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Perestrojka und Glasnost | Sowjetunion II: 1953-1991 | bpb.de

Sowjetunion II – 1953-1991 Editorial "Tauwetter" unter Nikita Chruschtschow Stabilität und Stagnation unter Breschnew Perestrojka und Glasnost Nach dem Ende der Sowjetunion Karten Zeittafel Literaturhinweise Impressum

Perestrojka und Glasnost

Susanne Schattenberg

/ 15 Minuten zu lesen

Nach dem Tod Breschnews im November 1982 gelangen zunächst Juri Andropow (li.) und dann Konstantin Tschernenko (M.) an die Macht. Beide sind gesundheitlich angeschlagen und sterben nach kurzer Zeit im Amt. Ihnen folgt im März 1985 Michail Gorbatschow. (© imago / bonn-sequenz)

Breschnew starb am 10. November 1982 im Amt. Angeblich hatte er zweimal dem Politbüro seinen Rücktritt angeboten, das jedes Mal ablehnte, weil es sich vor dem Ende der Stabilität und einem offenen Machtkampf fürchtete. Doch die "Stabilität in den Kadern" hatte zu einer Gerontokratie (Herrschaft der Alten) geführt, über die im In- und Ausland gespottet wurde. Breschnew selbst litt weder an Herzinfarkten noch Schlaganfällen, sondern an Tablettensucht. Seit der Prager Krise 1968 nahm er Schlaftabletten, die seit 1974 immer öfter dazu führten, dass er vollkommen apathisch wirkte und weder ansprechbar noch zurechnungsfähig war. Seine Leibwächter und Ärzte versuchten den Zustand des Generalsekretärs so gut wie möglich geheim zu halten. Die zunehmenden Ausfälle gingen einher mit einem Hang zur Ruhmsucht: Breschnew erhielt 1974 den Generalstitel, 1976 den Marschallstitel, zwei Lenin-Preise für Frieden und Literatur (die sowjetische Alternative zum Nobelpreis) und zahlreiche militärische Ehrungen. Breschnews Memoiren, die Ghostwriter geschrieben und geschönt hatten, wurden zur Pflichtlektüre in den Schulen. Die Leute machten Witze über den neuen Personenkult: "Zum Gedenken an Puschkin ist ein Wettbewerb für ein Denkmal ausgeschrieben worden. Den dritten Platz hat ein Entwurf erhalten, der Puschkin zeigt, wie er Breschnews Buch liest."

Die Epigonen Breschnews: Andropow und Tschernenko

Die beiden Nachfolger Breschnews waren nahezu genauso alt und krank wie ihr Vorgänger. Andropow war der machtvolle KGB-Chef, der die Sicherheitsorgane kontrollierte, Konstantin Tschernenko (1911-1985) war Breschnews rechte Hand, der vor allem in den letzten Jahren die Verbindung des siechen Generalsekretärs zur Außenwelt darstellte. Auf Betreiben Breschnews hatte Andropow im Mai 1982 den Vorsitz des KGB gegen den Posten des Zweiten ZK-Sekretärs eingetauscht und damit die beste Ausgangsposition erhalten. Tatsächlich gelang es Andropow, sich zum Nachfolger Breschnews ernennen zu lassen. Sein Programm stand schon lange fest: Er wollte all die Seilschaften beseitigen, auf die Breschnew seine Macht gestützt und über die er seine schützende Hand gehalten hatte, auch wenn sich diese schamlos am Volkseigentum bereichert hatten. Zwar schaffte Andropow es noch, Breschnews Entourage zu entlassen und anzuklagen, aber sein chronisches Nierenleiden zwang ihn bereits nach 100 Tagen im Amt zur regelmäßigen Dialyse. Da es in der Sowjetunion nicht genügend Erfahrung mit der Blutwäsche gab, konnte Andropow schon Ende September 1983 das Krankenhaus nicht mehr verlassen; er starb am 9. Februar 1984 im Alter von 70 Jahren.
Andropow hatte den jungen Michail Gorbatschow als seinen Nachfolger aufgebaut. Aber es gelang dem 73-jährigen Tschernenko, vorzupreschen und selbst Generalsekretär zu werden. Bei seiner Antrittsrede am 13. Februar 1984 distanzierte er sich von der Antikorruptionskampagne Andropows, warnte vor zu viel Reformeifer, Leistungsdruck und Disziplinierungsmaßnahmen und versprach ein "Zurück" zu Breschnews "Stabilität in den Kadern". Wenige Monate später war Tschernenko nicht mehr imstande, bei öffentlichen Auftritten den für ihn auf Kärtchen vorgeschriebenen Text fließend abzulesen. Um der Welt zu demonstrieren, dass Tschernenko gesund und munter sei, ließ man neben seinem Krankenzimmer ein täuschend echtes Wahllokal aufbauen, holte den Todkranken aus dem Bett und zog ihn an, damit er sich selbst am 24. Februar 1985 zum Deputierten des Obersten Sowjets der RSFSR wählen konnte. 14 Tage später, am 10. März 1985, verstarb Tschernenko. Angesichts solcher Darbietungen sprach man im Westen spöttisch vom zahnlosen "Marxismus-Senilismus".

