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Irak | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Irak

Achim Rohde

/ 9 Minuten zu lesen

Die neue Regierung unter Ministerpräsident Al-Kadhimi bemüht sich, das Land wirtschaftlich zu stabilisieren, die Milizen zu schwächen und den Einfluss ausländischer Akteure zu begrenzen. Doch der Wiederaufbau der vom IS befreiten Gebiete lässt auf sich warten – und die Sicherheitslage bleibt prekär.

Protestierende auf dem Tahrir-Platz in Bagdad. (© picture-alliance, AA)

Die aktuelle Situation

Auch nach dem Sieg über die Dschihadisten-Miliz "Islamischer Staat" (IS) und der Verhinderung der Abspaltung der kurdischen Autonomiegebiete im Norden des Landes bleibt der Irak politisch, konfessionell und territorial tief gespalten. Die Reste des IS sind als Terrorgruppe weiterhin gefährlich. In den zurückeroberten Gebieten ist von Wiederaufbau wenig zu sehen. Auch in anderen Landesteilen verfällt die Infrastruktur infolge jahrzehntelanger Unterfinanzierung und Missmanagements.

Mit der Zentralregierung in Bagdad verbündete und teils auf iranische Weisung agierende schiitische Milizen haben den Kampf gegen den IS genutzt, um ihre Machtposition im irakischen Staatsapparat zu festigen und ihre Einflussgebiete auf sunnitisch geprägte Provinzen des Landes auszudehnen. Sie sind bekannt für ein reaktionäres Gesellschaftsbild und ihre Brutalität gegenüber Andersgläubigen, kritischen Journalistinnen und Journalisten und LGBTQ-Menschen. Regierungskritische Demonstrationen werden regelmäßig angegriffen. Zudem sind sie zentrale Akteure in der mafiösen Schattenökonomie des Irak. Der seit Mai 2020 amtierende neue Premierminister Mustafa al-Kadhimi bemüht sich, die Bewegungsfreiheit der Milizen und ihre Finanzen einzuschränken. Die Maßnahmen des ehemaligen Geheimdienstchefs richten sich auch gegen den iranischen Einfluss im Land.

In seiner Zusammensetzung bietet das infolge der Wahlen von 2018 entstandene irakische Parlament ein deutlich anderes Bild als ein Jahrzehnt zuvor. Es gibt mehr Parteien, und keine kann eine klare Führungsrolle für sich beanspruchen. Zur stärksten Fraktion wurde mit 14% der Stimmen die Sa’irūn-Liste, die von Anhängern von Moqtada as-Sadr sowie säkularer Parteien, inkl. Kommunisten, gebildet wurde. Sie vertritt einen konfessionsübergreifenden irakischen Patriotismus. Der aus einer Familie prominenter schiitischer Geistlicher stammende Sadr war zuvor aus der Allianz schiitischer Parteien ausgeschert, die jahrelang die Macht unter sich aufgeteilt hatten.

Politische Situation im Irak. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Die seit 2015 anhaltenden Proteste junger, zumeist schiitischer Iraker richten sich gegen die Untätigkeit der Regierung angesichts von Wirtschaftskrise, verfallender Infrastruktur, grassierender Armut und die Umwandlung des Irak in eine Art Mafia-Staat. Verantwortlich für die Missstände sind eine korrupte Elite, die sich die Taschen füllt, Milizen, die Bevölkerung terrorisieren und ausländische Mächte, die hinter den Kulissen die Geschicke des Landes beeinflussen. Die Proteste sind seit 2019 zu einer Massenbewegung angewachsen und signalisieren mit ihrer an Sachproblemen orientierten Agenda das Wiedererstarken einer irakischen Zivilgesellschaft jenseits konfessionalistischer Narrative. Den Ruf der Protestierenden nach baldigen Neuwahlen hat Al-Kadhimi sich zu Eigen gemacht hat. Er ist der erste Ministerpräsident in der Zeit seit dem Sturz Saddam Husseins, der nicht aus einer schiitisch-islamistischen Partei stammt. Neuwahlen können aber nicht mehr als ein Anfang sein.

