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Großbritanniens Rolle innerhalb und außerhalb der EU | Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU | bpb.de

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Großbritanniens Rolle innerhalb und außerhalb der EU

Nicolai von Ondarza

/ 7 Minuten zu lesen

Großbritannien nimmt in der Europäischen Union eine Sonderrolle ein. Wodurch kennzeichnet sich der besondere Status des Vereinigten Königreichs? Was sind die wichtigsten Partner und was die Schwerpunkte der britischen Außenpolitik?

UK Grunge Flag (© Nicolas Raymond / Externer Link: Flickr)

"I want my money back!" – mit diesen Worten forderte schon Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren eine Sonderbehandlung für Großbritannien in der Europäischen Union (EU) ein. Doch ebenso eindeutig hat sich Thatcher für die Schaffung des EU-Binnenmarkts eingesetzt. Diese Haltung zieht sich bis heute auch durch die Europapolitik von David Cameron, der einer tiefen politischen Integration weitgehend ablehnend gegenübersteht, aber die wirtschaftliche Zusammenarbeit unterstützt. Außen- und sicherheitspolitisch setzt Großbritannien primär auf die USA und die Interner Link: NATO, während es die EU eher als ergänzenden Handlungsrahmen betrachtet. Am 23. Juni werden die britischen Bürger nun entscheiden, ob sie diesen 'halb draußen'-Status unterstützen – oder die EU ganz verlassen wollen.

Großbritanniens Sonderrolle in der EU

Das Vereinigte Königreich ist den damaligen Interner Link: Europäischen Gemeinschaften (EG) 1973 als Teil der ersten Erweiterungswelle Externer Link: gemeinsam mit der Republik Irland und Dänemark beigetreten. Die Beweggründe für den Beitritt waren anders als etwa in Frankreich und Deutschland primär wirtschaftlicher Natur. In den 1970er-Jahren galt Großbritannien als 'sick man of Europe', dem nach dem Verlust des Empires auch drohte, wirtschaftlich hinter der Entwicklung auf dem Kontinent zurückzubleiben.

Heute haben sich die Vorzeichen, nicht jedoch die grundsätzlichen Interessen der britischen Europapolitik verschoben. Großbritannien ist mit seinen knapp 65 Mio. Einwohnern nach Deutschland und Frankreich der drittgrößte EU-Mitgliedstaat und damit einer der 'großen Drei', welche insbesondere die intergouvernementalen Bereichen der EU besonders stark beeinflussen. Wirtschaftlich liegt das Land mit einem Interner Link: Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp 2.569 Mrd. € (2015) noch deutlich vor Frankreich (2.184 Mrd. €) an zweiter Stelle hinter Deutschland (3,026 Mrd. €). Vor allem hat sich das Vereinigte Königreich deutlich besser von der Interner Link: Wirtschafts- und Finanzkrise erholt als die meisten Euro-Staaten und erreichte seit 2009 stets höhere Wachstumsraten als die Eurozone in ihrer Gesamtheit. In der Folge ist London trotz dem von Margarete Thatcher ausgehandelten Interner Link: 'Britenrabatt' drittgrößter Nettozahler in den EU-Haushalt (2014).

Schwerpunkt Binnenmarkt

Die politischen Prioritäten der britischen Regierung in der EU sind relativ eindeutig: So haben sich die letzten Regierungen – unabhängig davon, ob sie von den Konservativen oder von Labour angeführt wurden – durchgängig für eine Vertiefung des EU-Binnenmarkts und die Ausweitung von Interner Link: Freihandelsabkommen mit Drittstaaten eingesetzt. Kernbestandteil der "neuen Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der EU", wie sie David Cameron vor dem Referendum ausgehandelt hat, war daher eine weitere Vertiefung des gemeinsamen Marktes, insbesondere in den Bereichen Dienstleistungen, digitaler Handel und Energie. Die britische Wirtschaft, die mittlerweile zu fast 80 Prozent aus Dienstleistungen besteht, würde hier besonders von einer weiteren Öffnung der EU-Märkte profitieren. Gleichzeitig haben sich die letzten britischen Regierungen durchgängig für den Abbau von Regulierung vor allem für kleinere und mittelständische Unternehmen im Binnenmarkt eingesetzt, um die Kosten von Bürokratie zu senken. Die britische Regierung gehört auch zu den stärksten Befürwortern der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) mit den USA. Wichtige Partner in der EU sind hier für London ebenfalls wirtschaftlich liberal ausgerichtete Mitgliedstaaten wie Dänemark, Schweden, die Niederlande und zum Teil Deutschland.

