Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kulturen und Religionen | Naher Osten | bpb.de

Naher Osten Editorial Außensicht und Selbstverständnis einer Region in der Krise Kulturen und Religionen Zwischen Kolonialismus und Nationenbildung Die Epoche der Autokraten Entwicklung und Struktur der Wirtschaft Gesellschaftliche Herausforderungen Regionales System und Machtbalance Der Arabische Frühling und seine Folgen Karten Literaturhinweise und Internetadressen Impressum

Kulturen und Religionen

Stephan Rosiny

/ 18 Minuten zu lesen

Der Nahe Osten ist geprägt von kultureller und religiöser Vielfalt. Der Islam, die Mehrheitsreligion, bestimmt in unterschiedlicher Weise den Alltag, aber auch gesellschaftliche und politische Verhältnisse. Besondere Aufmerksamkeit erwecken heute Islamisten als politische Akteure.

Jerusalem ist eine heilige Stätte für die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Der Tempelberg in der Altstadt mit der Klagemauer, der al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom ist unter Juden und Muslimen politisch umstritten. (© Markus Kirchgessner / laif)

Wenn vom "Nahen Osten" oder kulturgeografisch vom "Vorderen Orient" die Rede ist, denkt man hierzulande meist an Länder, in denen Arabisch gesprochen wird und der Islam die kulturprägende Mehrheitsreligion ist. Doch gehören zum Nahen Osten im weiteren Sinne auch die nicht arabischen Staaten Iran, Israel und die Türkei sowie viele andere Ethnien wie etwa Kurden, Berber und Tscherkessen. Neben den Muslimen gibt es größere christliche und jüdische Gemeinden sowie Anhänger kleinerer Religionsgemeinschaften wie Zoroastrier, Jesiden und Bahai. Die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam entstanden im Gebiet des heutigen Nahen Ostens und beziehen sich auf Abraham als ihren gemeinsamen Stammvater. Sie sind bis in die Gegenwart mit zahlreichen Konfessionen, Rechtsschulen, Kirchengemeinschaften und Sekten anzutreffen.

QuellentextReligiöse Vielfalt

Im Westen wird der Nahe und Mittlere Osten als weitestgehend islamisch wahrgenommen. Das trifft auch zu, wenn man die demografische Verteilung der Konfessionen betrachtet. Aber auch wenn der Islam heute dominierend sein mag: Die Region ist ein religiöses Mosaik. Neben etwa zwei Dutzend christlichen Denominationen, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet haben, leben dort unter anderem Juden, Jesiden, Drusen, Bahai, Zoroastrier und Mandäer (Sabier) – ganz zu schweigen von am Rande des islamischen Spektrums befindlichen Gruppen wie den arabischen Alawiten (zur Unterscheidung von den Aleviten manchmal auch Nusairier genannt), den türkischen Aleviten oder den kurdischen Schabak.

Das Miteinander von Muslimen und Nichtmuslimen ist von vielerlei Regeln geprägt, manche ausgesprochen, andere unausgesprochen. In den meisten Ländern etwa gilt – Ausnahmen sind etwa der Libanon und Teile Palästinas –, dass Nichtmuslime sich in der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Religion zurückhalten. Interreligiöse Beziehungen sind zumeist verpönt. Und oft können Nichtmuslime nicht bis in die obersten Ränge von Politik und Verwaltung aufsteigen – hier greift wie in manchen anderen Lebensbereichen eine religiöse Diskriminierung.

Dessen ungeachtet war die Situation derjenigen religiösen Minderheiten, die von islamischer Seite akzeptiert werden – nach gängiger Meinung mindestens Juden, Christen, Mandäer, Zoroastrier und Hindus –, über weite Strecken der Geschichte nicht schlecht. Im Osmanischen Reich konnten größere Religionsgemeinschaften ihre Familienstandsangelegenheiten selbst regeln, dies setzt sich im Recht mancher Staaten bis heute fort […]. Nicht anerkannte Gruppen wie die iranischen Bahai hingegen leiden oft unter Verfolgung. […]

Gerät das System aus dem Gleichgewicht, sind es in der Regel die Minderheiten, die dies als Erste zu spüren bekommen. Politische, wirtschaftliche oder religiöse Umwälzungen stellen für sie grundsätzlich Bedrohungen dar, da sie leichter als andere zu Sündenböcken gemacht werden können. […]

