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Wirtschaftssystem und wirtschaftliche Entwicklung in Indien | Indien | bpb.de

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Wirtschaftssystem und wirtschaftliche Entwicklung in Indien Einführung und Überblick

Dr. Wolfgang-Peter Zingel

/ 14 Minuten zu lesen

Indien wird als einer der BRIC-Staaten (zusammen mit Brasilien, Russland, und China) als neue Wirtschaftsmacht gesehen, die der Weltwirtschaft aus der Krise helfen soll. Der Beitrag untersucht, wie sich das Land nach Jahrzehnten bescheidenen Wachstums zum Hoffnungsträger entwickeln konnte. Die Wahrnehmung Indiens als Wirtschaftsmacht ist nämlich jüngeren Datums. Davor bestimmte der Versuch das koloniale Erbe zu überwinden den Aufbau einer gemischten, von internationalen Märkten weitestgehend abgekoppelten Wirtschaftsordnung sowie Indiens Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft.

Arbeiterinnen in einer Schuhfabrik nahe Neu Delhi
Foto: Rainer Hörig

Auf der Computermesse Cebit 2000 erschreckte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Nation mit der Ankündigung, dass sie mangels eigener Computer-Experten in genügender Zahl auf ausländische Experten, darunter auch solche aus Indien, angewiesen sei – ein Zeichen der Anerkennung Indiens als Wissensmacht. Im Frühjahr 2006 bot der US-amerikanische Präsident George W. Bush Indien eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Interner Link: zivilen Nuklearforschung an – demselben Land, das man noch 1998 nach den indischen Atomtests mit Wirtschaftssanktionen von weiteren nuklearen Ambitionen abzuhalten versuchte. Daraus wurde aber nichts, weil Indien schon damals kaum Entwicklungshilfe aus den USA bekam und die USA die indischen Ingenieure brauchte, um alte Computer-Programme, die nur zweistellige Jahreszahlen kannten, auf das neue Jahrtausend vorzubereiten.

Der beispiellose Aufstieg der indischen Software-Industrie ist deshalb so wichtig, weil das Land, das einst Europa wirtschaftlich voraus gewesen war, endlich nach einem halben Jahrhundert Unabhängigkeit wieder als wirtschaftlicher Akteur im Weltmaßstab wahrgenommen wird.

Eine solche Entwicklung war nur möglich, weil die Software-Industrie frei von der Gängelung durch Politik und Bürokratie war, die sonst die indische Wirtschaft über Jahrzehnte fesselte, von der sie auch heute längst noch nicht frei ist. Indiens Weg zur Planwirtschaft und wieder zurück soll im Folgenden unter dem Gesichtspunkt des Wirtschaftsystems und der Wirtschaftsordnung untersucht werden.

Das koloniale Erbe

Indien wurde von einer private Handelsgesellschaft erobert, die von der britischen Krone mit allerlei Handelsprivilegien ausgestattet war. Mit der Territorialherrschaft übernahm sie auch die Steuerhoheit. In weiten Teilen des Landes machten sie die Steuereinnehmer zu Eigentümern, die ihrerseits die Grundsteuer mittels eines Systems von Zwischenpächtern auf die entrechteten Pächter überwälzten. Die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung Großbritanniens fand vor allem in der Textilwirtschaft statt; ihrer Förderung und der Steigerung der Gewinne der Ostindischen Kompanie (East India Company) diente ein doppeltes Monopol in Indien: bei der Ausfuhr von industriellen Rohstoffen und der Einfuhr von Fertigprodukten.

Indische Textilmanufakturen, bis dahin Weltmarktführer bei feinen Geweben (Musselin), wurden zu entbehrlichen Konkurrenten. Das Ergebnis war eine verbreitete De-Industrialisierung und De-Urbanisierung. Der Aufstand von 1857 zeigte die Grenzen des Geschäftsmodells der Kompanie und ihrer (britischen) auch auf eigene Rechnung arbeitenden Mitarbeiter. Die Kompanie wurde zahlungsunfähig. Im Jahr darauf übernahm die britische Krone die drei "Präsidentschaften" Madras, Bengalen (mit Sitz in Kalkutta) und Bombay.