Ein zweiter, traditioneller Schwerpunkt der britischen Europapolitik hat jedoch an Bedeutung verloren. So hat sich London in der Vergangenheit besonders deutlich für eine Erweiterung der EU ausgesprochen. Auch die eventuelle Aufnahme der Türkei in die EU hat Großbritannien durchweg unterstützt. In diesem Zusammenhang hat Großbritannien 2004 neben Irland und Schweden als einziges Mitgliedsland seinen Arbeitsmarkt direkt Interner Link: für Einwanderer aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten geöffnet. Danach ist die Anzahl von EU-Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Großbritannien deutlich gestiegen. Davon hat das Land zwar wirtschaftlich stark profitiert, in der Bevölkerung ist aber die Sorge vor zu großer Migration gestiegen. Die britische Regierung war daher in den letzten Jahren darum bemüht, die Anreize für Einwanderung aus anderen EU-Mitgliedstaaten zu senken – hierzu gehört insbesondere die von David Cameron mit der EU ausgehandelte 'Notbremse', die es Großbritannien im Falle eines Votums für den Verbleib in der EU erlauben würde, für sieben Jahre Sozialleistungen an EU-Arbeitnehmerinnen und -nehmer zurückzuhalten. Die traditionell guten Beziehungen Londons zu den mittel- und osteuropäischen Staaten haben hierunter zuletzt gelitten, obwohl es in Bezug auf die Skepsis gegenüber einer weiteren EU-Integration zunehmend Gemeinsamkeiten etwa mit den Regierungen in Warschau oder Budapest gibt.

Dritter langfristiger Schwerpunkt der britischen Europapolitik ist die Interner Link: Terrorismusbekämpfung in der EU. Zwar ist Großbritannien nicht im Interner Link: Schengenraum und hat in der Innen- und Justizpolitik ein Opt-In-Recht (siehe unten). In der Praxis hat das Land sich aber besonders seit den Terroranschlägen in London von 2005 aktiv an der vertieften Zusammenarbeit der EU-Staaten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus beteiligt, zuletzt etwa 2016 beim Beschluss zur verpflichtenden Speicherung von Fluggastdaten innerhalb der EU.

Das Land der Opt-Outs

Gleichzeitig ist London in anderen Politikbereichen darauf aus, seine nationale Souveränität möglichst zu bewahren. Großbritannien ist bereits heute das EU-Mitglied mit den meisten Sonderausnahmen. Sie erstrecken sich auf drei Bereiche: Erstens ist das Land dauerhaft von der Interner Link: dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ausgenommen. Mittlerweile gibt es nach den Erfahrungen der Interner Link: Eurokrise auch keine größere Partei in Großbritannien mehr, die sich für eine Euro-Einführung ausspricht. Eine aus britischer Sicht zentrale Errungenschaft von David Cameron in der Einigung mit der EU war daher eine rechtliche Absicherung, dass britische Unternehmen nicht in der Interner Link: Eurozone diskriminiert werden dürfen.

Das zweite große Interner Link: Opt-Out betrifft den Schengenraum und die Innen- und Justizpolitik. So hat sich Großbritannien von Beginn an nicht an der Öffnung der Binnengrenzen beteiligt und ist demnach auch nicht im selben Maße von der Flüchtlingskrise betroffen. Bei der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU und dem Abkommen mit der Türkei zur direkten Aufnahme von Flüchtlingen bleibt das Land außen vor. In der Innen- und Justizpolitik verfügt Großbritannien seit dem Vertrag von Lissabon über ein Opt-In-Recht – das bedeutet, dass es sich bei jedem Gesetzakt entscheiden kann, ob es sich daran beteiligt. Die bisherige Praxis zeigt, dass sich London hier vor allem an Maßnahmen zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung wie Interner Link: Europol beteiligt, während es gemeinsamen Standards, etwa im Asylbereich, fernbleibt. Zuletzt hat Großbritannien noch ein Opt-Out aus der Anwendung der Interner Link: Charta der Grundrechte der EU.

Die jüngste Sonderausnahme ist 2016 bei den Verhandlungen mit Cameron vor dem Referendum vereinbart worden. Demnach wird sich Großbritannien grundsätzlich nicht an der weiteren politischen Integration in der EU beteiligen, das Ziel der 'immer engeren Union' soll nicht mehr für das Land gelten. Auch bei einem Verbleib hat sich Großbritannien für die absehbare Zukunft von der weiteren EU-Integration abgekoppelt.

