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Globalisierung und Global Governance | Regieren jenseits des Nationalstaates | bpb.de

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Globalisierung und Global Governance

Michael Zürn

/ 11 Minuten zu lesen

In der heutigen globalisierten Welt sind die Menschen auf vielfältige, nicht nur wirtschaftliche Weise miteinander verbunden, nationale Grenzen spielen immer weniger eine Rolle. Zur Lösung globaler Probleme haben sich in den vergangenen Jahrzehnten komplexe Formen globalen Regierens entwickelt, in der Fachwelt Global Governance genannt.

Verflechtung des Welthandels (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild, 681 133; Quelle: WTO)

Der Begriff "Globalisierung"


"Globalisierung" ist ein relativ neuer Begriff. Er tauchte erstmals 1983 im Titel eines englischsprachigen Buches auf, erst 1988 in einem deutschsprachigen. Inzwischen ist der Begriff "Globalisierung" allgegenwärtig. Er wird beispielsweise verwendet, wenn der weltweite Handel zunimmt, die internationalen Finanzmärkte besprochen werden, globale Klimaverhandlungen anstehen oder Beiträge aus aller Welt bei Filmfestivals gezeigt werden. Der Begriff verweist – soziologisch gesprochen – auf die Entstehung neuer weltumspannender sozialer Handlungszusammenhänge.

Globalisierung geht damit über das ältere und verwandte Konzept der "Interdependenz" hinaus. Eine Situation wechselseitiger Abhängigkeit zwischen sozialen Kollektiven, wie beispielsweise das Verhältnis der deutschen und französischen Volkswirtschaft in den 1960er-Jahren, wird als Interdependenz bezeichnet. Im Gegensatz dazu ist mit ökonomischer Globalisierung ein Prozess in Richtung eines integrierten Marktes gemeint, in dem es für viele Zwecke gar nicht mehr sinnvoll ist, die französische von der deutschen Volkswirtschaft getrennt darzustellen, bzw. nur mehr genauso sinnvoll, wie die separate Darstellung der hessischen und der rheinland-pfälzischen Wirtschaft. Die Unterscheidung zwischen einer internationalisierten und interdependenten Wirtschaft und der globalen Integration von Märkten kann für alle Formen sozialer Beziehungen nutzbar gemacht werden. Globalisierung beschreibt das Entstehen einer Welt, deren Mitglieder durch unterschiedlichste Handlungszusammenhänge miteinander verbunden sind, wobei die Bedeutung nationaler Grenzen abnimmt.

Diese Vorstellung von Globalisierung bezieht sich auf einen messbaren Prozess gesellschaftlichen Wandels, der auf politische Entwicklungen einwirken kann, aber nicht zwingend die Herausbildung eines Weltstaates, einer Weltgesellschaft mit gemeinsamen Normen oder nationenübergreifender Identitäten beinhaltet.

Zur Entwicklung der Globalisierung


Für den Nationalismusforscher Karl Deutsch ist eine Nation eine durch verdichtete Handlungszusammenhänge getragene politische Gemeinschaft. Deren Grenzen sind durch eine deutliche Abnahme der Häufigkeit von gesellschaftlichen Transaktionen erkennbar. So gingen bis weit in die 1960er-Jahre in allen westlichen Ländern bestenfalls ein bis zwei Prozent der Telefonate ins Ausland, heute ist die grenzüberschreitende Kommunikation insbesondere wegen des Internets deutlich ausgeprägter. Das gilt für viele Bereiche: Überall ist der Anteil an grenzüberschreitenden Transaktionen im Verhältnis zu den Transaktionen innerhalb nationaler Grenzen beträchtlich angewachsen. Freilich sind die entsprechenden Austauschbeziehungen nicht immer gleich global. Der Handel mit industriellen Gütern nimmt beispielsweise an der Grenze der EU deutlich ab. Daher scheint es angemessener, unter Rückgriff auf das erwähnte Nationalismuskonzept von gesellschaftlicher Denationalisierung zu sprechen statt von Globalisierung.