Hatte am Anfang die Kontrolle des Indien-Handels im Vordergrund gestanden, so waren es später Steuern und Abgaben und im 19. Jahrhundert die Manufakturen, der Bergbau, die Eisenbahnen, Plantagen (Indigo, Kaffee, Tee, Kautschuk) und schließlich die aufkommende Jute- und Baumwollindustrie. Eine Verarbeitung landwirtschaftlicher Rohstoffe vor Ort bot sich allenfalls dort an, wo sich erhebliche Transportkosteneinsparungen realisieren ließen wie beim Entkernen der Baumwolle und dem Pressen von Jute. Indien stellte billige Rohstoffe und Arbeitskräfte und zugleich einen Absatzmarkt.

Dies reflektiert auch den Einfluss unterschiedlicher britischer Gruppen in Indien: Nach den Kaufleuten und Abenteurern waren es im 19. Jahrhundert vermehrt junge Adelige (Armee und Verwaltung). Im Gegensatz zu den britischen Kolonien in Afrika, Amerika und Australien wurde Indien keine Siedlerkolonie. Außer einigen Plantagen hatten die Briten nie große Anteile am Landbesitz; gemessen an der indischen Bevölkerung war die Zahl der in Indien lebenden Briten immer gering. Dafür lockten und zwangen die Kolonialherren Hunderttausende von Indern als Arbeiter, Verwaltungsbeamte und Händler in ihre Besitzungen in aller Welt von der Karibik über Afrika bis in den Pazifik.

Erst langsam begannen britische – und nach und nach auch indische – Unternehmer mit dem Aufbau einer Industrie. Die kam im Ersten und mehr noch im Zweiten Weltkrieg sehr gelegen, als Indien nicht nur Hunderttausende von Soldaten stellte, sondern auch kriegswichtige Güter lieferte. Dazwischen lag die Weltwirtschaftskrise, die Indien als Lieferanten industrieller Rohstoffe ganz besonders traf.

Unabhängigkeit, Wiederaufbau und gemischte Wirtschaftsordnung

Die Führer der Unabhängigkeitsbewegung – besonders indische Unternehmer – stellten schon früh die Frage, welche Form Staat und Wirtschaft nach der Unabhängigkeit haben sollte. Sie strebten nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit an, da es nicht genügen würde, eine gewählte Regierung an der Spitze eines unabhängigen Indiens zu haben und die britischen Verwalter (und Offiziere) durch eigene Kräfte zu ersetzen, sondern die Kommandohöhen der Wirtschaft zu besetzen und das britische Management "indischer" Firmen zu übernehmen waren.

In der letzten Phase der Unabhängigkeitsbewegung und noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden in Indien Pläne für den "Wiederaufbau" des Landes und seiner Wirtschaft entworfen. Dabei ging es nicht um kriegsbedingte Zerstörungen, sondern um eine Korrektur der Deformationen der Wirtschaft durch die lange Kolonialherrschaft. Vorbild für viele – und so auch für Jawaharlal Nehru, den Führer des Indischen Nationalkongresses – war die Sowjetunion.

Zwischen der Unterdrückung Russlands unter den Zaren und der Unterdrückung Indiens unter den Kolonialherren wurden Parallelen gesehen. Das sowjetische Modell erschien nach dem Zweiten Weltkrieg umso attraktiver, als die Sowjetunion in den Kreis der Supermächte aufrückte. Als überzeugter Demokrat wollte Nehru keine sozialistische Ordnung nach sowjetischem Vorbild, aber er sah den Nutzen einer Bündelung der nationalen Ressourcen und einer zentralen Steuerung. Dass Russland bereits vor den Sowjets über eine industrielle Basis (wie auch China bereits vor dem Krieg) verfügt hatte, wurde dabei übersehen.

Die Neue Ökonomische Politik (NEP) der Sowjets ließ eine bäuerliche Landwirtschaft, einen freien Binnenhandel und private/ausländische Investitionen zu und erlaubte eine Erholung der Wirtschaft von den Wirren der Jahre des Kriegskommunismus. Das verheerende Ausmaß der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft wurde in den Jahren der Weltwirtschaftskrise international kaum wahrgenommen, ebenso nicht die beträchtliche Wirtschafts- und Militärhilfe durch die USA während des Krieges. Nur so ist es zu erklären, dass die entwicklungspolitische Diskussion der ersten drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit Indiens von der Vorstellung überflüssiger und unproduktiver Arbeitskräfte (labour surplus) durchdrungen war, die es durch eine geschickte Steuerung staatlicher Wirtschaftspolitik in produktivere Bereiche, und das waren nach damaligem Verständnis die Industrie, zu lenken galt.

