 Prozent der 50-jährigen Frauen aus der Mittelschicht Brasiliens haben mindestens eine "cirurgia plàstica" hinter sich.

Schönheit von Außen

In den großen Industrieländern halten höchstens 26 Prozent der Bewohner das Aussehen für sehr wichtig, um in der Gesellschaft voranzukommen und zu prosperieren. In Brasilien sind es immerhin 61 Prozent. "Auch Frauen aus den Slums würden nur zu gerne alle denkbaren Eingriffe machen lassen, wenn sie das nötige Geld hätten", meint Fernanda Alencar. Regelmäßig wird sie von Kolleginnen nach Brust- oder Po-Vergrößerungen in die Toilette gerufen: "Schau mal!" Chirurg Martins bestätigt: "Hier ist es anders als in Europa – die Frauen zeigen das Resultat sofort aller Welt, das gehört zu unserer Kultur."

Sein Kollege Valcinir Bedin, Präsident der Brasilianischen Gesellschaft für Ästhetische Medizin in Sao Paulo, attackiert die Schönheitsdiktatur verblüffend direkt. "Wichtige Grundwerte wie Wissen, Können und berufliche Kompetenz gelten als zweitrangig gegenüber etwas so Vergänglichem wie dem äußeren Erscheinungsbild. Auf dem Arbeitsmarkt sind die professionellen Fähigkeiten eines Bewerbers nur zweitwichtig. Wer nicht den vorgegebenen ästhetischen Normen entspricht, gar als hässlich eingestuft wird, bekommt keine Arbeit." Längst seien auch die Männer betroffen: "Sie stellten in meiner Klinik früher nur fünf Prozent der Patienten – heute ist es ein Drittel, vor allem Führungskräfte."

Aber die meisten Brasilianer können nie im Leben das Geld für eine Operation aufbringen. Führt die Schönheitsdiktatur bei ihnen nicht zu Minderwertigkeitskomplexen? "Das Selbstwertgefühl wird enorm heruntergedrückt", konstatiert Valcinir Bedin. "Nicht zufällig zählt Brasilien zu jenen Ländern, in denen die meisten Anti-Depressiva konsumiert werden. Denn die Leute sind frustriert, weil sie nicht haben können, was überall als wichtig propagiert wird." Die meisten Abmagerungspillen werden in Brasilien geschluckt, beinahe dreimal mehr als in den USA. Doch fast täglich sterben Menschen in der Warteschlange vor öffentlichen Hospitälern, haben rund 30 Millionen Brasilianer keinen einzigen Zahn mehr im Mund. Für Bedin ist dies zuallererst ein politisches Problem. "Es ist paradox und traurig – wegen der vielen sozialen Defizite Brasiliens dürfte die Schönheitschirurgie nur eine winzige Branche sein, sie ist jedoch hoch entwickelt, berühmt und führend in der Welt. Das Gesundheitswesen für das einfache Volk wird hingegen total vernachlässigt. Das stürzt mich als Schönheitschirurg in einen inneren Konflikt. Ich fühle mich nichtig, albern, belanglos – weil ich nur mit Leuten zu tun habe, die sich um alberne, belanglose Dinge sorgen."

"Chaos, Schlamperei und Horror"


Benedita Figueiredo haust mit ihrer Familie an Sao Paulos Peripherie mit den mehr als 2.000 Slums. Sie ist auf staatliche Krankenhäuser und Gesundheitsposten angewiesen. "Ärzte, Pfleger haben meist keine Lust, uns ordentlich zu behandeln. Da wird man ruck-zuck mit einer Pille weggeschickt, dann heißt es: 'Komm' in sechs Tagen wieder.' Die Leute sind dann oft schon tot – wen kümmert das schon? Häufig fehlen wichtige Medikamente – auch deshalb sterben viele." Brasiliens Medien berichten täglich über "Chaos, Schlamperei und Horror" – der katholische Bischof Demetrio Valentini sieht darin die "Konsequenz neoliberaler Politik unsensibler Politiker". Wenn Betten rar sind, werden selbst Schwerkranke auf Stühlen deponiert, bis sie leblos umkippen. Lateinamerikas führende Wirtschaftsnation lag 2006 bei der Kindersterblichkeit weltweit auf Platz 86, noch hinter Kolumbien, El Salvador oder der Dominikanischen Republik. Und es grassiert sogar noch Lepra aus dem Mittelalter. Millionen sind davon gezeichnet, haben schwere Nervenschäden, sind verkrüppelt, gar blind. Selbst in Sao Paulo ist Lepra ein Problem, ebenso wie Tuberkulose und Malaria.

