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Nigeria | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Nigeria

Heinrich Bergstresser

/ 8 Minuten zu lesen

Das bevölkerungsreichste Land Afrikas sieht sich zahlreichen Gewaltkonflikten sowie tiefen politischen, sozioökonomischen und kulturellen Spaltungen gegenüber. Präsident Buhari, der einstige Putschist, Juntachef und Förderer der Islamisierung Nordnigerias, bleibt auch in seiner zweiten und letzten Amtszeit lediglich Sachverwalter des krisengeschüttelten Landes.

Boko Haram-Terroristen auf einem Plakat in Maiduguri, Nigeria. (© picture-alliance/AP)

Aktuelle Situation

Mehr als ein Jahr nach umstrittener Wiederwahl von Muhammadu Buhari im Februar 2019 befindet sich das Land weiterhin im Krisenmodus. Im Verlauf der Wahlen kamen vor allem in Zentral- und Südnigeria mehrere hundert Menschen ums Leben. Die Wahlbeteiligung lag lediglich bei 35%. Die selbst für Nigeria niedrige Wahlbeteiligung erklärt sich hauptsächlich aus der rechtswidrigen Verschiebung der Wahlen durch die Wahlkommission, die die drohende Abwahl von Buhari verhindern sollte. Diese Entscheidung und die als Einschüchterung gedachte martialische Militär- und Polizeipräsenz am Wahltag hielten vor allem im südlichen Landesteil mehrere Millionen Wähler davon ab, ihre Stimme abzugeben.

Nie zuvor gab es so viele Gerichtsverfahren wegen Unregelmäßigkeiten und Betrugsvorwürfen im Zusammenhang mit der Aufstellung der Kandidaten und der Auszählung der Wählerstimmen. Mehr als 1.500 Verfahren offenbaren die Schwäche der Wahlkommission angesichts der Manipulationen und des Drucks der großen Parteien und der Regierung. Unbeschadet davon bestätigte der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) die Rechtmäßigkeit der Wiederwahl Buharis und der meisten Ergebnisse bei den wichtigen Gouverneurswahlen.

Das Versprechen Buharis und der neuen Regierung, "die Sicherheitslage merklich zu verbessern, die Wirtschaft zu restrukturieren und die Korruption erkennbar einzudämmen", ist wenige Monate nach den Wahlen weitgehend im Sande verlaufen. Nigeria erlebt erneut eine schwere politische und wirtschaftliche Krise, die durch den Einbruch der Weltmarktpreise für Öl und Gas und Folgen der COVID-19-Pandemie noch zusätzlich verschärft wird.

In der Folge haben sich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Einhegung und Bearbeitung der zahlreichen Gewaltkonflikte in den verschiedenen Landesteilen deutlich verschlechtert:

  • Der Nordosten leidet noch immer unter den organisierten Raubzügen der Islamistenmiliz Boko Haram und ihrer grenzüberschreitend agierenden Abspaltungen, darunter des IS-Ablegers Islamic State West Africa Province (ISWAP). Mehr als 2 Mio. Binnenflüchtlinge vegetieren in Lagern dahin; mehrere Hunderttausend sind in die Anrainerstaaten geflohen.

  • Besonders in Zentralnigeria schwelen ethnisch geprägte Auseinandersetzungen zwischen sesshaften Bauern und Hirten um die Nutzung von Grund und Boden. Die zunehmend gewaltsamer ausgetragen Konflikte weiten sich immer mehr in Richtung Süden aus.

  • Ebenfalls in Zentralnigeria verstärken sich ethnisch-religiös gefärbte Verteilungskämpfe und Gewaltkriminalität (z.B. Viehdiebstahl, Raub und Plünderungen). Davon wird mehr und mehr auch der Nordwesten erfasst. In der Folge hat sich ein Flüchtlingsdrama entwickelt, das inzwischen auch die angrenzende Republik Niger erreicht.

  • Im Nigerdelta, mit seinen Öl- und Gasvorkommen die zentrale wirtschaftliche Lebensader des Landes, hält eine gut organisierte Piraterie Sicherheitskräfte und kommerzielle Schifffahrt in Atem. Die Umsetzung des kostspieligen Amnestie- und Reintegrationsprogramms für Tausende ehemaliger Milizangehörige und die Sanierung der ölverseuchten Landstriche kommen nur schleppend voran.