Empirische Studien zeigen, dass sich die Zunahme der grenzüberschreitenden Austauschprozesse, insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren, beschleunigt hat. Dies gilt unter anderem für die Bereiche Handel und ausländische Direktinvestitionen, aber auch bei Migration, im Bereich Information und Kommunikation sowie beim Im- und Export von kulturellen Gütern. Einen echten Schub, vor allem im wirtschaftlichen Sektor, brachten dann die 1990er-Jahre. In diesem Jahrzehnt übertraf die ökonomische Denationalisierung endgültig und erheblich den Stand vor Beginn des Ersten Weltkriegs 1914, der bis in die 1970er-Jahre unerreicht war. Entscheidend dabei ist insbesondere die Ausweitung der Regionen, die von der Denationalisierung erfasst wurden: Heute sind weite Teile Asiens, Lateinamerikas und selbst bestimmte Regionen in Afrika wesentlicher und eigenständiger Bestandteil der Entwicklung – China, Indien und Brasilien sind dabei nur die bekanntesten Fälle. Der Umfang grenzüberschreitender Transaktionen variiert allerdings immer noch erheblich zwischen den Bereichen und auch im Hinblick auf verschiedene Staaten und Regionen.

QuellentextDie lange Reise einer Jeans

[…] Bis […] [Jeanshosen] in deutschen Regalen liegen, haben sie in der Regel eine sehr lange Reise hinter sich. Denn die Baumwolle wächst nur in warmen Ländern, verarbeitet wird sie hingegen dort, wo die Arbeitskräfte am billigsten sind, und gekauft werden Jeans in den reichen Industrieländern.
Um die Reisestationen einer Jeans zu verfolgen, müssen wir in Kasachstan anfangen.

Kasachstan: Hier wächst die Baumwolle in großen Plantagen. Sie wird von Hand oder mit der Maschine geerntet und anschließend in die Türkei versandt.
Türkei: Hier wird die Baumwolle in Spinnereien zu Garn gesponnen.
Taiwan: Aus diesem Baumwollgarn wird in den Webereien der Jeansstoff hergestellt.
Polen: Hier wird die chemische Indigofarbe (blau) zum Einfärben des Jeansstoffes produziert.
Tunesien: Hier werden das Garn aus der Türkei und der Jeansstoff aus Taiwan mit der Indigofarbe aus Polen eingefärbt.
Bulgarien: Jetzt wird der fertige Jeansstoff veredelt, d. h. weich und knitterarm gemacht.
China: Hier wird die Jeans zusammengenäht, mit Knöpfen und Nieten aus Italien und Futterstoff aus der Schweiz.
Frankreich: Jetzt bekommt die Jeans den letzten Schliff. Sie wird gewaschen, z. B. mit Bimsstein aus Griechenland, wodurch sie den "Stone-washed-Effekt" erhält.
Deutschland: Hier wird das Firmen-Label in die Jeans eingenäht und sie erhält den Aufdruck "Made in Germany"! […]

Endstation Afrika
Nachdem die Jeans in Deutschland gekauft, getragen und altmodisch geworden ist, wandert sie meistens in die Altkleidersammlung.
Jetzt geht die getragene Jeans ein zweites Mal auf Reise. Meist wird sie zu einem holländischen Betrieb transportiert, der die angekommene Kleidung sortiert. Anschließend wird sie per Schiff nach Afrika gebracht und mit dem LKW ins Inland weitertransportiert. So legt die Jeans noch einmal rund 8000 km zurück.
Am Zielort angekommen, wird sie auf Märkten an die einheimische Bevölkerung verkauft. […]

Wer verdient an einer Jeans
Die vielen Transportkilometer kommen zustande, weil bei der Jeansproduktion immer die billigste Möglichkeit bevorzugt wird, auch wenn es auf Kosten der ArbeitnehmerInnen und der Umwelt geht. Wer den Jeanspreis genauer betrachtet, kommt auf folgendes […] Ergebnis:

  • Nur 1 % des Jeanspreises geht als Lohn an alle ArbeiterInnen.

  • Die Materialkosten belaufen sich auf 13 %.

  • Die Transportkosten und sonstige Gebühren (z. B. Zoll) machen einen Anteil von 11 % aus.

  • Die Markenfirma nimmt 25 % des Jeanspreises für Werbung, Forschung, Entwicklung und Design in Anspruch.

  • Die restlichen 50 % kassiert der Einzelhandel. Dieser hat zwar auch Kosten, wie Verkaufspersonal, Ladenmiete und Verwaltung, aber er hat auch eine sehr große Gewinnspanne für sich eingerechnet.

Da die Gewinnspanne für den Handel umso größer ist je geringer die Produktionskosten sind, spart er kräftig an den Arbeitslöhnen. Daher wird die meiste Kleidung in den so genannten Billiglohnländern […] produziert, für einen Lohn, der meist kaum zum (Über-)Leben reicht.

