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"Es wird auf einen harten Brexit hinauslaufen" | Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU | bpb.de

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"Es wird auf einen harten Brexit hinauslaufen" Interview zum Brexit

Nicolai von Ondarza

/ 7 Minuten zu lesen

Die Stimmung zwischen Brüssel und London ist angespannt - bereits vor Beginn der eigentlichen Brexit-Verhandlungen. Viele offene Fragen stehen im Raum. Europaexperte Nicolai von Ondarza ordnet einige von ihnen für uns ein.

Theresa May bei ihrem ersten EU-Gipfel im Oktober 2016 - wenn der Zeitplan eingehalten wird, will das Vereinigte Königreich bis zum 29. März 2019 aus der EU ausgetreten sein. (© dpa)

Die EU hat sich nun auf Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen verständigt. Davon ausgehend: Was für eine Art Brexit erwarten Sie?

Ich glaube, dass beide Seiten derzeit auf einen harten Brexit zu steuern. Das heißt, dass Großbritannien sich in Zukunft nicht mehr am EU-Binnenmarkt beteiligen wird. Die EU wird versuchen in Zukunft auf Drittstaatenbasis mit Großbritannien zusammenzuarbeiten. Dabei wird es zwar noch ein Handelsabkommen geben und man wird außen- und sicherheitspolitisch zusammenarbeiten, Großbritannien wird aber deutlich weiter entfernt von der EU sein als beispielsweise Norwegen oder die Schweiz.

"Großbritannien wird sich am ehesten in diesem Spektrum wie Kanada, Südkorea oder auch die Ukraine einordnen."

Nicolai von Ondarza

Gibt es ein anderes Drittstaat-Modell, an dem sich das künftige Verhältnis orientieren wird?

Grundsätzlich hat die EU ein relativ großes Spektrum an Formen, in denen sie mit Drittstaaten zusammenarbeitet. Das reicht von Norwegen, das über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) fast vollständig in den EU-Binnenmarkt integriert ist, über Sonderlösungen mit Staaten wie der Schweiz (bilaterale Verträge) oder der Türkei (Zollunion), bis hin zu Staaten wie Kanada oder Südkorea, die erweiterte Freihandelsabkommen mit der EU haben. Ganz am Ende des Spektrums stehen dann Staaten, die überhaupt kein Abkommen mit der EU haben und mit denen nur nach den Regeln der Welthandelsorganisation gehandelt wird, also mit Zöllen usw. Ich sehe, dass sich Großbritannien am ehesten in diesem Spektrum wie Kanada, Südkorea oder auch die Ukraine einordnen wird, wo man zwar zusammenarbeitet, es auch freien Warenhandel gibt, man aber man zum Beispiel keinen Zugang zu Dienstleistungen, den Finanzmarkt oder ähnlichem hat.

Der Europäische Rat betont in seinen Leitlinien deutlich, dass es nun erste Priorität hat, die Rechte von EU-Bürgern im Vereinigten Königreich zu klären. Wie wird deren Status künftig aussehen?

Diese Verhandlungen werden sehr, sehr schwierig. Die EU will ja erst einmal ausschließlich mit den Austrittsmodalitäten, also der eigentlich Scheidung beginnen, während Großbritannien eigentlich direkt über den zukünftigen Handel sprechen will. Die EU wird sich jetzt hier erst mal durchsetzen müssen, zu sagen: Nein, wir wollen erstmal nur über EU-Bürger, Haushaltszahlungen und Grenzen sprechen. Und schon bei der Frage der EU-Bürger sind die beiden Parteien fundamental auseinander. Kurz gesagt: Großbritannien will EU-Bürgern zwar noch den Aufenthalt erlauben, hat aber bisher noch keine Zusagen über den Erhalt bisheriger Rechte gegeben wie den Zugang zur Krankenversicherung, Sozialleistungen usw. Die EU will aber sicherstellen, dass diese Rechte gewahrt bleiben und dass der Europäische Gerichtshof auch in Zukunft die Rechte dieser Bürger schützen kann – das allerdings lehnt die britische Regierung bisher rundweg ab. Deswegen ist schon die Frage der EU-Bürger eine, bei der ich eine sehr harte Konfrontation zwischen beiden Seiten erwarte.

"Ich habe die EU eigentlich noch nie so geschlossen gesehen wie in der Brexit-Frage."

Nicolai von Ondarza

Bisher tritt die EU ja in betonter Geschlossenheit auf – wird das so bleiben?