  • Landesweit verharrt die organisierte Kriminalität (z.B. Kidnapping, Banküberfälle und Raubüberfälle auf Fernstraßen) auf hohem Niveau. Ein relativ neues Phänomen ist die Wandlung zumeist ethnisch definierter Geheimbünde an höheren Bildungseinrichtungen – sogenannte Secret Cults – zu kriminellen Netzwerken. Ihre Aktivitäten reichen von Prostitution und Drogenhandel bis hin zu Betrug, Erpressung und Mord. Viele Gruppen haben inzwischen die irreguläre Migration unterwandert und sind u.a. auch in der zahlenmäßig beachtlichen nigerianischen Diaspora in Europa aktiv.

Die vielfältigen Konflikte sind Ausdruck des Misstrauens gegenüber den politischen Eliten und der Schwäche der staatlichen Institutionen. Immer mehr gesellschaftliche Gruppen sehen in Gewalt und Kriminalität einen gangbaren Weg, um ihre politischen und Gewinninteressen durchzusetzen und dadurch einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu erlangen.

Die Folge sind eine zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Etablierung einer prosperierenden "Gewaltkonfliktindustrie". Beispiele dafür sind die Ausweitung des hochprofitablen Sektors privater Sicherheitsdienstleistungen und der Aufbau der sogenannten State Police in einigen südlichen Bundesstaaten. Das ist eine gegenüber der Nationalen Polizei der Zentralregierung autonome Polizeitruppe. Allein in der bisherigen Amtszeit Buharis sind mindestens 17 Mrd. USD in den Sicherheitsbereich geflossen, ohne dass dies Sicherheitslage verbessert hätte. Gleichzeitig bleiben die Bürgerrechte auf der Strecke.

Nigeria. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Ursachen und Hintergründe

Nigeria ist mit mehr als 190 Mio. Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas, verfügt mit etwa 400 Ethnien über die größte ethnische Diversität des Kontinents und ist dessen größter Öl- und Gasproduzent. Zwei Drittel der Einnahmen entstammen diesem Sektor. Auch wenn das Land nominell die größte Volkswirtschaft Afrikas repräsentiert, liegt es bezüglich der Wirtschaftsleistung weit hinter Südafrika auf dem zweiten Rang. Die Bevölkerung ist extrem jung und hat sich innerhalb der zurückliegenden drei Jahrzehnte mehr als verdoppelt, ohne dass der Ausbau der Infrastruktur damit auch ansatzweise Schritt hielt. Auch die wirtschaftliche Entwicklung blieb deutlich hinter der demografischen Entwicklung zurück, sodass sich ein massives Jugendarbeitslosigkeits- und Generationenproblem entwickeln konnte.

Die Dominanz der drei Mehrheitsvölker Haussa-Fulani, Igbo und Yoruba über die zahlreichen Minoritätenvölker prägt auch die zentral- und bundesstaatlichen Machtstrukturen. Der nigerianische Föderalismus, gedacht als Interessenausgleich zwischen den Regionen und Völkern, entwickelte sich schnell zum Synonym legalisierter Bereicherung. Damit zementierte er die während des Kolonialismus entstandenen krassen strukturellen Entwicklungsunterschiede zwischen dem unterentwickelten Norden und dem relativ prosperierenden Süden. Zudem verpufften insbesondere im muslimisch geprägten Norden die Modernisierungsanstrengungen. Dies eröffnete radikalen Gruppierungen Räume, um ihre politisch-religiös gefärbten gesellschaftlichen Vorstellungen umzusetzen. Das Ergebnis dieser Prozesse sind Boko Haram, institutionalisierte Gewalt, Kriminalität und staatliche Willkür.

Trotz ständiger Beteuerungen, die Niederschlagung des islamistischen Aufstandes im Nordosten stünde unmittelbar bevor, schwelt der Konflikt mit vielen Opfern auf beiden Seiten auf hohem Niveau weiter. Abspaltungen von Boko Haram, wie der ISWAP, haben sich in kriminelle Vereinigungen verwandelt und teilweise totalitäre lokale Herrschaftsstrukturen geschaffen, um konkurrierende Gruppierungen auszuschalten. Sie tragen Gewalt und Terror in die Anrainerstaaten am Tschadsee. Die nigerianische Seite nutzt die Regionalisierung als Vorwand, um ihren Teil der Verantwortung für den Aufstand sowie für Inkompetenz und Korruption innerhalb der politischen und militärischen Führung zu leugnen und den Konflikt als internationale Herausforderung zu deklarieren. Zugleich ist ihre Kooperationsbereitschaft mit den ebenfalls betroffenen Staaten, wie Tschad, Kamerun und Niger, merklich gesunken.