Externer Link: http://www.praxis-umweltbildung.de/kleidung_kldg_hintergrund_projektbeschr.php


Eine völlig neue Entwicklung ist die grenzüberschreitende Erzeugung von Gütern und Problemen (goods and bads), die seit Beginn der 1990er-Jahre vermehrt auftritt. Diese Phänomene – Internet, Finanzmärkte, globale Klimaänderungen – stellen qualitativ etwas Neues dar, weil sie wahrhaft ent-territorialisiert sind. In diesen Bereichen wird nicht mehr ein Gut oder ein Problem an einem Ort produziert und dann grenzüberschreitend exportiert, die Produktion dieser Felder ist selbst schon ortsungebunden und de-territorial. Das ist Globalisierung pur.

Vernetzte Welt: Angaben in Millionen weltweit (© picture alliance / dpa-infografik, Globus 6736; Quelle: ITU)

Über die Ursachen


Es gibt unterschiedliche Theorien über die Ursachen der Globalisierung. Im Wesentlichen lassen sich vier Hypothesen unterscheiden:

  • Die kapitalistische Weltwirtschaft belohnt Arbeitsteilung und Spezialisierung und strebt so von Beginn an der Globalisierung zu.

  • Mit der Einführung digitaler Kommunikationstechnologien und den erheblichen Veränderungen in der Logistik (z. B. Container-Transporte) wurde die Globalisierung ermöglicht.

  • Unter der Führung der USA wurden nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftliche Institutionen etabliert und so die ideellen und politischen Grundlagen der Liberalisierung gelegt. Diese Liberalisierungsprozesse bilden den Ausgangspunkt der Globalisierung. Dabei ist vorrangig das internationale Handelsabkommen (GATT) zu nennen.

  • Die Interessen einer transnationalen Funktionselite wurden durch die Regierungen Ronald Reagan (USA, 1981–1990) und Margaret Thatcher (Großbritannien, 1979–1990) bedient, was eine weltweite Deregulierung der Wirtschaft, insbesondere im Finanzsektor, und damit die Globalisierung ermöglichte.

Es erscheint sinnvoll, diese Faktoren nicht als alternative Ursachen, sondern jeweils als sich gegenseitig verstärkende Gründe der Denationalisierung zu sehen. Es ist zweifelhaft, ob sich überhaupt ein einheitliches Ursachenbündel für die vielfältigen Denationalisierungsprozesse ausmachen lässt. Während die Intensivierung transnationaler Kommunikation ohne die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kaum vorstellbar ist, kann die Ausbildung globaler Umweltrisiken ganz andere Gründe haben.

Global Governance als politische Reaktion


Globalisierung ist heute eine gesellschaftliche Tatsache und wird als solche kaum noch in Frage gestellt. Das Augenmerk richtet sich vielmehr auf den politischen Umgang mit ihr. Klimawandel, Verlust an Biodiversität, weltweit operierender Terrorismus, Banken-, Währungs- und Finanzkrisen – solche globalen Probleme sind nicht mehr von Nationalstaaten allein zu lösen. Eine mit Gewaltmonopol und Legitimität ausgestattete zentrale Weltregierung existiert nicht. Aber es entwickelt sich zunehmend ein System globalen Regierens, das die Politikwissenschaft als Global Governance bezeichnet. Es umfasst die Gesamtheit der kollektiven Regelungen, die auf globale Problemlagen oder Sachverhalte zielen. Governance umfasst dabei den zu regelnden Inhalt wie auch die Normen, die den Prozess beschreiben, über den eine Regelung zustande kommt und durchgesetzt wird. Die beteiligten Akteure rechtfertigen Governance mit dem Anspruch, dem gemeinsamen Interesse eines Kollektivs oder – stärker noch – dem Gemeinwohl zu dienen. Dahinter können sich aber oft nationale Interessen verbergen.

Denn nationale Regierungen spielen dabei nach wie vor eine wichtige Rolle. Sie koordinieren und harmonisieren ihre Politik, gegebenenfalls beziehen sie auch nichtstaatliche Akteure ein. Die wechselseitige Verpflichtung auf eine diskriminierende Handelspolitik zu verzichten ist ein Beispiel für dieses globale Regieren durch gemeinsames Regierungshandeln. Es haben sich zunehmend auch andere Formen transnationalen Regierens entwickelt: Gesellschaftliche Gruppierungen wirken grenzüberschreitend zusammen und geben sich selbst Regeln, ohne dass die Staaten dabei eine wesentliche Rolle spielen. Die Domain-Namen im Internet zum Beispiel werden durch ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) vergeben – auch hier ohne die formale Beteiligung von Regierungen. In einer Mischform gehen Staaten sogenannte öffentlich-private Partnerschaften (engl.: Public-private-Partnerships, PPP) als Teil eines transnationalen Arrangements ein, wie dies etwa die World Commission on Dams ist.