Größere weitere Kosten wurden nicht erwartet, da der Unterhalt (Subsistenz) dieser Arbeitskräfte bereits von der Gesellschaft getragen wurde. Lehrbücher in Indien feiern noch immer die "Planung" eines Staates, der nicht nur ordnend, sondern auch produzierend das Wirtschaftsgeschehen bestimmte. Dass dies nicht immer gelang fand seinen Ausdruck in Formulierungen wie Indiens als einer "funktionierenden Anarchie" (John Kenneth Galbraith) und der Warnung vor einem "weichen Staat" (Gunnar Myrdal), der sich so viele Aufgaben auflädt, dass er diese unmöglich bewältigen kann.

In den Jahren nach der Unabhängigkeit war die Regierung durch Krisenmanagement gefordert: Die Teilung des Landes durch die Abspaltung Pakistans, die Integration Hunderter Fürstenstaaten und der Verfall der Rohstoffpreise nach Ende des Korea-Krieges (1950-53) mussten bewältigt werden. Der erste Fünfjahresplan (1950-55) war gleichermaßen Bestandaufnahme, Liste von – meist schon zur Kolonialzeit entworfenen oder begonnenen – Projekten und Absichtserklärungen der Politik. Diese so genannte indikative Planung strebte nie die Verbindlichkeit der Fünfjahrespläne der Sowjetunion an. Die Industrialisierung wurde als Schlüssel für Modernisierung und Entwicklung gesehen. So fanden massive staatliche Investitionen in die Grundstoff- und Schwerindustrie und in die wirtschaftliche Infrastruktur statt; in den 50er Jahren wurden allein drei Stahlwerke erbaut, darunter – mit deutscher Hilfe – das Werk in Rourkela (Orissa).

Nehrus Vorstellungen von einer Aufgabenteilung unter den Akteuren der Wirtschaftpolitik lassen sich aus der Verfassung (1950) und den ersten Wirtschaftsgesetzen ablesen. So wurden weite Bereiche der Schwerindustrie dem Staat und einfache, arbeitsintensive Produktionen der Heimindustrie (Home/Cottage Industry) vorbehalten. Aus der Zwangswirtschaft des Krieges wurde die öffentliche Verteilung (Public Distribution System, PDS) von Artikeln des Grundbedarfs (Nahrungsmittel, Kerosin) zu subventionierten Preisen und ein System von öffentlichen Verkaufsstellen übernommen. Heute setzt man auf ein Programm, dass den armen Familie auf dem Lande Beschäftigung für jeweils ein Mitglied für 100 Tage im Jahr zum Mindestlohn garantiert.

Im Ausland hegte man andere Hoffnungen: Der "Kalte Krieg" entwickelte sich schnell zu einem "Kampf der Systeme", in dem Indien, die "größte Demokratie der Welt", für individuelle Freiheit, Dezentralisierung und Wettbewerb und die Volksrepublik China für Unterdrückung, Zentralisierung und Zentralverwaltungswirtschaft standen. Der Versuch der Westmächte, Indien in ihr System regionaler Militär- und Wirtschaftsallianzen einzubeziehen, misslang jedoch.

Von allen Staaten der damals entstehenden "Dritten Welt" (gegenüber der "Ersten Welt" der westlichen Industrieländer und der "Zweiten Welt" des Ostblocks), ist Indien wohl derjenige, dem es am besten gelang, sich einer Vereinnahmung ohne größeren Schaden zu entziehen. Die anfangs gefeierte Interner Link: chinesisch-indische Freundschaft zerbrach schon bald an der Frage der Vorherrschaft in Asien, der Führung der "Blockfreien Staaten" und – spezieller – dem Schicksal der Himalaya-Staaten, insbesondere Tibets und Sikkims. Die USA bemühten sich derweilen mit großzügiger Wirtschaftshilfe um Indien, ließen sich aber nicht in die Kriege mit Pakistan und China hineinziehen.