Der Reformer M. S. Gorbatschow

Die KPdSU (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 844 613)

Als Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär gewählt wurde, war er erst 54 Jahre alt. Er gehörte einer anderen Generation an als Breschnew, Andropow und Tschernenko. Er war kein 1905er-Jahrgang, kein Ingenieur, kein Weltkriegsveteran, kein Parteigänger Breschnews. 1931 im Dorf Privolnoe bei Stawropol geboren, studierte er in Moskau Jura und wurde Komsomol-Aktivist in seinem Heimatbezirk. 1968 schloss er ein Fernstudium für landwirtschaftliche Ökonomie ab und wurde schließlich Erster Gebietssekretär von Stawropol. Dort lernte ihn Andropow bei seinen Kuraufenthalten kennen und holte ihn 1978 nach Moskau. Als ZK-Sekretär und seit 1980 als Vollmitglied des Politbüros kannte Gorbatschow den gesamten Machtapparat von innen. Die Seilschaften und die Verkrustung der Strukturen waren ihm zutiefst zuwider. Wie Chruschtschow träumte er von einer Wiederbelebung der Partei, von freien Wahlen – freilich innerhalb der Partei –, von offenen Diskussionen über Missstände innerhalb des Systems, nicht des Systems selbst, von Postenvergabe nach Leistung und nicht nach Seilschaft. Gleich nach seinem Amtsantritt verkündete Gorbatschow im April 1985 sein Programm der Perestrojka, des Umbaus. Auf dem XXVII. Parteitag 1986, der die Perestrojka bestätigte, übte Gorbatschow offene Kritik an der Breschnewzeit: "Auf Verwaltungsebene kam es in einigen Fällen zu Gesetzesverstößen; Augenwischerei und Korruption, Katzbuckelei und Lobhudelei machten sich breit. Die Werktätigen waren zu Recht empört über das Verhalten von Leuten, die Vertrauen und Vollmachten besaßen und ihre Macht missbrauchten, Kritik unterdrückten, sich persönlich bereicherten und, in einigen Fällen, als Komplizen, wenn nicht sogar als Drahtzieher, an Verbrechen beteiligt waren." Wie Chruschtschow wollte er den Sozialismus nicht abschaffen, sondern reformieren und verbessern: "Mehr Sozialismus bedeutet mehr Dynamik, Elan und schöpferische Anstrengung, mehr Organisation, Gesetz und Ordnung, mehr wissenschaftliche Methodik und Initiative in der Wirtschaftsführung und Effizienz in der Administration sowie ein besseres und reicheres Leben für das Volk." Die Perestrojka war von der Politik der Glasnost, der Transparenz, begleitet: Missstände sollten offen kritisiert werden; in der Tradition von Kritik und Selbstkritik sollte die Benennung von Fehlern zu deren Behebung führen. Aber wie Chruschtschow musste auch Gorbatschow bald feststellen, dass die Menschen, wenn sie erst mal frei reden durften, nicht nur im abgesteckten Rahmen Kritik übten, sondern darüber hinaus anfingen, das Einparteisystem, den Sozialismus und die Planwirtschaft in Frage zu stellen. Die Idee, durch Glasnost könne die KPdSU neues Vertrauen erwerben, erwies sich als Illusion, im Gegenteil: Was zu Tage gefördert wurde, schockierte und empörte die Bevölkerung, so zum Beispiel die Umweltlügen in Gestalt der verbreiteten Behauptung, die Austrocknung des Aralsees sei keine ökologische Katastrophe und Umweltprobleme seien ein rein kapitalistisches Phänomen, oder die Gräueltaten und Gewaltverbrechen Stalins, über die nun viel schonungsloser als noch zu Chruschtschows Zeiten berichtet werden durfte.

QuellentextNotwendigkeit von Glasnost und gesellschaftlicher Aktivität

Die Umgestaltung betrifft aber nicht nur diese Seite. Sie setzt die Schaffung einer Atmosphäre in der Gesellschaft voraus, die die Menschen anregen würde, die angestaute Trägheit und Gleichgültigkeit zu überwinden, in der Arbeit und im Leben alles zu überwinden, was nicht den Prinzipien des Sozialismus, unserer Weltanschauung und Lebensweise entspricht. Offen gesagt gibt es da vieles, woran gearbeitet werden muß. Aber auch in diesem Fall muß jeder vor allem vor der eigenen Tür kehren, Genossen – sowohl im Politbüro als auch in der Parteigrundorganisation –, jeder einzelne muß versuchen, mit sich selbst zu Rande zu kommen. Wir haben in einer Situation unzureichender Kritik, Offenheit und Verantwortung uns in den vergangenen Jahren an so manches gewöhnt, auch an Erscheinungen, die den Prinzipien des Sozialismus überhaupt nicht entsprechen. Ich beziehe das sowohl auf die einfachen Arbeiter als auch auf die Funktionäre. Wir müssen die ganze "Muschelschicht", die sich abgesetzt hat, abkratzen, uns säubern. Und die Parteikomitees müssen bei diesem Prozeß aktiv helfen. […]
Und in diesem Zusammenhang möchte ich etwas zur Offenheit sagen. Bisweilen heißt es: Wozu bloß hat das Zentralkomitee so weitgehend einen Prozeß der Kritik und Selbstkritik, der Offenheit entfaltet? Und ich sage Ihnen, daß wir bislang nichts verloren, sondern nur gewonnen haben. Das Volk hat einen Zustrom neuer Kraft verspürt, es ist mutiger und in der Arbeit sowie gesellschaftlich aktiver geworden. Man trifft auch weniger Leute an, die versuchen, unsere Gesetze zu umgehen. Denn nichts ist stärker als die Kraft der öffentlichen Meinung, wenn sie voll wirksam werden kann, und das wird sie nur unter den Bedingungen der Kritik und Selbstkritik und umfassender Offenheit. Wir brauchen Öffentlichkeit, um die Erfüllung der Parteitagsaufgaben zu gewährleisten und das Volk wirklich in alle Belange der staatlichen Leitung einzubeziehen – wovon Lenin geträumt hat. […]

Michail Gorbatschow, Die Umgestaltung ist unaufschiebbar, sie geht in jeder Hinsicht alle an. Rede vor dem Aktiv der Parteiorganisation der Region Chabarowsk, 31. Juli 1986, in: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 4, Juli 1986 - April 1987, Dietz Verlag Berlin 1988, Seite 38-57, hier Seiten 42 f. u. 55