Obwohl der Arabische Frühling – die größte nahöstliche Umwälzung der letzten Dekaden – religiösen Minderheiten daher nicht nur Positives verhieß, unterstützte eine große Anzahl Nichtmuslime den Wunsch nach Veränderung. Angesichts der Wahlerfolge islamistischer Parteien in manchen und der Militarisierung der Aufstände in anderen Ländern wurden jedoch auch die Stimmen derjenigen laut, die vor negativen Folgen für Minderheiten warnten oder die Vorzüge der alten Regime priesen: Traditionell gehört es zu den Überlebensstrategien von Minderheiten, die Nähe zu den Herrschenden zu suchen; und die eher säkular orientierte Ideologie des arabischen Nationalismus – aus der die meisten dieser Regime hervorgegangen waren –, besaß für Nichtmuslime besondere Attraktivität.

Zugleich hat sich ihre Emigration seit 2011 noch einmal verstärkt. Vielen fällt die Auswanderung leichter als Muslimen: Im Durchschnitt zählen Christen in der Region zu den wirtschaftlich erfolgreicheren Schichten; darüber hinaus haben Missionsschulen und christliche Universitäten ihnen einen Bildungsvorsprung verschafft sowie Kontakte in westliche Länder etabliert. Manche glauben deshalb, dass der endgültige Exodus der Nichtmuslime aus dem Nahen und Mittleren Osten – der Wiege dreier Weltreligionen – unabwendbar sei.

Christian Meier, Religiöse Minderheiten, Zurückhaltung empfohlen. in: Atlas des Arabischen Frühlings. Eine Weltregion im Umbruch, Bonn 2016, S. 28

Diese Ethnien, Kulturen und Religionen weisen weiterhin regionale und lokale Besonderheiten auf. Bewohner von Städten und Dörfern, sesshafte Bauern oder nomadische Beduinen haben besondere, an ihre Umwelt angepasste Lebensweisen entwickelt und teils seit Jahrhunderten bewahrt. All dies macht den Nahen Osten zu einem bunten Mosaik unterschiedlicher religiöser und kultureller Lebensformen. Die Kenntnis seiner Geschichte ist unerlässlich, um die heutigen Kulturen und Religionen, aber auch die Politik der Region zu verstehen.

Kulturgeschichte des Vorderen Orients


Der Vordere Orient gehört mit China, Indien und Mittelamerika (Azteken, Maya) zu den Wiegen der menschlichen Zivilisation. In der heutigen Südtürkei und in Mesopotamien reichen ihre Spuren bis ins neolithische Altertum vor 12.000 Jahren zurück. Die altorientalischen Reiche der Sumerer, Ägypter, Babylonier, Assyrer, Hethiter und Perser formten die Region zu einem Kulturraum, der durch Handelswege wie die Seidenstraße oder das Mittelmeer verbunden wurde und einen Austausch von Wissen und Technik ermöglichte. Wechselseitige Beeinflussungen in Religion, Philosophie, Architektur und Kunst prägten die Region. Einige ihrer frühen Kulturen sind bis in die Gegenwart in der kollektiven Erinnerung der Völker lebendig und Bestandteile der modernen nationalen Geschichtsschreibungen. Manche zeitgenössische Diktatoren versuchten, dies für die Legitimierung ihrer Herrschaft zu nutzen, und inszenierten sich als Erben antiker Herrscher.

Auf dem Gebiet des heutigen Irak entwickelten sich einst die Zivilisationen Mesopotamiens, des um die Flüsse Euphrat und Tigris gelegenen Zweistromlandes. Hier entstanden im siebten vorchristlichen Jahrtausend die ersten Siedlungen und städtischen Kulturen der Menschheit, die bedeutende Erfindungen wie Keramik, Werkzeuge und Waffen sowie gesellschaftspolitische Neuerungen der staatlichen Verwaltung hervorbrachten. So schuf der babylonische König Hammurabi (1792–1750 v. Chr.) eines der ersten Gesetzbücher. In ihm schrieb er das Strafprinzip der gleichmäßigen Vergeltung (Talio) fest, das an die Stelle ungezügelter Rache trat und das uns im Alten Testament in dem Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" wiederbegegnet.