Es ist das Gesamtarrangement dieser verschiedenen Steuerungsformen, das Global Governance ausmacht. Mit der Entwicklung solcher Steuerungsformen hat sich die internationale Politik grundlegend gewandelt, es entsteht internationale politische Autorität: Staaten erkennen formal oder de facto an, dass Entscheidungen oder Interpretationen auf der internationalen Ebene getroffen werden können, die die eigene Jurisdiktion betreffen und selbst dann Bindekraft haben, wenn sie den eigenen nationalstaatlichen Regelungen und Prioritäten widersprechen. Das Delegieren einer Entscheidungskompetenz an den Internationalen Strafgerichtshof oder die Bereitschaft, Mehrheitsentscheidungen des UN-Sicherheitsrates zu akzeptieren, sind Beispiele für die Entstehung politischer Autorität jenseits des Nationalstaates. Freilich kann die Durchsetzung solcher internationaler Entscheidungen oder Urteile in der Regel nicht erzwungen werden.

Mit Global Governance wird das lange Zeit kennzeichnende Strukturmerkmal traditioneller internationaler Politik untergraben: Internationale Politik ist nicht mehr nur horizontale Politik zwischen Staaten, sondern besitzt nun auch vertikale Komponenten zwischen internationalen Institutionen einerseits und Staaten sowie Individuen andererseits. Global Governance wirkt damit tief und machtvoll in nationale Gesellschaften hinein, ohne dass dies durch die nationale Regierung einfach unterbunden werden kann.

Der Begriff Global Governance und die damit verbundenen politischen Abläufe werden auch längst kritisch beäugt. Der Politikwissenschaftler Claus Offe beklagt zum Beispiel die Subjektlosigkeit des Governancebegriffs, die auch etwa im Vergleich zum Begriff des Regierens deutlich wird: "Es geschieht etwas, aber niemand hat es getan." Die politischen Prozesse, die aus der Perspektive der Global Governance analysiert werden, machen es in der Tat schwer, für bestimmte Politikergebnisse Verantwortlichkeiten zuzuschreiben. Global Governance – so wie hier verwendet – ist aber kein politisches Programm, sondern ein analytischer Begriff. In diesem Sinne dient er nicht der Rechtfertigung globaler Verhältnisse – wie das frühen, politisch benutzten Verwendungen des Begriffs vorgeworfen werden konnte –, sondern der kritischen Analyse globaler politischer Prozesse. Aus einer solchen kritischen Perspektive sind drei Strukturprobleme der Global Governance besonders augenfällig.

Koordinationsprobleme


Global Governance setzt sich aus einem unübersichtlichen Flickwerk von internationalen Institutionen zusammen, die zumeist sektoral, manchmal aber auch regional begrenzt sind, wobei die Begrenzungen unscharf sind. Es gibt fast immer Überschneidungen, was die Mitglieder wie auch die Themen betrifft. Die Welthandelsorganisation ist für den Handel zuständig, die Weltgesundheitsinstitution für die Gesundheit. Was aber geschieht mit gesundheitsrelevanten Handelsfragen – oder handelt es sich dann doch um handelsrelevante Gesundheitsfragen?

Das Fehlen von Mechanismen zur Koordination von Governance, wie sie auf der nationalstaatlichen Ebene vor allem von Regierungschefs (Richtlinienkompetenz beim Streit zwischen Ministerien), Verfassungsgerichten (Ist eine Sicherheitsmaßnahme vereinbar mit den Freiheitsrechten?) und der öffentlichen Meinung (Wollen wir Wachstum oder Umweltschutz?) bereitgestellt werden, verweist auf einen ersten strukturellen Mangel von Global Governance. Zwar interagieren die unterschiedlichen internationalen Institutionen miteinander und passen sich dabei kontinuierlich einander an, aber eine Gesamtkoordination bleibt aus.
Insofern es überhaupt derartige Koordinationsleistungen gibt – am ehesten noch bei den G-7- / G-8- oder G-20-Treffen –, weisen sie eine stark exklusive Mitgliedschaft auf. Die gezielten Koordinationsleistungen der globalen Mehrebenen-Governance erweisen sich also als beschränkt und zugleich zufällig.