Quellentext"Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen"

Worin liegen die Ursachen für diese komplizierte und widersprüchliche Situation?
Die Hauptursache – und das Politbüro hält es für notwendig, darüber in aller Offenheit auf dem Plenum zu sprechen – bestand darin, daß das Zentralkomitee der KPdSU, die Führung des Landes vor allem aus subjektiven Gründen nicht rechtzeitig und in vollem Umfang die Notwendigkeit von Veränderungen und die Gefahr des Anwachsens von Krisenerscheinungen in der Gesellschaft erkennen sowie eine klare Linie zu ihrer Überwindung, zu einer umfassenderen Nutzung der Möglichkeiten, die im sozialistischen System liegen, erarbeiten konnten.
Bei der Ausarbeitung der Politik und in der praktischen Tätigkeit überwogen konservative Haltungen, Trägheit, das Bestreben, alles vom Tisch zu wischen, was nicht in die gewohnten Schemata paßte, und die mangelnde Bereitschaft zur Lösung der herangereiften wirtschaftlichen und sozialen Fragen.
Für all das, Genossen, tragen die leitenden Organe der Partei und des Staates die Verantwortung. […]
Wir sprechen von der Umgestaltung und den mit ihr verbundenen Prozessen einer tiefgreifenden Demokratisierung der Gesellschaft und fassen dabei wirklich revolutionäre sowie allseitige Veränderungen in der Gesellschaft ins Auge.
Ein solcher grundlegender Umschwung ist notwendig, denn einen anderen Weg gibt es für uns einfach nicht. Zurückgehen dürfen wir nicht – wohin auch? […]
Nur durch Demokratie und dank der Demokratie ist die Umgestaltung selbst möglich. […]
In einer weiteren Frage muß Klarheit bestehen. Wir sprechen davon, daß in der sowjetischen Gesellschaft keine Zonen bestehen dürfen, die der Kritik verschlossen sind. Das trifft in vollem Umfang auch auf die Massenmedien zu.
Genossen! Eine echte Demokratie existiert nicht außerhalb des Gesetzes und über ihm. […]

Aus dem Schlusswort:
Meines Erachtens war es durchaus begründet, daß im Bericht des Politbüros eine ernsthafte, tiefgehende Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft als das wichtigste Thema in den Vordergrund gerückt wurde.
Das ist, Genossen, jener Hebel, der es ermöglichen wird, in die Umgestaltung deren entscheidende Kraft – das Volk – einzubeziehen. Wenn wir das unterlassen, werden wir die Aufgaben der Beschleunigung nicht lösen und die Umgestaltung nicht sicherstellen. Es wird sie einfach nicht geben.
Andererseits schaffen wir durch eine weitere Entwicklung und Voranbringen der sozialistischen Demokratie und Entfaltung ihres Potentials die denkbar zuverlässigsten Garantien dafür, daß sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Doch es kommt nicht nur darauf an.
Wenn wir […] keine realen, ernsthaften Schritte zu ihrer Erweiterung, ihrem Voranbringen und zur umfassenden Einbeziehung der Werktätigen des Landes in den Prozeß der Umgestaltung unternehmen, so werden, Genossen, unsere Politik und die Umgestaltung zusammenbrechen. Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen. […]
Offenheit, Kritik und Selbstkritik, Kontrolle durch die Massen – das sind die Garantien für eine gesunde Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft. Wenn das Volk sie braucht, bedeutet das, daß alle sie brauchen. Das ist um so wichtiger, als die KPdSU die regierende Partei ist. Und sie ist an Offenheit, an Kritik und Selbstkritik interessiert, da dies reale und zuverlässige Formen eines normalen Funktionierens der KPdSU sind. Das sind ebenjene Mittel, die die Partei vor Fehlern in der Politik bewahren können. Der Preis dieser Fehler ist uns allen bekannt. […]

Michail Gorbatschow, "Die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei". Rede auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU, 27. Januar 1987 und Schlußwort auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU, 28. Januar 1987, in: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 4, Juli 1986 - April 1987, Dietz Verlag Berlin 1988, Seiten 329-393 und Seiten 394-401 (Schlußwort), hier Seiten 333, 340, 350, 361, 396 f.

Wirtschaftsreformen und Wodka

Wirtschaft der UdSSR 1990 (© Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Russlands, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2003, S. 362)

Wie seine Vorgänger musste sich auch Gorbatschow dringend um die niedrige und qualitativ minderwertige Produktion von Industrie und Landwirtschaft kümmern. Wesentlich radikaler als seine Vorgänger drängte er auf Veränderungen in einer gewagten Mischung aus Ideen der NÖP, also einer Marktliberalisierung, die die Kräfte von Angebot und Nachfrage nutzte, den alten Plänen Kosygins einer kostendeckenden, Profit erwirtschaftenden Produktion, dem technischen und organisatorischen Know-how des Westens und alten Slogans von sozialistischer Arbeitsdisziplin. Um zu kontrollieren, dass nicht nur hohe Löhne ausgeschüttet wurden, sondern die Produktion tatsächlich dem Standard entsprach, wurde zum 1. Januar 1987 eine staatliche Kommission zur Qualitätskontrolle eingesetzt, deren Arbeit kurzfristig zu einem Absinken der Löhne führte. Um endlich die schon seit den 1960er-Jahren geforderte Erneuerung des industriellen Maschinenparks zu erreichen, förderte der Staat seit dem 1. Januar 1987 Joint Ventures mit westlichen Firmen. Doch wie schon unter Breschnew führte die Autonomie der Betriebe bald dazu, dass Löhne exzessiv erhöht wurden, zumal seit dem 1. Januar 1988 die Belegschaften selbst entscheiden konnten, wer ihre Interessen an der Spitze des Unternehmens vertreten sollte. Das hatte zur Folge, dass sich die Arbeiter selbst die Löhne kräftig erhöhten; die Direktoren verwandelten das Kapital der Firmen in Bargeld, um ihre Arbeiter bezahlen zu können, was früher strikt untersagt war. Dadurch öffnete sich die Schere zwischen Kaufkraft einerseits und Warenangebot andererseits immer weiter. Die Zahl der "Defizitprodukte" stieg, die Schlangen vor den Geschäften wurden immer länger.