Die syrische Geschichtsschreibung bezieht sich auf die namensgebenden Assyrer (1500–626 v. Chr.), die im heutigen Nordirak und in Nordsyrien herrschten. In Ägypten sind die pharaonischen Reiche nicht nur architektonisch mit den Pyramiden und anderen Monumentalbauten gegenwärtig. Ihre Spuren finden sich in Bräuchen wie etwa dem volkstümlichen Zar-Kult, einem Ritual der Geisteraustreibung, sowie in der Liturgie des koptischen Christentums. Diese altorientalische Kirche führt sich auf den Evangelisten Markus zurück, in dessen Nachfolge ihr eigener Papst steht. Schließlich leiten Ägypter – wie auch Iraker – ihren Anspruch auf eine arabische Führungsrolle unter anderem aus dem Glanz ihrer antiken Kulturen ab.

Nicht minder stolz auf ihre Frühgeschichte sind die Libanesen, von deren Küstenstädten Tyros, Sidon und Byblos einst die Phönizier, ein Seefahrervolk (~1200–146 v. Chr.), als Erste Afrika umsegelten. Das Mittelmeer war ihr Handelsraum, an dessen Küsten sie Kolonien gründeten wie die Stadt Karthago nahe dem heutigen Tunis. Anders als für die Großreiche dieser Zeit üblich dehnten die Phönizier ihren Einflussbereich vorwiegend als Handelsmacht und über Verträge und nur nachrangig durch kriegerische Eroberung und Besatzung aus. Sie erfanden eine aus 22 Konsonanten bestehende Buchstabenschrift, die zur Grundlage für das hebräische, das griechische, das lateinische und das arabische Alphabet wurde. Später eroberten die Griechen (~750–146 v. Chr.) und das Römische Reich (509 v. Chr.–395 n. Chr.) große Teile des Nahen Ostens und nutzten das Mittelmeer ebenfalls als Handels- und Kulturraum.

Iran sieht sich in Kontinuität zum Reich der Perser (550 v. Chr.–651 n. Chr.), dessen straff organisierte Bürokratie von den islamischen Kalifaten übernommen wurde. Viele kulturelle Besonderheiten sind trotz der arabischen Eroberung und Islamisierung des Landes erhalten geblieben. So gilt in Iran eine Mischung aus dem vorislamischen Sonnenkalender (mit dem Neujahr zur Sonnenwende am 20. oder 21. März) und dem islamischen Hidschra-Kalender. Dieser beginnt mit der Auswanderung des Propheten Mohammed und seiner muslimischen Gemeinde von Mekka nach Medina im Jahre 622 n. Chr. Er orientiert sich am Mondverlauf, weshalb seine zwölf Monate und somit auch das Jahr kürzer sind als das dem Sonnenlauf folgende Jahr unserer Zeitrechnung.

Nach der Teilung des Römischen Reiches 395 n. Chr. kontrollierte das oströmische Byzantinische Reich (395–1453) den östlichen Bereich des Mittelmeers. In ihm war das orthodoxe Christentum Staatsreligion, aus dem verschiedene, im Nahen Osten bestehende Kirchen wie die Griechisch-, die Syrisch- und die Armenisch-Orthodoxe Kirche hervorgingen. Byzanz grenzte an das arabisch-islamische Reich, das sich seit der Religionsstiftung durch Mohammed (570–632) stetig ausweitete und schließlich 1453 das gesamte Territorium des Byzantinischen Reiches eroberte. Die Islamisierung und Arabisierung des Nahen Ostens wurde auch von den christlichen Kreuzrittern nicht aufgehalten, die zwischen 1095 und 1270 zeitweise die den drei abrahamitischen Religionen heilige Stadt Jerusalem und angrenzende Territorien kontrollierten.

Nach der türkisch-islamischen Eroberung Konstantinopels benannten die muslimischen Sieger 1453 die Stadt in Istanbul um und machten sie zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches (~1300–1922/23). Der osmanische Sultan (arab.; dt.: Herrscher) übernahm 1517 zusätzlich den islamischen Herrschertitel des Kalifen und brachte damit seinen Anspruch als Oberhaupt aller Muslime zum Ausdruck. Sein Herrschaftsbereich verkleinerte sich besonders im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge des Ersten Weltkrieges, als Nationalitäten wie die Griechen und verschiedene Völker des Balkans die staatliche Unabhängigkeit erlangten und europäische Kolonialmächte fast alle arabischen Staaten als Kolonien oder Mandatsgebiete unter ihre Kontrolle brachten. Aus dem verbliebenen Rumpfstaat ging 1923 die Türkei hervor. Frankreich und Großbritannien sowie ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusätzlich die USA und die Sowjetunion bzw. Russland üben seitdem bedeutenden Einfluss auf die Region aus.