Es fehlen problemfeldübergreifende Instanzen, die Kollisionen zwischen Teilbereichen der Global Governance grundwerteorientiert behandeln – solche Instanzen zu haben, ist für eine konstitutionelle Ordnung zentral. Auch das Verhältnis zwischen internationalen und nationalen Regeln bleibt häufig unbestimmt und variiert je nach den nationalen Verfassungen der beteiligten Staaten. Manche Länder geben dem Völkerrecht gegenüber dem nationalen Recht einen Vorrang und befürworten die Ausbildung eines völkerrechtlichen ius cogens, eines zwingenden Rechts, das nicht durch andere Verträge aufgehoben werden kann. Andere Länder beharren dagegen auf ihrer nationalen Souveränität. Das zeigt sich deutlich am Konflikt um die Entwicklung des Internationalen Strafgerichtshofes. Freilich können auch diese Staaten die internationalen Institutionen nicht ignorieren.

Auch das Verhältnis zwischen transnationalen Regimen und nationaler Rechtslage ist nicht selten unklar. Während nationale Gerichte die Lex Mercatoria, das gewohnheitsbasierte internationale Handelsrecht, zu stützen scheinen, werden die von transnationalen Sportverbänden ausgesprochenen Sperren von Sportlerinnen und Sportlern zunehmend von nationalen Gerichten in Frage gestellt. Im Ergebnis erweist sich Global Governance als äußerst zersplittert.

Legitimationsprobleme


Global Governance erzeugt auch Legitimationsprobleme. So lange sich internationale Institutionen auf die bloße Bearbeitung von Interdependenzproblemen beschränkten, welche das Einverständnis jedes Mitgliedstaates voraussetzte, stellte sich das Legitimationsproblem kaum. Es genügte, wenn die Institutionen als effektive Problemlöser angesehen wurden (Output-Legitimität). Das ändert sich jedoch durch die zunehmende Autorität internationaler Institutionen. Nun wird auch deren Input-Legitimität und insbesondere deren Demokratisierung gefordert. Manche halten aber einen demokratischen Prozess jenseits des Nationalstaates für strukturell ausgeschlossen, da die EU und die anderen internationalen Organisationen die sozialen Vorbedingungen für Demokratie nicht erfüllen. Diese Skeptiker halten demokratische Legitimität nur im Rahmen eines demos für möglich – also einer politischen Gemeinschaft mit dem Potenzial für demokratisches Selbstregieren, wie es sich nur im Konzept der modernen Nation finden lässt. Jenseits des Nationalstaates fehlte demnach die soziale Voraussetzung für eine demokratische politische Gemeinschaft: der politische Raum. Das Zusammenfallen von Nation und Demokratie sei nicht historisch zufällig, sondern stelle einen systematischen und unauflösbaren Zusammenhang dar.

Es gibt aber auch eine optimistischere Deutung internationaler Institutionen. In demokratischen Kategorien gedacht sind demnach internationale Institutionen eine angemessene Antwort auf Probleme, denen Demokratien in Zeiten der Globalisierung gegenüberstehen. Sie können nämlich den Effekt aufzeigen, den nationale Entscheidungen in anderen Teilen der Welt haben und ihn den Verursachern ggf. in Rechnung stellen. Damit entsprechen sie dem demokratischen Prinzip, wonach alle Betroffenen einer Regelung ein Mitspracherecht haben sollen, also zum Beispiel wenn europäische und amerikanische Klimapolitik bewirkt, dass die Bewohner pazifischer Inseln ihr Land verlieren. Theoretisch kann das Aufkommen von denationalisierten Governance-Strukturen all jenen helfen, die von externen politischen Entscheidungen betroffen sind, aber dort keine Stimme haben. In diesem Sinne sind die internationalen Institutionen nicht das Problem, sondern Teil der Lösung für die Probleme der modernen Demokratie. Gleichwohl wird auch von Vertretern dieser Position keineswegs bestritten, dass die bestehenden internationalen Institutionen erhebliche Demokratiedefizite aufweisen, welche kurzfristig kaum zu beheben sind.