Zusätzlichen Unmut schürte das Politbüro durch die "Prohibition". 1969 hatte Breschnew erstmals vor dem ZK der Partei über den enormen volkswirtschaftlichen Schaden gesprochen, den der Alkoholmissbrauch in der Sowjetunion verursachte. Alkoholismus war eine Volkskrankheit. So wie in anderen Kulturen Wein oder Bier zum Essen genossen wurden, war Wodka der normale Begleiter beim geselligen Beisammensein oder zu Festmahlen. Der Ministerratsbeschluss vom Mai 1985 "Über die Maßnahmen zur Überwindung der Trunksucht, des Alkoholismus und zur Ausrottung der Destillierung von selbstgebranntem Schnaps" hatte nicht nur die Zerstörung der jahrhundertealten Weinanbaugebiete in Georgien und empfindliche wirtschaftliche Verluste zur Folge. Er bewirkte sogar eine Zunahme der Drogensucht und der illegalen Schnapsbrennerei. Während die Durchschnittsverbraucher nun stundenlang in langen Schlangen vor den wenigen lizensierten Alkoholgeschäften anstanden, um eine Flasche für den Feierabend oder eine Feierlichkeit zu erstehen, behalfen sich Alkoholkranke mit reinem Spiritus, Parfum und anderen gesundheitsschädlichen Panschereien.

Durch Missmanagement, Devisenmangel und verantwortungslosen Umgang mit der Ernte wandelte sich die Krise zur Katastrophe: Im Herbst 1988 wurden in acht von 15 Republiken Grundnahrungsmittel nur noch auf Lebensmittelkarte verkauft. In Moskau und Leningrad blieben im Sommer 1987 und 1988 die Regale für Obst und Gemüse leer, obwohl die Depots gefüllt waren: Die Geschäftsführer streikten, weil sie nicht mehr mit Alkohol handeln durften. Daraufhin hob der Ministerrat im Oktober 1988 die Prohibition wieder auf. Aber der Schwarzmarkt blühte weiter, und die horrenden Preise in den Kooperativrestaurants und -kiosken sowie Berichte über deren Monatseinkünfte, die 60-mal höher als der Durchschnittslohn waren, brachten die Volksseele zum Kochen.

QuellentextWirtschaftskrise 1989

"Was wird aus der Versorgung der Bevölkerung? Wo sind die Waren des täglichen Bedarfs? Die Lage wird mit jedem Tag schlechter. Wir bitten zu erklären, warum die Rationierung des Zuckerverkaufs von 2 Kilogramm auf 1,5 Kilogramm pro Kopf gesunken ist", schreiben die Werktätigen aus dem süd-russischen Pawlowsk im Herbst 1989 in einem Brief an das Zentralkomitee. "In unserer Stadt sind Haushalts- und Toiletteseifen sowie Waschpulver aus den Regalen verschwunden. Als Zucker zur Mangelware wurde und rationiert werden musste, hatten wir Verständnis für diese Entscheidung. Aber jetzt, wo die lokalen Behörden eine derart miserable Norm für Seife und Waschpulver festgelegt haben, sind wir äußerst empört", schreiben die Einwohner der ukrainischen Stadt Alexandrowsk. Aus der 70.000 Einwohner zählenden Stadt Apatiti auf der Halbinsel Kola beschwert sich eine junge Mutter: "Ich habe nichts, womit ich den fünf Monate alten Jegorka ernähren könnte. Es gibt in der Stadt weder Kindersäfte noch Fruchtmus oder irgendwelche Breie für Kleinkinder." […]
Die Arbeitsniederlegung der 500.000 Bergarbeiter, die einst zur bestbezahlten sowjetischen Arbeiteraristokratie gehörten, hatte kaum etwas mit dem Inhalt der Lohntüten zu tun. Ausschlaggebend war vielmehr das menschenunwürdige Angebot an Konsumgütern, wobei Konsum hier als ein elementarer Prozess verstanden werden muss, der Arbeitskräften überhaupt die Chance gibt, sich physisch und psychisch zu reproduzieren. Symbolträchtig war unter anderem die Forderung der Bergleute nach Seife, ihr Anspruch auf körperliche Sauberkeit. Das politische Element dieser Bewegung kam darin zum Ausdruck, dass die Kumpel die Erfüllung ihrer Bedingungen nicht mehr von den lokalen Behörden erwarteten, sondern eine direkte Begegnung mit Gorbatschow anstrebten – sie erklärten sich sogar bereit, die Reisekosten der Moskauer Delegation selbst zu decken.
Später entsandten sie eine Abordnung in die Hauptstadt, und als diese mit einer Vereinbarung zurückkehrte, die von Gorbatschow und dem Regierungschef Ryschkow unterzeichnet worden war, verwandelte sich der Protest in eine euphorische stadtweite Feier. Dabei ging es nicht um die zugesagten Lebensmittellieferungen – die Vereinbarungen wurden niemals vollständig erfüllt –, sondern vor allem darum, was der Leiter des Streikkomitees in den bewegten Worten zum Ausdruck brachte: "Zum ersten Mal fühlten wir uns nicht als graue Masse, sondern als Menschen. Nicht als Sklaven, sondern als Persönlichkeiten, die fähig sind, in Einigkeit, Disziplin und Solidarität zu siegen. Danke, Brüder, für die Einigkeit. Danke für das Vertrauen."

György Dalos, Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums, Verlag C. H. Beck München 2011, Seite 128 ff.