Im Mittelalter übernahm Europa kulturelle und wissenschaftliche Errungenschaften des Vorderen Orients, beispielsweise medizinische Erkenntnisse wie die Entdeckung des Blutkreislaufs oder Navigationsinstrumente der Seefahrt. In dieser Epoche gelangten auch viele arabische Lehnwörter wie Algebra, Alkohol, Matratze, Ziffer und Zucker nach Europa. Der Islam war in dieser Zeit in vielem fortschrittlicher und offener als das Christentum, etwa im Bereich medizinischer Forschung oder in der Verrechtlichung diplomatischer Beziehungen zu Andersgläubigen. Arabische Philosophen wie Avicenna (980–1037) und Averroes (1126–1198) beeinflussten mit ihren Kommentaren des Aristoteles nachhaltig die Philosophiegeschichte Europas, die christliche Scholastik, den Humanismus und die Aufklärung.

Doch kehrte sich dieses Verhältnis zunehmend um. Schon im 15. Jahrhundert wechselte Europa vom Importeur zum Exporteur von Fertigprodukten wie Papier, Nägeln, Textilien und Glas. Mit dem europäischen Kolonialismus und der sich ausweitenden Vernetzung der Welt durch Handel und Kommunikation, Wirtschaft und Kultur unterlagen lokale, traditionelle Gemeinschaften im Nahen Osten zunehmend den Einflüssen des Weltmarkts sowie der kulturellen und ideologischen Dominanz des Westens. Diese beeinflusste Stadtplanung und Architektur, die Infrastruktur und die Medien, das Bildungswesen, die Gesundheitsversorgung, die Staatsverwaltung und die Konsumgewohnheiten. Westliche Dominanz trat nicht zuletzt in politischen Ideologien wie dem Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus und Kommunismus zutage.

Menschen aus dem Nahen Osten, die sich im Westen aufhalten, um zu studieren, zu arbeiten oder sich vor dem Krieg in ihren Heimatländern zu retten, lernen hier westliche Verhaltensweisen und Werte kennen und spiegeln sie über Familienbesuche oder als Rückkehrende in ihre Herkunftsländer zurück.
Im Prozess der Globalisierung sind Kulturen und Religionen zu weltweiten Austauschgemeinschaften verschmolzen: Der "Orient" ist in Europa unter anderem in Migrantengemeinden und Spezialitätenrestaurants präsent. New Yorks Skyline erhält Konkurrenz von den Hochhäusern in Dubai, der saudischen Hauptstadt Riad oder von Doha, der Hauptstadt Katars. Nur im Bereich der Säkularisierung scheint der Nahe Osten einer westlich dominierten Modernisierung zu widerstehen: Religion prägt hier nach wie vor den Alltag, die Gesellschaften und teilweise auch die Politik der Region. Das gilt insbesondere für den Islam als die Mehrheitsreligion, die in jüngerer Zeit von vielen Gläubigen in die politisierte Form des Islamismus umgedeutet wird.

Die Religion des Islam


Vermutlich um 610 n. Chr., im Alter von 40 Jahren, hatte der islamische Prophet Mohammed sein erstes Offenbarungserlebnis. Er verkündete in den folgenden Jahren den Bewohnern seiner Heimatstadt Mekka, einer bedeutenden Handels- und Pilgerstadt auf der Arabischen Halbinsel, die neue Botschaft des Islam. Die frühe Gemeinde wurde jedoch von der etablierten Oberschicht abgelehnt, weshalb sie im Jahre 622 nach Medina auswanderte. Diese Hidschra (arab.; dt.: Auswanderung) markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung.

In der Oasenstadt Medina fand Mohammed mit seiner prophetischen Mission neue Anhänger. Er wirkte als Schiedsrichter untereinander verfeindeter Clans und gewann dadurch zunehmend politische Autorität. Dabei halfen ihm göttliche Offenbarungen, die seinen Aussagen und seinem Verhalten besonderes Gewicht verliehen. Er und seine Anhänger bauten ein staatsähnliches Gemeinwesen auf, in dem nicht mehr Stammesloyalität, sondern das gemeinsame religiöse Bekenntnis zählte. Durch militärische Eroberungen und den vertraglichen Beitritt weiterer Stämme weitete sich die früh-islamische Gemeinde bereits zu Lebzeiten Mohammeds auf den Großteil der Arabischen Halbinsel aus.

