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"Bildung als Unglück" | bpb.de

"Bildung als Unglück"

Nasrin Alavi

/ 4 Minuten zu lesen

In Iran herrscht eine obligatorische Kleiderordnung, die von Sittenwächtern überwacht wird. Der "Hidschab", die islamische Verhüllung, die für Frauen in der Öffentlichkeit zwingend ist, ist auch Thema des Wahlkampfs: Das Reformlager verspricht eine Lockerung. Doch für viele Frauen geht es um weit mehr.

Im Präsidentschaftswahlkampf 2005 wies Ahmadinedschad alle Behauptungen rigoros zurück, er verschärfe die obligatorische islamische Kleiderordnung, den Hidschab. Dennoch machen die regelmäßigen Razzien gegen "schlechten Hidschab" für viele Frauen den Gang durch die Stadt zu einem nur allzu vertrauten Hindernislauf. Viele Frauen wurden in den letzten Jahren verhaftet und in noch größeren Zahlen verwarnt, weil sie ihre Kopftücher so trugen, dass ihr Haar zu sehen war, und sie damit gegen die strenge öffentliche Kleiderordnung des Landes verstießen.

Einmal mehr haben die Präsidentschaftskandidaten der Reformer, Mehdi Karroubi und Mir Hossein Mussawi, nun versprochen, die Patrouillen der Sittenwächter zu unterbinden, die Frauen kontrollieren und verhaften. Schon vor der Revolution von 1979 zog es die Mehrheit der Frauen vor, den Kopf in irgendeiner Weise zu bedecken. Mit Gründung der Islamischen Republik wurde die islamische Kleiderordnung für Frauen in der Öffentlichkeit zwingend. Für Frauen, vor allem aus traditionellen Familien, wurde mit der obligatorischen Verhüllung der Weg in die Arbeitswelt geebnet und die Möglichkeit auf Bildung und Emanzipation eröffnet. [Anm. d. Red.: Mit Einführung der Kleidervorschrift mussten religiös-traditionelle Familien nicht mehr befürchten, dass ihre Töchter außer Reichweite der familiären Kontrolle "unzüchtige" Kleidung tragen.] Im Jahre 1975 lag der Analphabetismus unter Frauen in ländlichen Gebieten bei 90 Prozent und bei über 45 Prozent in den Städten. Heute ist die Alphabetisierungsrate bei Mädchen zwischen 15 und 24 Jahren auf 97 Prozent angestiegen und die Zahl der Studentinnen an staatlichen Hochschulen übersteigt die der männlichen Studenten. Die Frauen haben Iran seit der Revolution verwandelt. Ein Drittel aller Ärzte, 60 Prozent der Beamten und 80 Prozent der Lehrer in Iran sind Frauen.

Es geht um mehr als die Kleiderordnung

Diese Frauen müssen für sich entscheiden, ob sie den Wahlversprechungen, die mehr gesellschaftliche Freiheit beteuern, Glauben schenken wollen. In den letzten vier Jahren gerieten Aktivisten und Aktivistinnen verstärkt unter Druck in Form von Vorladungen, Verhaftungen und Einschüchterungen. Manche sind der Meinung, das Regime sei immun gegen Veränderungen, aber viele andere, vor allem Frauen, sind Experten darin, Wege zu finden, um die Einschränkungen des patriarchalen Systems zu umgehen. Diesen Aktivistinnen geht es nicht so sehr darum, ob nun der Schleier getragen wird oder nicht; sie beschäftigen sich viel mehr mit einem besseren Zugang zu Bildung, mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, Gleichberechtigung bei der Arbeit und einer besseren medizinischen Versorgung für ihre Familien.

Doch öffentlicher Protest ist gefährlich. Am 1. Mai wurden iranische Arbeiter und Arbeiterinnen sowie Frauenrechtlerinnen bei einer Versammlung in Teherans Laleh-Park zur Feier des Internationalen Tags der Arbeit festgenommen. Die iranische Bloggerin Rera war vor Ort und beschreibt ihre Scham, als sie zusieht, wie die Sicherheitskräfte eine junge Frau in Handschellen abführen:

"Wir konnten noch nicht einmal wie der zehnjährige Junge sein, der wütend und unter Tränen seinen Vater fragt, mit welchem Recht sie die Menschen verprügeln?

Wir, das Volk... haben zugesehen... als einer von uns schutzlos und voller Blut war... und sind nicht zur Seite getreten, um seine Flucht zu ermöglichen, geschweige denn, dass wir diesen Verrätern mit den Schlagstöcken in der Hand die Stirn geboten hätten. Wir haben zugelassen, dass er zu Boden ging und von den Sittenwächtern zu ihren Wagen geschleppt wurde. Das ist die Ursache unseres Verfalls; die Sittenwächter, die uns unserer Würde beraubt und uns so fügsam gemacht haben. Wir haben uns an die Verhaftungen Unschuldiger gewöhnt. Wir haben uns an Beleidigungen, Gewalt und Schläge gewöhnt.

Nur eine Stunde nach den grausamen Ereignissen gestern, so gegen 18 Uhr, war der Laleh-Park wieder ein friedlicher Ort, an dem man einen sorglosen Nachmittag mit der Familie verbringen konnte.

Dem Park mit den Springbrunnen mangelte es gestern an gar nichts... außer an Respekt und Menschlichkeit. Respekt für jemanden, der rief: 'Ich bin ein Arbeiter! Wenn das ein Verbrechen ist, nehmt mich mit.'"

Eine gut ausgebildete Generation unter Zwang

Als Antwort postet die Userin Rosa: "Rera, Du warst auch da? Ich stand hinter den Kiefern und habe von da aus mit Entsetzen zugesehen." In ihrem eigenen Blog führt Rosa ihre Schilderungen fort. Sie beschreibt die Reaktion ihrer Mutter, dass sie selbst bei der Versammlung anwesend war: "Ich höre mir ihre Schreie und Flüche an,; wie sie mich ausschimpft, weil ich vom rechten Weg abkomme; sie verflucht sich selbst dafür, dass sie mir nicht zur rechten Zeit die Flügel gestutzt hat. Warum hat sie mir nur erlaubt zu studieren?"

Diese Frage stellen auch andere. Ayatollah Ahmad Jannati, ein enger Verbündeter des amtierenden Präsidenten und Vorsitzender des Wächterrats, sprach kürzlich bei einem Freitagsgebet in Teheran von "dem Unglück, dass die Hochschulen und Studentinnen gebracht haben". Wie man das auch beurteilen mag, die Obrigkeit hat keine andere Wahl, als sich dieses "Unglück" einzugestehen.

Um die Blogger nicht zu gefährden, werden die Links zu den Blogs nicht genannt.

Aus dem Englischen von Martina Heimermann

Fussnoten