Man muss schon betonen, dass es eine erstaunliche Geschlossenheit ist. Ich glaube auch, dass das so bleiben wird. In den vielen Jahren, in denen ich jetzt die EU beobachte, habe ich die EU noch nie so geschlossen gesehen wie in der Brexit-Frage. Dadurch, dass es bei den Brexit-Verhandlungen nicht nur um das Verhältnis zu Großbritannien alleine geht, sondern in gewisser Weise auch um das Überleben der Europäischen Union insgesamt, haben eigentlich alle verbliebenen 27 Mitgliedstaaten ein starkes Interesse daran, sich erstens einig zu zeigen und zweitens Sonderinteressen einzelner Mitgliedstaaten gemeinsam zu schützen. Denn sei es jetzt Irland mit der Landgrenze zu Nordirland, Spanien mit Gibraltar oder Zypern mit den britischen Basen: Bisher stellen sich die 27 ziemlich geeint hinter die einzelnen Mitgliedstaaten.

Die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland thematisieren die Leitlinien ja sogar explizit – was kann man sich unter flexiblen Lösungen und der Rede von weichen Grenzen vorstellen?

Das schwierige ist, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland sehr eng mit dem Friedensprozess in Nordirland verbunden ist. Nach derzeitigem Stand sind beide Länder in der Europäischen Union und die Grenze zwischen ihnen existiert de facto eigentlich nur auf dem Papier, die Einwohner auf beiden Seiten können sich vollkommen frei bewegen. Sobald jetzt Großbritannien nicht nur aus der EU, sondern auch aus dem Binnenmarkt austritt, wird die Grenze zwischen Irland und Nordirland zu einer EU-Außengrenze, an der eigentlich Zollkontrollen notwendig wären, d.h. es müssten erstmal wieder Grenzposten aufgebaut werden, die Grenze müsste wirklich verhärtet werden. Und das könnte nach Einschätzung vieler irischer Beobachter zumindest zu einem Zerrütten des Friedensprozesses in Nordirland führen. Daher haben eigentlich beide Seiten ein Interesse daran, diese Grenze irgendwie weitgehend offen zu halten. Hinter der Floskel der weichen Grenze versteckt sich eigentlich das Bemühen, irgendwie eine technische Lösung zu finden, mit der zwar Zollkontrollen durchgeführt werden können, ohne dass dabei aber gleichzeitig aber eine sichtbare, harte Grenze eingeführt wird.

"Ich gehe davon aus, dass die Frage der Zahlungsverpflichtungen einer der Punkte ist, über den die Verhandlungen schon am Anfang scheitern können."

Nicolai von Ondarza

Kommen wir auf die Kosten des Brexit zu sprechen. Die Leitlinien betonen, dass sowohl Rechte als auch Pflichten auf beiden Seiten eingehalten werden. Die EU-Kommission spricht von 60 Milliarden Euro, die das Vereinigte Königreich an die EU zu zahlen hat – wie realistisch ist das?

Diese Summe wird natürlich ein sehr großer Teil der Verhandlungen sein. Es gibt bei den komplexen Verschachtelungen des EU-Haushaltes, der jeweils auf sieben Jahre ausgerichtet ist und zudem eine mehrjährige Finanzplanung und langjährige Zahlungsfristen vorsieht, auch noch lange nach dem formellen Austritt der Briten Bereiche, für die die Briten finanzielle Zusagen gemacht haben. Die EU-Seite sagt nun, dies seien Verpflichtungen, die Großbritannien verbindlich eingegangen ist, diese müsse es beim Austritt auch verbindlich einlösen, sowohl für den EU-Haushalt als auch bei der Europäischen Investitionsbank usw. Die EU-Kommission kommt in ihren Berechnungen eben auf die in der Presse kolportierten 60 Milliarden Euro, teilweise wird sogar noch mehr genannt.

Die Briten hingegen lehnen Zahlungen dieser Größenordnung ab und sagen, sie seien nicht bereit, eine – aus ihrer Sicht – Strafzahlung für den Austritt zu bezahlen. Ich gehe daher davon aus, dass dies wirklich einer der Punkte ist, über den die Verhandlungen schon am Anfang scheitern könnten. Das Ziel der EU wird es vermutlich sein, nicht eine konkrete Zahl festzumachen, sondern sich über eine Methodik zu verständigen, wie man überhaupt berechnet, was Großbritannien noch zahlen muss und was nicht. Was die EU-27 aber klar gesagt haben – und das ist ihr größtes Druckmittel – ist, dass sie erst über das zukünftige Handelsverhältnis mit Großbritannien verhandeln werden, wenn genau diese Frage der Haushaltszahlungen geklärt ist. Damit ist Großbritannien natürlich direkt am Anfang schon unter Druck, hier nachzugeben, wenn es nicht seine zukünftigen Handelsbeziehungen mit dem wichtigsten Handelspartner in Gefahr bringen möchte.