Tschernobyl und das Ende der Technikgläubigkeit

Am 26. April 1986 explodierte im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl in Folge eines Bedienungsfehlers der Atomreaktor. Fast alle 28 Feuerwehrmänner, die zuerst zur Explosion gerufen wurden, bezahlten mit ihrem Leben, ebenso wie 65 weitere Personen, die ebenfalls direkt an der hohen Strahlendosis starben. Katastrophal waren die Langzeitfolgen: Die Zahl an Schilddrüsenkrebs Erkrankten unter den in der Umgebung lebenden Kindern stieg enorm an; 200.000 "Liquidatoren", die 1986/87 bei den Aufräumarbeiten halfen, litten anschließend an der Strahlenkrankheit.

Aber auch die sozialen und politischen Folgen waren dramatisch: Der Ort Pripjat, bei dem Tschernobyl liegt, wurde erst einen Tag nach der Katastrophe evakuiert. 48.000 Menschen mussten binnen weniger Stunden ihre Heimat verlassen; insgesamt wurden 200.000 Personen abtransportiert. Das Gebiet in einem 30-Kilometer-Radius rund um den explodierten Block wurde zur Sperrzone erklärt. Eine Fläche von mehreren zig-Tausend Quadratkilometern war in der Ukraine, Weißrussland und Russland, durch radioaktiven Fallout aber auch in ganz Europa verstrahlt worden.

Die politische Führung in Kiew, Minsk und Moskau wurde für ihre anfängliche Vertuschungspolitik angegriffen, bevor sie sich der Glasnost beugte. Allerdings war offenbar den wenigsten Parteiführern anfangs klar, was passiert war: In ihrem unbegrenzten Glauben an die Beherrschbarkeit der Elemente und die technologische Machbarkeit im Sozialismus war es für sie nicht vorstellbar, dass ein technischer Prozess außer Kontrolle geraten konnte. Mit Tschernobyl wurden diese Illusionen restlos zerstört. Glasnost offenbarte aber auch die Gleichgültigkeit der Behörden und den menschenunwürdigen Umgang mit den Opfern der Katastrophe.

QuellentextTschernobyl

An den Anruf am frühen Morgen auf der Datscha erinnerte sich Gorbatschow 20 Jahre später: "Man teilte mir mit, dass es im Tschernobyler Atomkraftwerk zu einer ernsthaften Havarie und einem Brand gekommen sein soll, aber dass der Reaktor unversehrt geblieben sei. Meine erste Reaktion war Unverständnis: Wie konnte so etwas passieren? Die Wissenschaftler haben uns, den Führern des Landes, doch versichert, dass der Reaktor absolut ungefährlich sei. Das Akademiemitglied Alexandrow zum Beispiel hatte behauptet, den Hochleistungsreaktor könnten wir gleich auf den Roten Platz stellen, es gehe nicht mehr Gefahr von ihm aus als von einem Samowar."
Die Explosion in Block 4 des Kernkraftwerkes in der Nähe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 kurz vor halb zwei Uhr nachts. Die enorme Explosion, bei der 500-mal mehr Radioaktivität freigesetzt wurde als in Hiroshima, war teils auf menschliches Versagen, teils auf Konstruktionsfehler des zwei Jahre vorher in Betrieb genommenen Reaktors zurückzuführen. Eigentlich sollte der Reaktor aufgrund technischer Mängel ausgeschaltet und repariert werden. Die sowjetischen Medien verschwiegen zunächst das Geschehene. Erst nachdem schwedische Kernphysiker am 28. April um 9 Uhr in ihrem Laboratorium erhöhte Strahlenwerte erfassten, diese als "östlich von Schweden kommend" orteten und die westlichen Sender die Neuigkeit in die Welt verbreiteten, hielt die Nachrichtensendung "Wremja" es für angebracht, um 21 Uhr am Abend desselben Tages die wortkarge TASS-Mitteilung zu verlesen: "Im Atomkraftwerk von Tschernobyl geschah eine Havarie, einer der Atomreaktoren ist beschädigt. Es werden Maßnahmen ergriffen, um die Folgen der Havarie zu beseitigen. Den Leidtragenden wird Hilfe geleistet." Dass es sich um eine Explosion sowie Freisetzung von Radioaktivität handelte und dass es bereits die ersten Todesfälle gab, blieb unerwähnt. […]
Die offizielle Nachricht zeugte davon, dass an diesem ersten warmen Frühjahrswochenende neben der grandiosen technischen Panne auch ein GAU im sowjetischen Kommunikationssystem eingetreten war. Den Rückschlag bekamen als Erste die Mitglieder der vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Scherbina geleiteten Regierungskommission zu spüren, als sie in Pripjat ohne Spezialkleidung und Atemschutzgeräte eintrafen und in dem schwer kontaminierten Restaurant "Polesje" ihr verseuchtes Mittag- und Abendessen verzehren mussten. "Ebenfalls in normaler Kleidung und ohne Atemschutzgerät beflogen unsere Akademiemitglieder das Terrain", erinnerte sich Gorbatschow an die schauderhafte Szene. "Alle, die mich informierten, begriffen letztendlich nicht, was eigentlich geschah."
Dasselbe ließe sich wohl über Zehntausende von Helfern aus Armee und Zivilbevölkerung sagen, darunter viele Freiwillige, die in den letzten Apriltagen damit begannen, aufopferungsvoll, heroisch und ungeschützt zu retten, was noch zu retten war. Die Mehrzahl der in einem UNO-Bericht auf 4000 geschätzten direkten Todesopfer sowie ein Teil der halben Million Menschen, die bei dem Unglück verstrahlt wurden, war eindeutig dem miserablen Informationsstand der sowjetischen Gesellschaft geschuldet. […]

György Dalos, Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums, Verlag C. H. Beck München 2011, Seite 62 f.