Ausbreitung des Islam bis zum Jahr 750 (© Externer Link: Wikimedia)

Angetrieben vom neuen Glauben eroberten arabische Stämme bis zum Jahr 750 die gesamte heutige arabische Welt, dazu große Teile Spaniens und Portugals (das arabische al-Andalus) sowie Zentralasiens. Sie verbreiteten dabei nicht nur den Islam als Religion, sondern in unterschiedlicher Intensität auch eine durch ihn geprägte arabische Kultur. Der Koran, die Heilige Schrift der Muslime, setzte die Norm für die arabische Schriftform und Sprache. Sie diente den frühen islamischen Dynastien, dem in Damaskus residierenden Kalifat der Umayyaden (661–750) und dem Kalifat der Abbasiden in Bagdad (750–1258), als Verwaltungssprache und ist heute Amtssprache in allen arabischen Ländern. Die gemeinsame Sprache ermöglichte auch in jüngerer Zeit immer wieder überregionale intellektuelle und politische Bewegungen wie etwa die Nahda, eine säkulare Reformbewegung des 19. Jahrhunderts, den Arabischen Nationalismus Mitte des 20. Jahrhunderts oder die schnelle Ausbreitung des Arabischen Frühlings 2010/11, in dem gemeinsame politische Parolen und Protestlieder grenzüberschreitende Wirkung entfalteten.

Daneben haben Ethnien wie die Berber und Kurden ihre eigenen Sprachen bewahrt. Einige Religionsgemeinschaften pflegen teils uralte Liturgiesprachen, christliche Gemeinden beispielsweise das Koptische, das Aramäische und das Syrische sowie Juden das Hebräische, das 1948 in reformierter Form Staatssprache Israels wurde. Je weiter sich die arabisch-islamische Eroberung ausdehnte, desto schwächer wurde die kulturelle Arabisierung. Das osmanische Türkisch als Amts- und Literatursprache und das Persische übernahmen noch die arabischen Schriftzeichen, behielten aber weitgehend ihr Vokabular und ihre Grammatik. Auch islamische Regeln gingen eine Mischung mit lokalen Bräuchen ein, etwa im Familienrecht, in den Bekleidungsregeln oder im Gräberkult. Der Islam wurde dadurch zum Bindeglied sozial und ethnisch äußerst unterschiedlicher Gemeinschaften und Kulturen.

Glaubensrichtungen


Der Islam und seine Glaubensrichtungen (© picture-alliance, dpa-infografik, Globus 5449; Quellen: bpb, The Pew Forum on Religion & Public Life, GIGA Institut; Stand: 2009)

Mohammed hatte vor seinem Tod 632 keine klare Nachfolgeregelung zur Leitung seiner Gemeinde getroffen. Es kam deshalb zur grundlegenden Spaltung in den sunnitischen (arab.: Sunna; dt.: Brauch, Tradition) und den schiitischen Islam (arab.: Schia; dt.: Anhängerschaft, gemeint sind die Anhänger des Imam Ali). Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten durchzieht seitdem die islamische Geschichte und beeinflusst gerade heute wieder die politische Auseinandersetzung im Nahen Osten. So konkurrieren der mehrheitlich schiitische Iran und das mehrheitlich sunnitische Saudi-Arabien um die regionale Führung am Persisch-Arabischen Golf.

QuellentextDie Fünf Säulen des Islam

Die grundlegenden religiösen Pflichten der Muslime sind als die Fünf Säulen bekannt.

1. Shahada – das Glaubensbekenntnis nach der Formel: Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist. Die shi'itische Minderheit fügt dem die Worte hinzu: ,Ali ist der Freund Gottes‘.