Auch im übrigen Gebiet des Nordens, einschließlich Zentralnigeria, kann von einem wirksamen staatlichen Gewaltmonopol keine Rede mehr sein. Den Freiraum nutzen zahlreiche gut organisierte, bewaffnete Verbrechersyndikate, um ihr einträgliches Geschäft zu betreiben: u.a. Viehdiebstahl, Brandschatzung, Kidnapping, Raubüberfälle und Auftrags- und Raubmorde. Sie besitzen inzwischen eine beträchtliche Handlungsmacht gegenüber den Regionalregierungen, die sich auf zweifelhafte Tauschgeschäfte – inhaftierte Bandenmitglieder gegen Freilassung Entführter und Schutzgeldzahlungen – einlassen.

Im Nigerdelta ist die durch verschiedene Amnestie-, Reintegrations- und Ausbildungsprogramme teuer erkaufte Befriedung nur mäßig erfolgreich. Ein beträchtlicher Teil der einstigen Milizionäre hat sich in Verbrechersyndikaten organisiert. Diese terrorisieren die Fernstraßen im Süden, führen Raubüberfälle auf Reisende und Banken durch und betreiben Kidnapping, wobei zunehmend Entführte trotz Lösegeldzahlung ermordet werden. Auch die professionell betriebene Piraterie vor der Küste hat zugenommen; der Golf von Biafra zählt trotz zahlreicher Einsätze der nigerianischen Marine inzwischen zu den weltweit gefährdetsten maritimen Zonen.

Die Zahl der Geheimbünde, wie "Black Axe", ist auf über 40 mit mehreren tausend Zellen gestiegen. Einst an den höheren Lehranstalten als politische Speerspitze gegen koloniale Bevormundung gegründet, verwandelten sich die studentischen Gruppen in schwerkriminelle Organisationen. Die Netzwerke schüchtern Kommilitonen ein und beuten sie aus. Dabei scheuen sie auch nicht vor Erpressung, Raub und Mord zurück. Seit Beginn der IV. Republik (1999) sind mindestens 10.000 Opfer dieser Form der organisierten Kriminalität zu beklagen. Inzwischen haben die Geheimbünde ihre Netzwerke weiter professionalisiert, ihre Aktivitäten im Inland ausgeweitet und unter Nutzung der nigerianischen Diaspora immer mehr Aktivitäten ins Ausland verlagert.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

In Nigeria fehlt es an institutionalisierten Mechanismen der Konfliktfrühwarnung und Konfliktbearbeitung. Ignoranz, Arroganz, Inkompetenz, Korruption, Gleichgültigkeit und starke regionale Vetokräfte behindern tragfähige institutionelle Lösungen für die zahlreichen ethnisch, religiös und kriminell geprägten Konflikte. Der Staat, der selbst willkürlich Gewalt gegen seine Bürger anwendet, ohne sich dafür verantworten zu müssen, verbleibt in der Rolle des Herrschaftsmanagers der zahlenmäßig großen und wohlhabenden Elite und der politischen Klasse.

Doch der Staat ist nicht in der Lage, die Eigentumsrechte der Eliten zuverlässig abzusichern, geschweige denn einen gesellschaftlich akzeptierten integrativen staatlichen Rahmen für politische Befriedung und wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu schaffen. Auch die gravierenden Defizite bei der Zurverfügungstellung staatlicher Dienstleistungen für die breite Bevölkerung (z.B. öffentliche Sicherheit, soziale Absicherung, Gesundheitssystem, unabhängige Medien) wirken konfliktverschärfend. Zusätzlich beeinträchtigen überlappende staatliche Doppel- und Mehrfachstrukturen sowie widersprüchliche Mandate die Handlungsfähigkeit des Staates.

Die Wiederwahl von Präsident Buhari hat den fragilen Zustand weiter verfestigt. Und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Regierung substanzielle verwaltungstechnische, wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen ergreifen wird, die geeignet wären, die Fragilität des politischen und sozioökonomischen Systems zu reduzieren. Immerhin konnte die Regierung kleinere Erfolge bei der Repatriierung gestohlener Gelder aus dem westlichen Ausland verbuchen. Dazu zählten auch gerichtsfeste Konfiszierungen widerrechtlich erworbener Luxusimmobilien und unterschlagener Gelder ehemaliger hochrangiger Staatsbediensteter.