Nationalitätenkonflikte und das Zerbrechen des Imperiums

Maike Lehmann

Sozialökonomischer Vergleich der Republiken 1965 und 1989 (© Hans-Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Russlands, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2003, S. 376)

Im Rahmen von Glasnost sollte die Entlarvung eines sowjetischen Mythos besondere Sprengkraft entfalten: des Credos, dass in der Sowjetunion die Völker friedlich und freiwillig zusammenlebten. Gleichzeitig bewies Gorbatschow wenig Fingerspitzengefühl in Nationalitätenfragen. In Kasachstan provozierte er 1986 erste Unruhen, als er den korrupten, aber zugleich gut vernetzten Kasachen Dinmuchamed Kunaew (1912-1993) als Ersten Sekretär durch einen Russen ersetzte. Auch seine zentralen Programme fanden an der Peripherie eine eigene Auslegung: So fingen etwa Tschetschenen und Balten unter den Vorzeichen von Glasnost an, in ihren lokalen Presseorganen die nationalen Deportationen unter Stalin zu thematisieren. Den mit der Perestrojka propagierten Umbau verstanden zugleich viele als Zeichen, dass nun jahrzehntelang schwelende Konflikte um Territorien und Grenzverläufe in ihrem Sinne entschieden werden könnten.

So brach im Februar 1988 die Auseinandersetzung um das Aserbaidschan unterstehende, mehrheitlich von Armeniern besiedelte Bergkarabach offen aus. Pogrome und ethnische Vertreibungen auf beiden Seiten führten zu täglichen Massendemonstrationen in Eriwan und Baku bis in den Spätsommer 1989. Auf mahnende Worte Gorbatschows reagierten die Demonstranten ungehalten. Moskau griff zunächst nur unter Zögern militärisch ein; die Spezialtruppen halfen aber keineswegs, die Situation zu entschärfen. Vor allem gelang es ihnen nicht, Flucht und Vertreibung der jeweiligen Minderheiten und schließlich den Krieg zwischen den beiden "Bruderrepubliken" zu verhindern. Interethnische Gewalt führte auch in Georgien und Zentralasien in den Bürgerkrieg.

Auch die Emanzipationsbestrebungen im Baltikum verliefen nicht ohne Blutvergießen, selbst wenn hier kein offener Bürgerkrieg ausbrach. Ab Sommer 1988 verlangten Esten, Letten und Litauer mehr Autonomie, forderten ein Ende des Zuzuges von Russen in ihre Republiken und prangerten vor allem ihre gewaltsame Eingliederung in die Sowjetunion 1940 an. Im Herbst 1988 erklärte sich Estland für souverän. Als Gorbatschow im Dezember 1989 die Existenz des Molotow-Ribbentrop-Paktes zugab, nahmen die Baltischen Republiken dies zum Anlass für ihre Unabhängigkeitserklärung.

QuellentextSouveränitätserklärung des Obersten Sowjets Estlands vom 16. November 1988

Das estnische Volk an den Ufern der Ostsee bearbeitet sein Land und entwickelt seine Kultur bereits mehr als 5000 Jahre. Im Jahre 1940 wurde der in nationaler Hinsicht homogene, souveräne estnische Staat Bestandteil der Sowjetunion; dabei war die Aufrechterhaltung der Garantie der Souveränität und das Aufblühen der Nation vorgesehen. Die innere Politik des Stalinismus und die Zeit der Stagnation haben jedoch diese Garantien und Grundsätze ignoriert. Als Ergebnis davon entstand auf estländischer Erde für die Esten als alteingesessene Nationalität eine ungünstige demographische Situation, die natürliche Umwelt geriet in vielen Regionen der Republik in eine katastrophale Lage, die andauernde Destabilisierung der Wirtschaft wirkte sich negativ auf den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung der Republik aus. Der Oberste Sowjet der estnischen SSR [Sozialistischen Sowjetrepublik] sieht nur einen Ausweg aus der schwierigen Lage: Die weitere Entwicklung Estlands muss unter den Bedingungen der Souveränität vor sich gehen. Die Souveränität der Estnischen SSR bedeutet, dass ihr in ihren obersten Regierungs-, Verwaltungs- und Gerichtsorganen die höchste Macht auf ihrem Territorium gehört. Die Souveränität der Estnischen SSR ist einheitlich und unteilbar. In Übereinstimmung damit muss der weitere Status der Republik im Verband der UdSSR durch Vertrag mit der Union bestimmt werden. Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR drückt sein Nichteinverständnis mit denjenigen zur allgemeinen Beurteilung durch das Volk erlassenen Änderungen und Ergänzungen der Verfassung der UdSSR aus, die das verfassungsmäßige Recht der estnischen SSR auf Selbstbestimmung ausschließen. [...]
Estland hat als erste ehemalige Sowjetrepublik am 16. November 1988 seine Souveränität erklärt. Am 30. März 1990 folgte die Unabhängigkeitserklärung, die – nach dem Augustputsch – am 20. August 1991 in Kraft trat und am 6. September 1991 vom neugebildeten Staatsrat in Moskau anerkannt wurde.

Erklärung des Obersten Sowjets der Estnischen SSR, in: Wedomsti Werchnogo Sowjeta i Prawitelstwa Estonskoj Sowjetskoj Sozialistischeskoj Respubliki 23. 12. 1988. Deutsche Übersetzung aus: Osteuropa, 39. Jg. (1989) 8, Seite A430

Diesem Beispiel folgten immer weitere Gebiete. Am 12. Juni 1990 verkündete der frisch gewählte russische Präsident Boris Jelzin (1931-2007) den Austritt Russlands aus der Sowjetunion; vier Tage später folgte die Ukraine.