Eigenständigkeit, Abkopplung und Regulierung

Die Vereinigten Staaten halfen auch in der heraufziehenden Krise, die sich bei einer rasch wachsenden Einwohnerzahl und einer nur gering ansteigenden Agrarproduktion 1965 einstellte: Ohne US-amerikanische Nahrungsmittellieferungen hätte Indien eine Hungersnot größten Ausmaßes erlebt; die Dankbarkeit hielt sich aber in Grenzen, da die Lieferungen an politische Bedingungen (Food Power), wie der Beendigung des Krieges mit Pakistan, geknüpft waren. Der Streit mit Pakistan wurde mit internationaler Vermittlung beigelegt; noch während der Gespräche (Taschkent 1966) starb Nehrus Nachfolger Lal Bahadur Shastri und Indira Gandhi, die Tochter Nehrus, wurde Ministerpräsidentin.

Sie schuf die allumfassende Regulierung, die unter dem Namen Licence Raj eine zweifelhafte internationale Berühmtheit erlangte. In rascher Folge verstaatlichte sie einen großen Teil der Finanzwirtschaft, der Außenwirtschaft und schließlich auch des Handels. Damit waren der Höhepunkt von Self-Reliance (eigentlich ein eher kulturelles Konzept der Besinnung auf die eigenen Werte) und die Abkopplung vom Weltmarkt erreicht. Das Scheitern dieses Ansatzes wurde deutlich, als sie 1973 auch noch den für das Land lebenswichtigen Getreidehandel verstaatlichte; nach wenigen Monaten musste sie die Maßnahme zurücknehmen. Die Ausrufung des Notstandes (1975-77) hatte politische und keine wirtschaftliche Gründen, erlaubte Indira Gandhi jedoch zwei weitere Jahre zentraler Wirtschaftslenkung.

Rückblickend erscheint Indira Gandhis Wirtschaftspolitik weniger Ausdruck entwicklungspolitischer Strategie als die Reaktion auf tagespolitische Zwänge des Machterhalts zu sein. Die verheerende Niederlage im Krieg mit China (1962) und die Verwundbarkeit im Krieg mit Pakistan (1965) hatten gezeigt, dass das bündnisfreie Indien auf seine eigene Abwehr angewiesen war; der bereits nach der Unabhängigkeit eingeschlagene Weg des Aufbaus einer eigenen Schwerindustrie erschien um so wichtiger, 1974 wurde erstmals ein nuklearer Sprengsatz gezündet.

Das Wahlversprechen der Abschaffung der Armut konnte sie aber nicht einlösen. Nach dem Kräfte zehrenden Krieg mit Pakistan 1971 (der mit der Unabhängigkeit Bangladeschs endete) folgte der "Ölschock", als 1973 die Öl exportierenden Staaten (OPEC) den Rohölpreis vervierfachten. So steht am Ende einer zunehmenden Regulierung der Wirtschaft die Konzentration auf eine Person (Wahlslogan: "Indira ist Indien"), eine Zentralisierung der Entscheidungen und eine Abkehr von den demokratischen Prinzipien der Unabhängigkeitsbewegung.

Nach Indira Gandhis Sturz 1977 machte sich die Janata-Regierung zögerlich ans Werk, das umfassende Regulierungssystem abzubauen, ebenso ihr Sohn Rajiv Gandhi, der ihr nach ihrer zweiten Amtszeit (1980-84) und Ermordung im Amte folgte. Die Sozialpolitik der ihm nachfolgenden als linksliberal einzustufenden Minderheitsregierungen führte zu Unruhen: Als Maßnahme der "positiven Diskriminierung" benachteiligter Gruppen sind in Indien eine Anzahl von Studienplätzen und Stellen im öffentlichen Dienst für Angehörige der als Adivasi bezeichneten Ursprungsbevölkerung (Scheduled Tribes, ST) sowie untere Kastengruppen wie den "Unberührbaren" (Dalit, Scheduled Castes, SC) entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil und vorbehaltlich ihrer fachlichen Qualifikation "reserviert".

Entsprechend den Empfehlungen der Mandal-Kommission sollten weitere "sonstige rückständige Klassen" (Other Backward Classes, OBC) Quoten erhalten, was einen Sturm der Entrüstung vor allem unter den direkt betroffenen Angehörigen des traditionellen Bildungsbürgertums, d.h. der höheren Kasten, hervorrief, auch wenn das oberste Gericht verfügte, dass die Reservierungen weniger als die Hälfte (in der Praxis maximal 49,5 Prozent) aller Positionen ausmachen dürften. Das Problem entflammt jedes Mal neu, wenn die Regierung versucht, die Reservierung weiter auszudehnen. Im Falle der Arbeitsplätze wird dagegen eine Ausweitung auf den Privatsektor gefordert.

Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft

Die Ermordung Rajiv Gandhis während des Wahlkampfs 1991 trug wesentlich zum Wahlsieg der Kongresspartei bei. Der neue Finanzminister und spätere Premierminister Manmohan Singh sah sich vor neue Aufgaben gestellt, als nämlich nach der irakischen Invasion Kuwaits die Ölpreise explodierten und Indien zugleich Einbußen bei den Heimüberweisungen seiner Wanderarbeiter in Irak und Kuwait hinnehmen musste. Angesichts einer sich abzeichnenden internationalen Zahlungsunfähigkeit vollzog die indische Regierung einen deutlich wahrnehmbaren Kurswechsel. Die Wirtschaft reagierte sehr günstig auf die Öffnung des Landes zum Weltmarkt und die Aufhebung beziehungsweise Lockerung vieler Bestimmungen, die Indiens Wirtschaft bis dahin eingeengt hatten. Diese Deregulierung ist allerdings nur bemerkenswert, wenn man sie an der indischen Vergangenheit misst. Im internationalen Vergleich ist Indien noch immer ein stark reguliertes Land.

(© picture alliance/ Robert Harding)

Noch heute befinden sich in Indien größere Teile der Wirtschaft in staatlichem Eigentum als in den Industriestaaten. Damit nicht zufrieden, hat der indische Staat seine Wirtschaft, also auch die privaten Betriebe, mit einem ausgefeilten System von Regeln überzogen. Weil diese mehr noch als der staatliche Industriebesitz die Betriebsleitung in ihren unternehmerischen Entscheidungen einengen, werden sie als entwicklungshemmend angesehen. Seit langem wird gefordert, die Wirtschaft von ihren Fesseln zu befreien und zu deregulieren, d.h. die staatlichen Kontrollen von Märkten und Preisen zu reduzieren und Staatsbetriebe zu privatisieren.

Als größtes Hindernis gilt Kritikern, wie den Ökonomen Jagdish Bhagwati und Arvid Panagariya, das Arbeitsrecht mit seinem weitgehenden Kündigungsschutz, das es den Mittel- und Großbetrieben des "organisierten" Sektors praktisch unmöglich macht, Arbeitskräfte zu entlassen. Kleinstfirmen scheuen sich deshalb in diese Kategorie aufzusteigen. Davon profitieren Subunternehmer und Leiharbeitsfirmen zu Lasten der Beschäftigten.

Indien rühmt sich der zehntgrößte Industrieproduzent zu sein, ist aber noch immer eher ein Interner Link: Agrarland mit einer wachsenden Industrie. Diese hat einen Anteil am Inlandsprodukt von weniger als einem Viertel (2012-13). Sechs bis sieben Prozentpunkte davon entfallen auf das Baugewerbe und ein bis zwei Prozentpunkte auf den Bereich Energie, Gas und Wasser, so dass das verarbeitende Gewerbe lediglich einen Anteil von einem Sechstel zum Inlandsprodukt beisteuert. Rund zwei Drittel davon entfallen auf die "nicht registrierten" Betriebe des "nicht organisierten Sektors" mit jeweils wenigen Beschäftigten und einem geringen Umsatz. Sie sind der staatlichen Lenkung und Kontrolle weitgehend entzogen und Teil des "informelle Sektor", der von der amtlichen Statistik mangels Berichtspflicht mit pauschalen Ansätzen erfasst wird. Nur die registrierten Betriebe des verarbeitenden Gewerbes entsprechen unseren Vorstellungen von Industrie. Sie haben einen Anteil von etwa einem Zehntel am Inlandsprodukt.

Indiens Erwerbsquote, d. h. der Anteil der Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Arbeitslose) lag zuletzt bei nur 39 Prozent. Noch sind fast zwei Drittel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, nur ein Sechstel in der Industrie und ein Fünftel im Dienstleistungsbereich beschäftigt. Nur 28 Millionen sind im "organisierten" Sektor, einschließlich des öffentlichen Dienstes, tätig, davon sind ein Fünftel weiblich. Der Strukturwandel in der Beschäftigung hinkt dem in der Wertschöpfung weit hinterher. Der IT-Bereich verdient zwar die meisten Devisen, beschäftigt aber direkt nur zwei bis drei Millionen und indirekt vielleicht 12 Millionen, während das Land jedes Jahr zusätzlich 10 Millionen neue Arbeitsplätze braucht.