Eine Möglichkeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, wäre der Wiederaufbau des Local Government Systems, gepaart mit der transparenten Nutzung der gesetzlich verbrieften Ressourcentransfers an die lokalen Institutionen. Als integraler Teil des nigerianischen Föderalismus sollten Staat und Staatlichkeit auch auf der Graswurzel-Ebene erfahrbar sein. Stattdessen jedoch privatisierten die Bezirksräte und ihre Vorsitzenden die Transferzahlungen aus dem Finanzausgleich. Damit verlor die lokale Ebene immer mehr ihre staatliche Gestaltungsmacht und hinterließ ein politisches Vakuum, das die Gewaltentwicklung beförderte.

Geschichte des Konflikts

Nigeria hat seit seiner Unabhängigkeit (1960) das Stadium des unfertigen Staates noch immer nicht überwunden und verfügt auch unter demokratischen Vorzeichen der IV. Republik (seit 1999) nur in Ansätzen über eine funktionierende Staatlichkeit. So konnten von der postkolonialen Phase bis in die Gegenwart hinein widerstreitende ethnische und religiöse Identitäten und Narrative über Herkunft, Interessen und Machtansprüche gedeihen.

Die tiefste Kluft verläuft zwischen dem islamisch geprägten Norden und dem überwiegend christlich geprägten Süden des Landes. Die Geschichte Nigerias ist ein Prozess der zunehmenden Entfremdung zwischen Muslimen und Christen. Hintergrund sind der wachsende Fundamentalismus in beiden Religionen sowie erstarkende ethnische Polarisierungen und erbitterter Verteilungskämpfe um die Zuweisungen der Zentralregierung. In der Folge konnte der Middle Belt seine Rolle als Übergangs- und Pufferzone zwischen dem weniger entwickelten Norden und dem prosperierenden Süden nicht mehr wahrnehmen und geriet seinerseits immer mehr in den Sog der Destabilisierung.

Das öl- und gasreiche Nigerdelta schafft den größten Reichtum Nigerias, der von einer für afrikanische Maßstäbe zahlenmäßig vergleichsweise großen Elite vereinnahmt wird. Ethnisch definierte gewaltbereite und gut organisierte Gruppen fordern seit Beginn der Demokratisierung 1998/99 diese Elitenherrschaft immer wieder heraus. Dabei waren einige Milizen mit der Anwendung von Gewalt partiell erfolgreich und konnten zumindest einen Teil dieses Reichtums zu ihren Gunsten umverteilen.

Der blutige Sezessionskrieg um Biafra (1967–1970), dessen Ursachen und Folgen nie aufgearbeitet wurden, sodass sich keiner der Hauptakteure der Verantwortung stellen musste, markiert bislang den einzigen "Betriebsunfall" für die nigerianischen Eliten. Seitdem gilt die ungeschriebene Staatsdoktrin, wonach ein derartiges Ereignis sich nicht wiederholen darf. Dies soll ein Elitenkonsens garantieren, der darin besteht, die Pfründe so reibungslos wie möglich untereinander aufzuteilen und den Zusammenhalt des Zentralstaates nicht zu gefährden. Doch geriet dieser Konsens bereits mehrfach in Gefahr – so unter Militärdiktator Sani Abacha und Präsident Goodluck Jonathan. Angesichts der bislang mageren Bilanz von Präsident Buhari, die sich in der Handhabung der COVID-19 Pandemie bestätig, droht erneut die Aufkündigung des Konsenses mit unabsehbaren Folgen.

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geb. 1949, ist freier Journalist, Trainer bei der AIZ innerhalb der GIZ in Bonn-Röttgen und freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA in Hamburg, schreibt seit Jahren im Africa Yearbook den Beitrag zu Nigeria. Er war mehr als 20 Jahre Redakteur bei der Deutschen Welle in Köln und Bonn, wo er sich besonders den Thematiken zu Afrika und den Nord-Süd-Beziehungen widmete. In den 1990er Jahren verbrachte er als Repräsentant der Friedrich-Naumann-Stiftung mehrere Jahre in Nigeria und Ghana.