Folgt man bis hierhin allein dem geschilderten Verlauf, hat der Zusammenbruch des sowjetischen Vielvölkerreiches den Anschein von "Unvermeidlichkeit". Doch der Sonderkongress der Volksdeputierten hatte Gorbatschow, der seit 1988 über einen neuen Unionsvertrag verhandelte, noch am 15. März 1990 mit 1329 Ja- bei 495 Nein-Stimmen zum ersten Präsidenten der UdSSR gewählt und ihn ermächtigt, die Hoheitsrechte der UdSSR zu verteidigen. Am 23. Februar demonstrierten geschätzte 800.000 Menschen in Moskau für eine weitere Demokratisierung und den Erhalt der Union. Auch in der Abstimmung über den Verbleib der Republiken in einer reformierten Union von 1991 sprachen sich – trotz des Boykotts einiger Republiken – über 70 Prozent für einen Erhalt der Union aus; selbst bereinigte Daten verweisen darauf, dass über die Hälfte der Abstimmenden in einer Union verbleiben wollte. Erst der Augustputsch 1991 (siehe Seite 50 f.) erschütterte das Vertrauen in Moskau so stark, dass die Ukraine – nach der RSFSR die größte und Russland in Kultur und Sprache wohl am engsten verbundene Republik – keine neue Union mit Russland eingehen wollte. Dies hatte dann Signalwirkung auch für die Republiken, die einer reformierten Union an sich nicht ablehnend gegenübergestanden hatten.

Dieser Hintergrund wurde von westlichen Beobachtern oft übersehen. Sie interpretierten das Aufkommen der verschiedenen nationalen Bewegungen vielmehr als "Erwachen der Nationen" und "Ausbruch aus dem Völkergefängnis". Dabei sahen sie "Nation" und "Sozialismus" als natürliche Gegensätze an. Als Beweis galt die schiere Zahl neu gegründeter Komitees und Parteien. Der Wille zum Verbleib in der Union etwa in Zentralasien wurde meist mit der ökonomischen Abhängigkeit der betreffenden Region von Moskau und dem Wunsch der alten Eliten nach Machterhalt erklärt. Die jüngere Forschung verweist dagegen darauf, dass nicht nur die alten Eliten, sondern auch die meisten Aktivisten über ihre Nationen in sowjetischen Kategorien sprachen (und dies teilweise bis heute tun). Empörung über Moskau oder die Partei musste nicht gleich eine Ablehnung des Sozialismus, sowjetischer Werte an sich oder gar der "siegreichen Sowjetunion" bedeuten. Auch ist auffällig, dass das Wort "Unabhängigkeit" lange nicht fiel – und das trotz der Empörung über die Politik Moskaus und der rasanten, oft gewaltsamen Dynamik, die die zahlreichen Konflikte entwickelten. Vieles weist darauf hin, dass auch an der nicht russischen Peripherie nach fast 70 Jahren Sozialismus eine Zukunft außerhalb der Grenzen der Sowjetunion nicht nur Angst einflößend, sondern lange geradezu unvorstellbar war.

Das Ende des Kalten Krieges

In der Forschung ist umstritten, ob Gorbatschow das Wettrüsten beendete, weil es sich die Sowjetunion volkswirtschaftlich nicht mehr leisten konnte, oder ob es ausschließlich seine Einsicht in die Sinnlosigkeit und Gefährlichkeit des Spiels mit Vernichtungswaffen war. Gorbatschow selbst sagte: "Die Rüstungsspirale erschwert im Zusammenhang mit den militärischen und politischen Realitäten in der Welt und den beharrlich aufrechterhaltenen Traditionen voratomaren, politischen Denkens die Zusammenarbeit unter den Ländern und den Völkern. […] Wir alle sind Passagiere an Bord des Schiffes Erde, und wir dürfen nicht zulassen, dass es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah wird es nicht geben."

Zunächst fiel auf, dass Gorbatschow außenpolitisch einen ganz anderen Kurs und Stil als seine Vorgänger wählte. Nach dem Rabauken Chruschtschow und dem zuletzt versteinert wirkenden Breschnew erschien Gorbatschow in Begleitung seiner gut gekleideten und gebildeten Frau Raissa seinen westlichen Gesprächspartnern als äußerst umgänglich, weltgewandt und aufgeschlossen. Dieser Generalsekretär rang nicht mehr um seine Rolle und fürchtete nicht mehr, gedemütigt zu werden. Er passte sich wie selbstverständlich den westlichen Umgangsformen an. Im November 1985 trafen Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan erstmals aufeinander. 1986 begannen sie in der isländischen Hauptstadt Reykjavik Abrüstungsgespräche, die 1987 mit einem Durchbruch endeten, der alle Mittelstreckenraketen aus Europa verbannte. Reagan, der einerseits mit dem Betreiben eines Raketenabwehrschirms im Weltall (SDI) als Hardliner galt, war andererseits gewillt, Gorbatschow beim Wort zu nehmen und mit ihm zusammen zu einer Entspannung zu finden. 1987 rief er dem sowjetischen Generalsekretär vom Brandenburger Tor in Berlin aus zu: "Mr. Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein!" Tatsächlich ermutigte und drängte Gorbatschow, wie einst Chruschtschow, die Mitglieder der Warschauer-Pakt-Staaten zu eigenen Reformen im Geist von Perestrojka und Glasnost. Ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die nichts mehr als den Abfall eines Staates gefürchtet hatten, ließ Gorbatschow den Mitgliedern des Warschauer Pakts freie Hand und setzte damit de facto die Breschnew-Doktrin außer Kraft. Als er zum 40. Jahrestag des Bestehens der DDR Ost-Berlin besuchte, forderte er den unwilligen Erich Honecker zu Reformen auf. Der Gorbatschow zugesprochene Satz: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", ist wahrscheinlich aber so nicht gefallen, sondern ihm in den Mund gelegt worden. Gorbatschow und das Politbüro schritten nicht ein und schickten keine Panzer, als es im Sommer 1989 in Polen zu freien Wahlen kam, als über die ungarische Grenze und die westdeutsche Botschaft in Prag Tausende von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern in den Westen flüchteten. Auch die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 und die "samtene Revolution" in der Tschechoslowakei im November 1989 ließ er geschehen. In den Zwei-plus-Vier-Gesprächen verhandelte Gorbatschow an der Seite der West-Alliierten zusammen mit den beiden deutschen Staaten die deutsche Wiedervereinigung, die am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. Die Nachkriegsordnung, die der Sowjetunion immer so heilig gewesen war, dass sie sie im Zweifelsfall auch mit Waffen verteidigt hatte, gab Gorbatschow zugunsten der Freiheit der Völker auf. 1991 löste sich auch der Warschauer Pakt auf. Die letzten russischen Truppen wurden 1994 aus der ehemaligen DDR abgezogen.