Die britische Premierministerin Theresa May hat ja nun eine Neuwahl für Anfang Juni angekündigt, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Wie schätzen Sie das ein: Wird es nach der Wahl noch eine nennenswerte politische Größe für einen Exit aus dem Brexit geben?

Wahlen sind natürlich immer offen und wir wissen, dass wir in Großbritannien den Umfragen mit dem komplexen Wahlsystem nur bedingt vertrauen können. Aber bisher zeichnet sich durch die Bank in allen Umfragen ab, dass die Konservativen unter Theresa May ihre bisher knappe Mehrheit mit der Wahl wohl deutlich ausbauen werden können und die Labour-Partei eher eine historische Niederlage erleiden wird. Ich gehe also davon aus, dass die bisherige ohnehin geringe parlamentarische Opposition zum Brexit nochmal weiter abnehmen wird. Hinzu kommt, dass sich auch die Labour-Partei nicht mehr vollständig gegen den Brexit stellt, sondern nur sagt, sie wollte in einigen Punkten etwas flexibler mit der EU verhandeln. Sie sagt aber auch, die Bevölkerung habe entschieden und wir müssen den Brexit nun durchführen. Das heißt, es gibt daher für diejenigen, die sich gegen den Brexit aussprechen wollen, eigentlich keine starke Oppositionspartei. Die einzige Möglichkeit sind hier noch die Liberaldemokraten, die aktuell aber auch nur mit neun Parlamentariern vertreten sind und die selbst bei einem größeren Zuwachs, der sich aktuell noch nicht abzeichnet, kaum in der Lage sein werden, die Regierung zu kontrollieren.

"Für diejenigen, die sich gegen den Brexit aussprechen wollen, gibt es keine starke Oppositionspartei."

Nicolai von Ondarza

Die entscheidende Frage ist: Was macht Theresa May, wenn sie wie erwartet eine größere Mehrheit im Parlament bekommt? Aktuell kann sie mit ihrer knappen Mehrheit von zehn Abgeordneten von den extremen Flügeln in ihrer Partei leicht unter Druck gesetzt werden. Viele Beobachter gehen daher davon aus, dass sie nach der Wahl eher in der Lage sein wird, gegen die ganz harten EU-Gegner in der eigenen Partei Kompromisse mit der EU zu schließen. Ihre harte Rhetorik gegenüber der EU im Wahlkampf deutet aber eher darauf hin, dass sich ihre Verhandlungsposition auch nach der Wahl nicht verändern wird.

Und zum Schluss ihre Einschätzung: Wird das Vereinigte Königreich ab dem 29. März 2019 nicht mehr Mitglied der EU sein?

Davon gehe ich fest aus. Für eine Verlängerung der Verhandlungen benötigt es Einstimmigkeit unter allen EU-Staaten und zudem der Zustimmung Großbritanniens. Diese Brexit-Verhandlungen sind wirklich das zentrale Projekt der Regierungszeit Theresa Mays, und so lange sie – wie erwartet – wiedergewählt wird, wird es für sie auch das wichtigste Erfolgskriterium sein, tatsächlich formell zum 29. März 2019 ausgetreten zu sein. Die offenere Frage ist für mich, ob Großbritannien einem langjährigen Übergangsabkommen zustimmen werden, um nach dem EU-Austritt im März 2019 den Zugang zum Binnenmarkt zu behalten und Zeit zu haben, ein erweitertes Freihandelsabkommen abschließen zu können. Auch dafür müsste Großbritannien in der Übergangszeit europäische Regeln akzeptieren. Tut es das nicht, fällt es zum 29. März 2019 vollständig aus der Zusammenarbeit mit der EU heraus, und landet bei dem oben skizzierten geringsten Modell der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf Basis der WTO-Regeln, einschließlich der Wiedereinführung von Zöllen.

Das Interview führte Lisa Philippen

Fussnoten

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Nicolai von Ondarza (© privat)

Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem die Themen Großbritannien, EU-Institutionen und Grundsatzfragen europäischer Integration.