Somit entsteht ein wachsendes Bedürfnis nach anderen Formen der direkten Legitimierung internationaler Entscheidungen. Darauf reagieren internationale Institutionen teilweise, indem sie neue legitimationsstiftende Verfahren wie etwa zum Schutz der Menschenrechte einrichten. Allerdings können solche Mechanismen nicht den gesamten Legitimationsbedarf decken. Infolgedessen führt die Ausübung von Autorität auf der internationalen Ebene zu einem wachsenden Bewusstsein für die Bedeutung internationaler Institutionen und zu ihrer Politisierung – es werden gesellschaftliche Interessen zum Zwecke ihrer Beeinflussung mobilisiert, und sie sind zunehmend umstritten.

Internationale Institutionen werden dabei nicht nur von transnationalen Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations, NGOs) wie Attac oder Greenpeace politisiert, sondern auch von aufstrebenden Mächten wie China, Indien und Brasilien. Dass solche Länder ihre Kritik am Status quo inzwischen weniger an die Adresse der US-Regierung, sondern an internationale Institutionen richten, ist ebenfalls Ausdruck von Global Governance. Aber der Widerstand gegen internationale Institutionen wächst auch in manchen Regierungen der westlichen Welt.

Verteilungsprobleme: der vereinseitigende Liberalismus


Ein weiteres strukturelles Defizit von Global Governance betrifft die systematische Bevorzugung der ökonomischen Liberalisierung. Zum einen fällt es dem Nationalstaat in einer globalisierten Welt zunehmend schwerer, die gewohnten Sozialstandards aufrechtzuerhalten. Im Zuge der Konkurrenz um mobiles Kapital sind die Vertreter einer anspruchsvollen Sozialpolitik in die Defensive geraten – und dies obwohl in vielen westlichen Industrieländern das Gefälle zwischen Arm und Reich größer geworden ist. Dieser Verlust an nationalstaatlicher Wirksamkeit auf dem Gebiet der Sozialpolitik konnte bisher nicht durch die Schaffung internationaler Institutionen aufgefangen werden, die wenig geeignet scheinen, um in puncto Verteilungsgerechtigkeit in transnationale Märkte einzugreifen. Außerdem haben die meisten internationalen Institutionen selbst eine liberalisierende Stoßrichtung. Ob es darum geht, Handelsbarrieren zu beseitigen, Kapitalverkehrskontrollen abzuschaffen oder einheitliche Bilanzierungsstandards zu gewährleisten: Der angestrebte Effekt ist zumeist die Schaffung von offenen Weltmärkten, um Effizienzgewinne einfahren zu können. Viel seltener geht es bislang darum, Märkte zu regulieren, um Stabilität zu schaffen und unerwünschte Verteilungseffekte zu verhindern. Diese Schwäche bei der Regelung der internationalen Finanzmärkte wurde in der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen schon lange vor der Finanzkrise (2008) beklagt. Die mangelnde Regulation auf globaler Ebene trug dann zumindest eine erhebliche Mitschuld an der Krise. Um es anders zu formulieren: Auf der internationalen Ebene überwiegt die "negative Integration" (Regeln, um Märkte herzustellen) gegenüber der "positiven Integration" (Regeln, um unerwünschte Effekte des Marktes zu begrenzen).

Dieser weltmarktschaffende Charakter internationaler Institutionen ist zwar in jüngster Zeit relativiert und durch Marktinterventionen ergänzt worden. Aber trotz einiger Regeln im Bereich der Umwelt, der Menschenrechte und jetzt auch bei Steuerfragen bleibt der Effekt der globalen Liberalisierung bestehen.

Die genannten Defizite von Global Governance sind also längst mehr als versteckte Strukturprobleme. Sie offenbaren sich in sozialem Widerstand gegen und in der Instrumentalisierung von Global Governance. Insofern steht das globale Regieren vor einem grundlegenden Dilemma: Es sind in einzelnen Bereichen oft globale Maßnahmen erforderlich, die aber im gegebenen institutionellen Rahmen und vor dem Hintergrund bestehender Legitimationsanforderungen schwerlich durchgesetzt werden können. Ob die zunehmende Manifestierung dieses Problems und die damit verbundene Politisierung einen Weg aus dem Dilemma bahnen können, bleibt abzuwarten.

Prof. Dr. Michael Zürn ist Direktor der Abteilung Global Governance und Professor für Transnationale Konflikte und Internationale Institutionen an der FU Berlin. Außerdem ist er Co-Leiter des WZB Rule of Law Center und seit 2006 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Kontakt: E-Mail Link: michael.zuern@wzb.eu