Außenpolitische Schwerpunkte

Das Vereinigte Königreich gehört weiterhin zu den außen- und sicherheitspolitisch einflussreichsten Staaten der Welt. Auf der einen Seite ist das Land ständiges Mitglied im Interner Link: UN-Sicherheitsrat mit Veto-Recht; es ist Atommacht und verfügt neben Frankreich über den höchsten Wehretat sowie die größten militärischen Fähigkeiten innerhalb der EU. Auf der anderen Seite hat das Land über seine Beziehungen zu den 53 Staaten des Interner Link: Commonwealth, sein umfassendes diplomatisches Netzwerk und die engen Beziehungen zu den USA auch diplomatisch weiterhin eine globale Reichweite jenseits des europäischen Kontinents.

Die 'special relationship' zur USA und die reservierte Haltung zur Außen- und Sicherheitspolitik der EU

Der wichtigste außen- und sicherheitspolitische Partner für Großbritannien sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Gemäß der britischen Nationalen Sicherheitsstrategie ist das aktive Engagement der USA in Europa und die Aufrechterhaltung der NATO zentraler Garant der britischen Sicherheit. Großbritannien hat die USA daher in den vergangenen Jahrzehnten bei fast allen militärischen Interventionen direkt unterstützt, wie etwa im Irak, in Afghanistan, in Libyen oder zuletzt Syrien. Nach britischer Lesart beruht die 'special relationship' mit den USA daher nicht nur auf gemeinsamer Kultur, sondern ebenso gemeinsamen wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen.

Zurückhaltender ist hingegen die britische Haltung zur Interner Link: Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. Unter der Labour-Regierung von Tony Blair war London gemeinsam mit Paris und Berlin noch treibende Kraft hinter der Gründung der GSVP als Mittel zur Stärkung europäischer militärischer Handlungsfähigkeit, solange die NATO nicht untergraben wird. Großbritannien stellt daher beispielweise eines der militärischen Hauptquartiere für die EU, welches seit 2008 für die Anti-Piraterie Operation EUNAVFOR Atalanta vor der Küste Somalias genutzt wird. Die Regierungen unter Premier David Cameron hingegen pflegen zur GSVP eine kritische Distanz – neben der Bereitstellung des Hauptquartiers beteiligt sich das Land an EU-Operationen kaum, während es einer weitergehenden militärischen Integration ablehnend gegenübersteht.

Positiver ist die britische Grundhaltung zur Koordinierung in der Interner Link: Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU. Insbesondere in der Interner Link: Ukraine-Krise hat London erkannt, dass neben einer Unterstützung der östlichen Mitgliedstaaten der NATO die direkten Verhandlungen der Europäer mit Russland in Verbindung mit den EU-Sanktionen ein wichtiges außenpolitisches Instrument auch für Großbritannien ist.

Sicherheitspolitischer Partner Frankreich

Der wichtigste außen- und sicherheitspolitische Partner Großbritanniens innerhalb der EU ist Interner Link: Frankreich. Trotz fortbestehender Differenzen über die Zukunft der GSVP eint die beiden Länder ihre Stellung als größte Militärmächte innerhalb der EU und eine größere Bereitschaft, militärische Mittel in der internationalen Politik einzusetzen. 2011 haben beide etwa gemeinsam die militärische Intervention in Libyen vorangetrieben, in der die USA nur eine unterstützende Rolle eingenommen haben. Seit 2010 haben Großbritannien und Frankreich im Externer Link: Lancaster House Treaty vereinbart, bilateral unter anderem bei der Entwicklung ihrer Flugzeugträger, bewaffneten Drohnen und ihrer Atomwaffen zusammenzuarbeiten sowie eine gemeinsame Eingreiftruppe aufzubauen. Als sich Frankreich nach den Anschlägen von Paris im November 2015 auf die EU-Beistandsklausel berief, war Großbritannien trotz seiner Skepsis gegenüber der GSVP einer der ersten EU-Staaten, die Paris militärisch in Syrien unterstützt haben.

Ausblick

Schon vor dem EU-Referendum am 23. Juni 2016 präsentiert sich Großbritannien als ein Land zwischen den Welten, welches sich in der EU einen Sonderstatus ausgehandelt hat und außen- und sicherheitspolitisch auf die Kooperation mit den USA sowie die bilaterale Partnerschaft mit Frankreich setzt. Beides steht bei der Volksabstimmung zur Disposition. Denn nicht nur zur EU müsste Großbritannien seine Beziehungen nach einem Austritt neu austarieren, sondern auch US-Präsident Obama hat klar gemacht, dass die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens eine wichtige Basis für die special relationship ist.

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Nicolai von Ondarza (© privat)

Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem die Themen Großbritannien, EU-Institutionen und Grundsatzfragen europäischer Integration.