Die nach 2003 installierten staatlichen Institutionen sind weitgehend dysfunktional. Das ehemals vorbildliche irakische Bildungssystem befindet sich in einem desaströsen Zustand. Dies gilt auch für das Gesundheitssystem, das mit den seit Juni 2020 stark ansteigenden Fällen von Corona-Infektionen heillos überfordert ist. Die durch den Ölpreisverfall ausgelöste und durch die Folgen der Corona-Pandemie vertiefte Wirtschaftskrise trifft das fast vollständig vom Ölexport abhängige Land hart. Die Arbeitslosigkeit steigt. Ausbleibende Staatseinnahmen erzwingen massive Sparmaßnahmen, welche die Verarmung der Bevölkerung weiter verschlimmern. Schließlich verschärft die Krise Verteilungskämpfe zwischen dem irakischen Zentralstaat und der kurdischen Autonomieregierung mit negativen Auswirkungen auf die Zusammenarbeit bei der Sicherung der ehemals vom IS beherrschten Gebiete.

Der Klimawandel forciert die Umweltzerstörung und gefährdet die ohnehin niedrige Produktivität der Landwirtschaft, die Wasserstände von Euphrat und Tigris werden durch türkische Staudämme gedrosselt, der Zugang zu Trinkwasser wird knapper und die Wasserqualität verschlechtert sich. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung. Die Stromversorgung funktioniert nur stundenweise. Daher sind die Menschen bei sommerlichen Temperaturen von oft über 50 Grad Celsius auf private Generatoren angewiesen, um ihre Häuser und Nahrungsmittel zu kühlen. Das dafür nötige Benzin können sich viele aber kaum noch leisten.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts

Mit Ausnahme einer kurzen Verschnaufpause zwischen 1988 und 1990 haben die Menschen in Irak seit Jahrzehnten keine Friedenszeiten mehr erlebt: Auf den acht Jahre währenden Iran-Irak-Krieg (1980-1988) folgte der Kuwait-Krieg von 1991 und der "andere Krieg" in der Zeit des UN-Embargos (1990-2003). 2003 stürzten die USA mit ihrer Intervention Langzeitpräsident und Diktator Saddam Hussein. Desaströse Weichenstellungen der US-Besatzungsmacht, insbesondere die Auflösung der irakischen Armee und die aktive Förderung ethno-konfessioneller Strukturen beim Aufbau des neuen politischen Systems, haben einen großen Anteil daran, dass das Land in der Folge in einen periodisch aufflammenden Bürgerkrieg zwischen schiitischen und sunnitischen Akteuren schlidderte (2005 bis 2007 sowie 2013 bis 2015). Nur der ideologische Fanatismus und die extreme Gewalt des sunnitischen IS, auch gegenüber Sunniten, ermöglichte die Bildung einer all-irakischen Militärallianz aus Armee und verschiedenen Milizen, die mithilfe der USA und des Iran unter hohen Verlusten den IS bis 2018 zu besiegen vermochte. Damit wurde die territoriale Einheit des Irak zunächst wiederhergestellt.

Religions- und Bevölkerungsgruppen im Irak Interner Link: Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Eine Folge der interethnischen und interreligiösen Gewalt war die zunehmende räumliche Entflechtung und Separierung der irakischen Gesellschaft entlang konfessioneller Linien sowie die Verschlechterung der Lage religiöser und ethnischer Minderheiten (Christen, Jesiden, Turkmenen, Assyrer u.a.). Die Schreckensherrschaft des IS und der Kampf gegen die Dschihadisten verschlimmerten ihre Lage zusätzlich. Innerhalb Iraks bot die seit den 1990er Jahren autonome kurdische Region die größte Sicherheit und auch wirtschaftlich die besten Lebensbedingungen. Sie war daher das Ziel vieler Binnenflüchtlinge. Durch die gewaltsame Verhinderung der Abspaltung der kurdischen Provinzen nach dem Referendum von 2017 wurden die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen und der schwelende Konflikt um die Kontrolle über die von beiden Seiten beanspruchte Region Kirkuk aber nur vertagt.

Die in der irakischen Verfassung von 2005 angelegte Konkordanzdemokratie verhindert eine an Sachlösungen orientierte Politik zugunsten eines Klientelismus entlang ethno-konfessioneller Identitäten. Ein Block schiitischer Parteien nutzte seine aufgrund der demographischen Verhältnisse quasi garantierte Mehrheit zum Aufbau eines politischen Systems, in dem die schiitischen Akteure den Ton angeben. Interkonfessionelle Spannungen wurden maßgeblich durch den von 2006 bis 2014 amtierenden Premierminister Nuri al-Maliki angeheizt. Vor allem arabisch-sunnitische Iraker wurden systematisch benachteiligt und unterdrückt. Malikis Politik hat so den IS in den sunnitisch geprägten Provinzen des Landes erst hoffähig gemacht.