Dem modernisierungstheoretischen Ansatz folgend, dass sich Staaten auf einem Pfad zur Entwicklung befänden, auf dem die Nachzügler sich beeilen, die entwickelten Staaten einzuholen, erwarten wir einen sektoralen Wandel, der nacheinander die Landwirtschaft, die Industrie und die Dienstleistungen als dominante Sektoren, gemessen an der Beschäftigung und – mit einiger Verzögerung – bei der Wirtschaftsleistung sieht. In der traditionell arbeitsteiligen Gesellschaften Indiens, wo die Kastenzugehörigkeit die Berufswahl bestimmt, kann man aber eine andere Entwicklung beobachten: Hier sind die Dienstleistungen (gemessen an der Wirtschaftsleistung) direkt an die erste Stelle gerückt; die Verteilung der Beschäftigten auf die drei Sektoren hat sich dagegen seit über einhundert Jahren kaum geändert.

Die Grenzen der Liberalisierung

Trotzdem ist nicht zu erwarten, dass Indien die Phase der Industrialisierung überspringen und als Dienstleistungswirtschaft direkt in den Kreis der Schwellenländer oder "entwickelten" Wirtschaften aufsteigen könnte.

Dietmar Rothermund hat in seinen Schriften zur Wirtschaftsentwicklung Indiens darauf hingewiesen, wie die Industrie von der Kolonialregierung mehr behindert als befördert wurde. Kritiker werfen der Regierung des unabhängigen Indien vor, dass die Erfolge prestigeträchtiger Projekte der Rüstungs-, Weltraum- und Nukleartechnologie zu Lasten anderer Industriebereiche und der sozialen Entwicklung gingen.

Auf jeden Fall spielt die Industrie in Indien nicht die Rolle, die die Unabhängigkeitskämpfer erhofft und erwartet hatten, und global gesehen hat Indien heute als Industrienation nicht im Entferntesten die Bedeutung, die der Einwohnerzahl von mehr als 1,21 Milliarden (Stand Volkszählung 2011) oder dem strategischen Gewicht einer Nuklearmacht entsprechen würde – weder vom Umfang und erst recht nicht vom Stand der Technik her. Diese Einschätzung wird durchaus von indischen Ökonomen geteilt. Die Tatsache, dass Indien auf anderen Gebieten viel erreicht hat, ist Anlass zu Optimismus auch für den Industriesektor. Hauptengpass ist die Infrastruktur. Zudem sind neue soziale Probleme entstanden.

Der indische Markt ist längst nicht mehr abgeschottet: Indiens Anteil am Welthandel steigt; die Außenhandelsquote von 43 Prozent hat sich seit 1980 verdreifacht; China hat Deutschland überholt und steht an erster Stelle der Handelspartner und auch der Handel mit Pakistan und den anderen südasiatischen Nachbarn nimmt deutlich zu. Die Währungspolitik versucht nicht länger den Kurs der Rupie künstlich hochzuhalten: Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise hat sich der Wert der Rupie gegenüber Dollar und Euro fast halbiert.

(© picture alliance/ Robert Harding)

In den Binnenwirtschaft herrscht Reformstau. Die Liste der von führenden indischen Ökonomen geforderten Änderungen ist lang: An erster Stelle wird der gespaltene Arbeitsmarkt genannt mit seiner kleinen Zahl von hochgeschützten Arbeitskräften, während die überwiegende Mehrheit kaum einen Schutz genießt. An zweiter Stelle das Bodenrecht, das gleichzeitig Industrieansiedlungen erschwert und die Opfer von Enteignung und Vertreibung ohne angemessene Entschädigung lässt. An dritter Stelle die völlig überforderte Infrastruktur, und an weiteren Stellen die überforderten Hochschulen, der ineffiziente Handel mit seinem staatlichen Verteilungssystem und einem zersplitterten Groß- und Einzelhandel. Bezeichnend ist, dass die Wirtschaftsleistung des Handels höher als die der Landwirtschaft ist: Er schafft Beschäftigung während ein erheblicher Teil der Nahrungsprodukte mangels geeigneter Lagerung und schonenden und schnellen Transports nie den Verbraucher erreicht.