Die Schwarze Marlene Ribeira Cardoso, Mutter von drei Kindern, fährt zweieinhalb Stunden mit Bussen von ihrer Slumregion zum staatlichen Gesundheitsposten, lässt sich neue Wundverbände anlegen. "Ich bin seit sieben Jahren geheilt, habe aber schreckliche Folgeschäden. Meine Füße, meine Beine sind stark angeschwollen, wie eine offene Wunde, schon seit 20 Jahren. Das tut sehr weh, auch bei jedem Schritt in den schweren Spezialschuhen. Meine Hände sind verkrüppelt und ohne Gefühl. Kürzlich habe ich einen heißen Topf vom Herd genommen und das nicht gespürt, habe mir alles verbrannt." Inzwischen bekommt Marlene Ribeira Cardoso eine Invalidenrente, umgerechnet rund 130 Euro. Sie ist Analphabetin und ein geradezu typischer Fall: "Ich arbeitete nachts in einer Textilfabrik. Und als meine Füße dick und rot wurden, sagte der Arzt, das ist schlechte Blutzirkulation und Rheuma. Er hat mich jahrelang völlig falsch behandelt, bis ein anderer Arzt zufällig meine verkrüppelten Hände sah, Lepra feststellte. Meine Familie wollte das nicht glauben: 'Lepra - so etwas gibt es doch überhaupt nicht.' Wegen der Nebenwirkungen haben meine Angehörigen die Medikamente immer wieder weggeworfen, haben mir gesagt, siehst du, das Zeug ist nicht gut für dich. Daher habe ich die Behandlung eben immer wieder unterbrochen, und alles hat sich nur verschlimmert."

Ein öffentliches Hospital an Sao Paulos Peripherie, umgeben von Elendshütten und Katen. Die junge Ärztin Maria Paim diagnostiziert dort serienweise Lepra. "Unser öffentliches Gesundheitswesen ist sehr schlecht, wir haben mehr Fälle von Lepra als von Aids in Brasilien. Die Autoritäten wollen sich diesem sozialen Problem nicht stellen, das ist ihnen unbequem und lästig. Man denkt – sollen diese Leprakranken doch ruhig in den Slums vor die Hunde gehen – denn dort sind sie ja eingesperrt." 2006 wurden 52.000 Neuinfizierte gezählt, Tendenz steigend. Auf Brasilien entfallen 97 bis 98 Prozent aller Leprafälle Nord- und Südamerikas, weltweit ist es das Land mit der höchsten Lepradichte – noch vor Indien.

Manfred Göbel aus dem bayrischen Eichstätt ging 1979 während der Militärdiktatur als katholischer Missionar in den westlichen Teilstaat Mato Grosso, der dreimal so groß ist wie Deutschland. Dort baute er eine Stelle für Leprabekämpfung auf. Er entkam Pistoleros und schwerbewaffneten Banden und riskiert bis heute sein Leben. In ganz Brasilien koordiniert Göbel derzeit 15 internationale Leprahilfswerke, darunter die "Deutsche Lepra- und Tuberkulose-Hilfe". "Diese Krankheit resultiert aus sozial ungerechten Strukturen, aus der Konzentration des Reichtums. Die Politiker müssten mehr Herz haben, sich mehr für ihr Volk einsetzen. Denn Brasilien hat genügend Gelder und sehr gute Fachkräfte", zieht Göbel sein Fazit.

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Klaus Hart arbeitet seit 1986 als Brasilienkorrespondent für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er hat mehr als 30 Reportagebände und Reisebücher über Brasilien verfasst. Der Autor lebt in Sao Paulo.