Dabei weisen Meinungsumfragen seit 2003 kontinuierlich auf ein weiterhin bestehendes, ethno-konfessionelle Grenzen überschreitendes irakisches Nationalgefühl hin, dessen Anfänge bis in die späte osmanische Zeit zurückreichen. Unter dem Einfluss des von den staatsbildenden Eliten proklamierten arabischen bzw. irakischen Nationalismus waren vor allem in den 1940er bis 1960er Jahren Fortschritte auf dem Weg zu einer nationalen Integration zu verzeichnen. Ein bedeutender Rückschlag war die fast vollständige Auswanderung der im Irak verwurzelten jüdischen Bevölkerung um 1950, deren Lebenssituation sich dort infolge der Gründung des Staates Israel und daraus entstehender Konflikte dramatisch verschlechterte.

Die auch unter autoritären Bedingungen in Irak existierende politische und zivilgesellschaftliche Vielfalt wurde seit dem Militärputsch der Ba’th-Partei von 1968 zerstört, unterdrückt und/oder in die neuen Machtstrukturen eingebunden. Religiöse Parteien wurden kriminalisiert und verfolgt, doch blieben Moscheen und religiöse Vereinigungen bestehen. Sie konnten, insbesondere in den 1990er Jahren, Handlungsspielräume zurückgewinnen. Unter den Entbehrungen der Embargo-Jahre wurde die irakische Gesellschaft zunehmend religiöser. Um seiner Herrschaft neue Legitimität zu verleihen, verstärkte das Regime diesen Trend zusätzlich durch eine populistische Hinwendung zu religiösen Werten und Diskursen. Die Herrschaft der Ba’th-Partei – seit den 1980er Jahren eine personalisierte Diktatur unter Saddam Hussein – stellte damit die Weichen für die Dominanz islamistischer Kräfte verschiedener Couleur, die seit 2003 zu den maßgeblichen Akteuren der konfessionellen Spaltung des Landes wurden.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Der amtierende irakische Ministerpräsident Al-Kadhimi hat alle Hände voll zu tun, seine Regierung zusammenzuhalten und Einflussnahmen ausländischer Akteure zu begrenzen, die Milizen in die Schranken zu weisen und das Land wirtschaftlich zu stabilisieren. Die Reform des politischen Systems jenseits konkordanzdemokratischer Quoten und die Bekämpfung der Korruption bleiben die wichtigsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wiederaufbau. Zahlreiche Menschen im Irak haben kein Vertrauen mehr in das politische Establishment und fordern den Bruch mit dem seit 2003 etablierten System.

Um den für die Lösung der bestehenden Probleme grundsätzlich zielführenden Kurs al-Kadhimis zu unterstützen, müssen neben den irakischen auch die relevanten regionalen und globalen Akteure deutlich besser zusammenarbeiten, als dies derzeit der Fall ist. Wie zwischen den z.T. diametralen Interessen vermittelt werden kann, ist allerdings völlig unklar:

  • Die Türkei will ihren regionalen Einfluss durch eine Kooperation mit sunnitisch-islamistischen Kräften ausbauen. Sie schreckte dabei lange auch vor einer Kooperation mit dem IS nicht zurück. Im Kampf gegen die kurdische Nationalbewegung, und insbesondere die PKK, intervenieren türkische Truppen oft tief in den Kurdistan-Irak. Türkische Staudämme am Oberlauf von Euphrat und Tigris gefährden die Wasserversorgung des Irak und tragen so zu seiner Destabilisierung bei.

  • Der Iran lehnt angesichts leidvoller Erfahrungen in den 1980er Jahren einen starken irakischen Zentralstaat ab, hat aber kein Interesse an seinem Auseinanderbrechen. Teheran will vielmehr mithilfe eines willfährigen Nachbarn seine regionalen Aspirationen absichern und seine strategische Tiefe gegenüber den USA und ihren Verbündeten in der Region vergrößern.

  • Im Kampf gegen den IS waren Washington und Teheran Verbündete, und unter Präsident Obama schien es eine Chance für eine nachhaltige Beruhigung der bilateralen Beziehungen zu geben. Unter Präsident Trump sind die USA und Iran erneut auf Konfrontationskurs. Den in vielerlei Hinsicht von beiden Mächten abhängigen Irak stellt dies vor erhebliche Probleme.