2. Salat – Anbetung. Zuweilen auch als "Gebet" übersetzt, nimmt salat die Form einer rituellen Prostration [sich niederwerfen, Anm. d. Red.] an, bei der die präzise Ausführung der Körperbewegungen genauso wichtig ist wie die begleitend stattfindende geistige Aktivität. Sunnitische Muslime sollen salat fünfmal am Tage verrichten: in der Morgendämmerung, am Mittag, mitten am Nachmittag, nach Sonnenuntergang sowie am Abend. Die Gläubigen müssen sich im Zustand ritueller Reinheit befinden [...]. Salat kann praktisch überall verrichtet werden, vorausgesetzt, der Betende wendet sich der qibla zu – der Richtung, in der die Ka'aba in Mekka liegt. Am Freitag wird mittags das Gebet in der Gemeinde verrichtet, zu dem sich alle erwachsenen männlichen Mitglieder der Gemeinde versammeln. Männer und Frauen bleiben für gewöhnlich getrennt; die Frauen nehmen hinter den Männern oder in einem abgeschirmten Teil der Moschee am Gottesdienst teil. In der Regel hält der Imam oder Vorbeter eine Predigt. […]

3. Zakat – Almosengeben / obligatorische Wohlfahrtsspende. Diese Steuer ist einmal pro Jahr von allen erwachsenen Muslimen zu zahlen und wird auf 2,5 Prozent des Kapitalvermögens taxiert, über das jemand zusätzlich zu einem als nisab bekannten Minimum verfügt. Nisab umfasst für den Viehbestand zum Beispiel fünf Kamele, dreißig Kühe [...] oder vierzig Schafe oder Ziegen. Zakat ist für Bankguthaben, Edelmetalle, in den Verkehr gebrachte Handelsware (nicht aber für persönliche Besitztümer, wie Autos, Kleidung, Häuser und Schmuck), den Viehbestand und eingefahrene Ernte von bebautem Land zu leisten. Die Empfänger sollten arm und bedürftig sein. In der Vergangenheit wurde zakat von der muslimischen Regierung eingezogen und nach althergebrachtem Schema verteilt. Heutzutage ist das Almosenspenden der Gewissensentscheidung des Gläubigen überlassen.

4. Saum – das Fasten während Ramadan. Gefastet wird im heiligen Monat Ramadan, dem neunten Monat des Mondkalenders, tagsüber, solange es hell ist. Das Fastengebot bezieht sich auf Essen, Trinken, Rauchen und Geschlechtsverkehr. Das Fasten beginnt mit dem Morgengrauen und endet mit Sonnenuntergang. [...] Der Ramadan bietet traditionell Gelegenheit für Familienzusammenkünfte wie auch für religiöse Besinnung. Es gilt als besonders verdienstvoll, während des heiligen Monats den gesamten Koran zu rezitieren. Nach der Überlieferung war es der 27. Ramadan, die "Nacht der Macht", als der Koran "herabkam".

5. Hajj – Pilgerfahrt nach Mekka. Die Erfüllung dieser sehr weitgehenden und anspruchsvollen religiösen Pflicht wird von jedem und jeder muslimischen Erwachsenen mindestens einmal im Leben gefordert. Die jährliche Pilgerfahrt oder Hajj findet während der letzten zehn Tage des zwölften Mondmonats (Dhu’l al Hijja) statt und erreicht ihren Höhepunkt mit dem Opferfest (’Id al-Adha). [...] Die kleinere Wallfahrt oder ’Umra kann zu jeder Zeit des Jahres verrichtet werden. [...] Die [...] zu verrichtenden Rituale beinhalten: Tawaf, das Umschreiten der Ka’ba; Sa’i, den siebenmaligen Lauf zwischen den beiden Hügeln Safa und Marwa; [...] das "Verweilen" in der Ebene am Berg ’Arafat, einige Kilometer außerhalb von Mekka; der "Ansturm" durch die enge Talschlucht von Muzdalifa; die "Steinigung" der drei Pfeiler, die den Satan darstellen; das Schlachten eines Opfertiers in Mina [...].


Malise Ruthven, Der Islam. Eine kurze Einführung, Philipp Reclam jun. GmbH Stuttgart 2000, S. 193ff.

Die von der Mehrheit vertretene, sunnitische Richtung hält die Kalifen für die rechtmäßigen Nachfolger des Propheten in der Leitung der Gemeinde. Auf die ersten vier "rechtgeleiteten Kalifen" Abu Bakr, Omar, Uthman und Ali, den Cousin und Schwiegersohn Mohammeds, folgten als bedeutendste Kalifats-Dynastien die Umayyaden (661–750), die Abbasiden (750–1258) und die Osmanen (1517–1924). Die Sunniten sehen in den Kalifen vor allem die politischen Führer der Gemeinde. Eine verbindliche oberste religiöse Autorität gibt es für sie nicht.