Bei den sozialen Diensten (Elementarschulen, Gesundheit) ist Indien zum Teil hinter Bangladesch zurückgefallen. Das sensationelle Wirtschaftswachstum hat sich zuletzt auf 5 Prozent halbiert.

Soweit der Staat die Industrie in eigener Regie betreibt, kontrolliert er sich selbst. Daraus – so die Kritiker – resultiert ein geringes öffentliches Interesse an der Einhaltung von Sicherheitsstandards, was auch die privaten Unternehmen ausnutzen, die in den einschlägigen Industriezweigen aktiv sind. So ließe sich erklären, dass sich das weltweit bisher verheerendste Industrieunglück (Bhopal 1984) in einer Chemiefabrik in Indien ereignete.

Um Staats- (und andere) Betriebe, wie die seit Jahren defizitäre Fluglinie Air India, vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren, gewähren ihnen die staatlichen Banken immer neue Kredite, die aus hohen Spareinlagen und notfalls aus dem Staatshaushalt refinanziert werden. Banken hatten auch Kredite zu Vorzugsbedingungen an ausgewählte Wirtschaftsbereiche, insbesondere an die Landwirtschaft, auf dem Wege der Quersubvention zu vergeben. Für die Übernahme von Staatsbetrieben werden sich aber nur dann Investoren finden, wenn das Problem der Altschulden gelöst ist.

Die Privatisierung von rentablen Staatsbetrieben wird von ihren Gegnern als "Verkauf des Familiensilbers" gebrandmarkt wird. Die komfortable Ertragssituation dieser Firmen ist aber in der Regel auf staatliche Monopole zurückzuführen, vor allem im Bereich der "natürlichen Monopole", wo technische Gegebenheiten einen wirksamen Wettbewerb unmöglich machen. Hier hat es erste zaghafte Ansätze gegeben. Die Übernahme staatlicher Versorgungsbetriebe ist – wie auch in anderen Ländern – nicht ohne Tücken, weil Gebührenbefreiung, verbrauchsunabhängige Tarife und fehlende Verbrauchserfassung die verbreitete Trittbrettfahrermentalität belohnen, die Interner Link: Korruption fördern und zu "Systemverlusten" geführt haben, die die Anbieter vor unlösbare finanzielle Probleme stellen. Systemüberlastung ist die Folge; für Erweiterungs- und selbst Erhaltungsinvestitionen fehlen oft die Mittel.

Als Reaktion auf diese Missstände formiert sich Widerstand. Die aufstrebende Mittelklasse ist nicht mehr bereit die allgegenwärtige Korruption als unvermeidliches Übel zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren hinzunehmen. Bei den Parlamentswahlen in New Delhi Ende 2013 wurde Aam Aadmi, die neue "Partei des einfachen Mannes", auf Anhieb zweitstärkste Partei.

InfokastenAusgewählte Zahlen und Fakten

Anteile der Sektoren am BIP (FK zu laufenden Preisen, geschätzt) 2011-12:

- Landwirtschaft: 19,6%
- Industrie: 24,3%
- Handel: 25,2%
- Finanzsektor: 16,6%
- Dienstleistungen: 14,0%

Quelle: Externer Link: Economic Survey 2012-13, A-6 (30.1.2014)

Außenhandelsquote = Summe der Exporte und Importe von Gütern und Dienstleistungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt 2012-13: 42,9%.

Exporte 2012-13: 16.343 Mrd. INR
Importe 2012-13: 26.692 Mrd. INR

Quelle: Externer Link: Reserve Bank of India: RBI Monthly Bulletin, January 2014, p. 93 (30.1.2014).

BIP (current MP) 2012-13: 100.281 Mrd. INR

Quelle: Externer Link: Economic Survey 2012-13, p. 2. (30.1.2014)

Beschäftigte im organisierten Sektor 2009: 28,1 Mio, davon 19,9 % weibliche.

Quelle: Externer Link: Census of India. Selected Socio-Economic Statistics, November 2011, p. 56. (Stand: 30.1.2014)

Zahl der Fabrikarbeiter 2005-06: 9,0 Mio.

Quelle: Statistical outline of india 2008-09, p.60.

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Dr. Wolfgang-Peter Zingel war viele Jahre lang akademischer Mitarbeiter in der Abteilung Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik am Südasien-Institut der Universität Heidelberg. In seinen Publikationen beschäftigt er sich vor allem mit Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Südasiens.