Der Putsch und das Ende der Sowjetunion

Eine Ironie der Geschichte ist, dass es die reformunwilligen orthodoxen Kräfte im Politbüro und Machtapparat waren, die der Sowjetunion den Todesstoß versetzten. Seit April 1991 verhandelte Gorbatschow mit neun Republiken über einen neuen Unionsvertrag, der deren Rechte und Wünsche nach Selbstständigkeit ausreichend berücksichtigen sollte. Als er am 2. August fertig war, fuhr Gorbatschow in den Urlaub. In seiner Abwesenheit studierten die Mitglieder des Sicherheitsrates den Vertrag und waren angesichts der Freiheiten, die er den Republiken einräumte, schockiert. Sie beschlossen am 17. August, den Notstand auszurufen und Gorbatschow zum Rücktritt zu zwingen. Am Morgen des 19. August 1991 hörten die Moskauer folgende Radioansprache des Vizepräsidenten Gennadi Janaew (1937-2010): "Da es Michail Sergejewitsch Gorbatschow aufgrund seines Gesundheitszustandes unmöglich ist, seine Amtspflichten als Präsident zu erfüllen, habe ich auf Grundlage von Artikel 127 der Verfassung der UdSSR die Erfüllung der Amtspflichten des Präsidenten der UdSSR ab dem 19. August 1991 übernommen." Das war die Stunde des russischen Präsidenten Boris Jelzin (1931-2007): Er erklärte öffentlich die Absetzung Gorbatschows für illegal und versammelte mehrere Tausend Menschen um das "Weiße Haus" in Moskau, den russischen Regierungssitz, die sich den Panzern in den Weg stellten. Die Panzerfahrer solidarisierten sich bald mit den Verteidigern, einige Sender berichteten plötzlich von den Szenen vor dem Weißen Haus. Nach drei Tagen gewannen die "Verteidiger" die Oberhand, und Gorbatschow konnte von der Krim zurückkehren. Die Verschwörer wurden verhaftet. Doch so triumphal Gorbatschows Rückkehr nach Moskau war, so schmählich war sein Abgang. Der Putsch hatte zur Folge, dass er die Union und ihren Erhalt in ein schlechtes Licht rückte: Sie galt in der Öffentlichkeit nun als Sache von Verbrechern und Verschwörern. Und der erfolgreiche Widerstand gegen diese schien zu belegen, dass die Union nicht mehr gewünscht war. Am 21. Dezember 1991 unterzeichneten die Führer von elf Sowjetrepubliken das Gründungsdokument der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Die Sowjetunion war damit Geschichte. Gorbatschow war jetzt ein Präsident ohne Staat und trat am 25. Dezember 1991 zurück.

In der Forschung gibt es einige Stimmen, die behaupten, dass die Sowjetunion, personifiziert durch Gorbatschow, politischen Selbstmord beging. Als er 1985 an die Macht kam, seien weder die Wirtschaft so marode, noch die Versorgungslage so katastrophal, noch die Rüstungskosten so erdrückend, noch der politische Druck so unausweichlich gewesen, als dass es zu den Reformen hätte kommen müssen, die Gorbatschow einleitete. Gorbatschow sei also ein "Gesinnungstäter" gewesen, der aus Überzeugung Wirtschaft, Gesellschaft und Partei reformierte und dabei in Kauf nahm, das System so zu destabilisieren, dass es zusammenbrach. Er habe nicht verstanden, so eine Forschungsmeinung, dass er mit seinen eigenen Idealen von Öffentlichkeit und Demokratie den Menschen selbst den Ausstieg aus dem System wies, während die einzigen, die das System stützen wollten, die "Stalinisten" waren. Anders formuliert hätten weder Gewalt und Zwang unter Lenin und Stalin noch die Erziehungspolitik unter Chruschtschow und Breschnew die Menschen dauerhaft für die Sowjetunion gewinnen können. Nicht umsonst hätten Breschnew und Andropow die Meinung vertreten, erst müsse man den Lebensstandard der Sowjetmenschen an das Niveau des Westens heranführen, bevor man mit der Meinungs- und Informationsfreiheit wie im Westen experimentieren könne. Gorbatschow habe die Warnung, dass die Menschen erst wirtschaftlich saturiert sein müssten, in den Wind geschlagen und mit der Glasnost-Politik das Ende der Sowjetunion eingeleitet. Aber selbst wenn die Bevölkerung das gleiche Konsumangebot wie im Westen gehabt hätte, wäre die Sowjetunion vermutlich an der Wahrheit zerbrochen, dass die Union der Völker nicht friedlich und freiwillig zustande gekommen war.

Prof. Dr. Susanne Schattenberg ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Zu ihren Forschungsgebieten gehören der Stalinismus, die Kulturgeschichte der Außenpolitik und die Sowjetunion nach 1953. Aktuell arbeitet sie an einer Breschnew-Biografie.
Kontakt: E-Mail Link: schattenberg@uni-bremen.de