  • Während die Europäische Union untätig an der Seitenlinie steht, bringt China sich als neuer strategischer Akteur in der Region durch eine Allianz mit dem Iran ins Spiel. Dieser benötigt Verbündete, um gegen den US-amerikanischen Druck bestehen zu können. Die neue Allianz signalisiert die schwindende Macht der USA. In seiner gegenwärtigen Schwäche könnte der Irak leicht zum Opfer geo-strategischer Konflikte werden.

Eine Internationalisierung der Anstrengungen zur Konfliktlösung und zum Wiederaufbau des Irak (und anderer von Kriegen zerrütteter Länder der Region) unter der Führung der Vereinten Nationen, flankiert durch verstärktes diplomatisches wie wirtschaftliches Engagement der EU, könnte einen Ausweg aus der verfahrenen Situation eröffnen. Außerdem müssten die Geberländer und internationale Organisationen, wie der IWF, gerade in Zeiten der von der Corona-Pandemie zugespitzten globalen Wirtschaftskrise und trotz der chronischen Korruption der irakischen Eliten das Land weiterhin mit Geld versorgen, um den Zusammenbruch der fragilen Ordnung zu verhindern und Spielräume für notwendige Reformen zu schaffen.

Geschichte des Konflikts

Der Irak ist am Ende des 1. Weltkrieges auf britische Initiative als Zusammenschluss von drei osmanischen Provinzen um die Städte Mosul, Bagdad und Basra zunächst als Monarchie unter kolonialer Vorherrschaft entstanden. Die Revolution von 1958 führte zur Gründung einer Republik und zu Versuchen, das Land unabhängig von den beiden Machtblöcken des Kalten Krieges zu entwickeln. Bis in die späten 1960er Jahre wechselten sich von unterschiedlichen Teilen der Armee gestützte, mehr oder weniger populäre autokratische Regenten in schneller Folge ab. Im Juli 1968 übernahm die Ba’th-Partei nach einem Putsch für mehr als drei Jahrzehnte die Macht.

Nach seiner Wahl zum Präsidenten (1979) etablierte Saddam Hussein eine Diktatur, die durch extreme Repression nach innen und wiederholte Kriege nach außen charakterisiert war. In den 1980er Jahren galt Saddam Hussein zwar als autoritärer Herrscher, aufgrund seiner Prellbock-Funktion gegen den revolutionären Iran jedoch auch als nützlicher Verbündeter des Westens. Nach der irakischen Besetzung Kuwaits im August 1990 fiel er im Westen in Ungnade. Der Irak wurde im Golfkrieg von 1991 weitgehend zerstört und konnte aufgrund des bis 2003 andauernden UN-Embargos nur unzureichend wiederaufgebaut werden. Dadurch wurden alle Entwicklungserfolge der 1970er zunichtegemacht. Das Regime konnte sich allerdings weiterhin an der Macht halten.

Die zuvor säkulare Diktatur entdeckte in den 1990er Jahren zunehmend die Religion und tribale Strukturen als Mittel des Machterhalts. Seit dem Sturz Saddam Husseins durch eine von den USA geführte westliche Militärallianz im Jahr 2003 geriet der Irak zunehmend in den Sog innergesellschaftlicher und regionaler Konflikte, die den Wiederaufbau des Landes torpedierten und zur weiteren Erosion des Staates beitrugen.

Quellen / Literatur

Literatur

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Links

Government of Iraq (official website).
Externer Link: https://gds.gov.iq/

Berichte und Analysen der International Crisis Group zum Irak.
Externer Link: https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq

Iraqi Economists Network.
Externer Link: http://iraqieconomists.net/

Kurdistan Regional Government (official website).
Externer Link: https://gov.krd/english/

Niqash: briefings from inside and across Iraq.
Externer Link: https://www.niqash.org/en

Fussnoten

Fußnoten

  1. Cockburn, Andrew (2010): Der andere Krieg gegen den Irak, Le Monde diplomatique, 10.09.2010: Externer Link: https://monde-diplomatique.de/artikel/!386433

Lizenz

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Der Islamwissenschaftler und Nahostexperte Achim Rohde ist wissenschaftlicher Koordinator der Akademie im Exil an der Freien Universität Berlin (Externer Link: https://www.academy-in-exile.eu/). Rohde ist Autor von "State-Society Relations in Ba’thist Iraq. Facing Dictatorship" (London: Routledge, 2010), Herausgeber von "Iraq between Occupations. Perspectives from 1920 to the Present" (New York: Palgrave Macmillan, 2010) und zahlreicher Aufsätze zur irakischen Geschichte vor und nach 2003.