Sie fühlen sich in besonderer Weise dem Leben und Wirken des Propheten in der sunnitischen Glaubensauslegung verpflichtet, die in den so genannten Hadith-Werken tradiert werden. Diese enthalten beispielhafte Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed und seiner frühen Gefährten und haben deshalb neben dem Koran normative Bedeutung für die islamische Rechtsfindung (Scharia). Der sunnitische Islam zählt in der Gegenwart vier Rechtsschulen (arab.: madhhab), die sich in der Methodik der Rechtsableitung und geringfügig in ihrer religiösen Praxis unterscheiden. Daneben gibt es verschiedene Richtungen der islamischen Mystik, des Sufismus.

Die salafistische Richtung des sunnitischen Islam geht auf Ibn Taimiyya (1263–1328) zurück. Sie lehnt die Rechtsschulen als von Menschen erdachte Neuerungen ab und zeichnet sich durch eine rigide Befolgung religiöser Rituale und Verhaltensregeln aus, beispielsweise in der Kleiderordnung und der Geschlechtertrennung. Salafisten verhalten sich meist intolerant gegenüber anderen Glaubensrichtungen und gegenüber Sunniten, die nicht ihrem eigenen engen Islamverständnis folgen.

Schiiten gehen davon aus, dass Gott Ali zum politischen und spirituellen Nachfolger des Propheten Mohammed und zum Oberhaupt (Imam) der Gemeinde bestimmt habe. Nur die aus der Ehe der Prophetentochter Fatima mit Ali hervorgegangenen Nachfahren seien legitimiert, die Gemeinde religiös zu leiten. Eine politische Autorität, die sie ebenfalls beanspruchten, konnten die schiitischen Imame gegen das sunnitische Kalifat hingegen nicht durchsetzen. Die sunnitischen Kalifen galten ihnen daher als unrechtmäßige Herrscher, die allerdings aus pragmatischen Gründen – Schiiten waren fast immer Bevölkerungsminderheiten – in der Regel akzeptiert wurden. In der Frühzeit des Islam rebellierten Schiiten jedoch immer wieder gegen allzu tyrannische Herrscher. Sie sehen im Enkel des Propheten, Imam al-Husain, der im Jahre 680 gegen den umayyadischen Kalifen Yazid rebellierte und in Kerbela den Tod fand, ein besonderes Vorbild. Sie begehen das tragische Ereignis seines "Martyriums" in den jährlich stattfindenden Aschura-Ritualen.

Als im 9. Jahrhundert der letzte einer Reihe von zwölf Imamen, der Imam al-Mahdi, im Kindesalter starb und im schiitischen Verständnis damit "in die Verborgenheit" einging, brach der unmittelbare Kontakt zur göttlichen Rechtleitung durch die Imane ab. Religionsgelehrte (arab.: ulama) übernahmen stellvertretend diese Funktion bis zur erwarteten Rückkehr des Mahdi "aus der Verborgenheit" als endzeitlichem Erlöser.

Der schiitische Islam hat einige Richtungen hervorgebracht.Sie unterscheiden sich in der Reihe der von ihnen anerkannten Imame als Nachfolger des Propheten, in ihrer Theologie, in der Frage religiöser Autorität und in religiösen Riten. Die zahlenmäßig größte Richtung ist die Zwölferschia. Daneben gibt es die Zaiditen im Jemen, die Ismailiten und Drusen, die Aleviten in der Türkei und die Alawiten in Syrien sowie viele weitere kleinere Gruppen. Schiiten bilden gegenwärtig ca. 10 bis 20 Prozent aller Muslime. In Iran, im Irak und in Bahrain stellen sie die Bevölkerungsmehrheit, im Libanon, in Saudi-Arabien, Jemen und Syrien bedeutende Minderheiten.

Der Sufismus zählt zwar mehrheitlich zum sunnitischen Islam, weist aber viele Gemeinsamkeiten mit dem schiitischen Islam auf. Wie in diesem suchen die Gläubigen spirituell die Nähe Gottes, vermittelt etwa über Heilige und den Besuch von deren Gräbern. Beide Richtungen, Schiiten und Sufis, werden daher von fundamentalistischen Salafisten kritisiert, die eine solche Heiligenverehrung als verbotenen Polytheismus (Vielgötterei) ablehnen. Religiöse Extremisten zerstören deshalb immer wieder heilige Stätten der Schiiten und Sufis, so im Irak, in Syrien, Libyen und im Jemen.

Der Islam als normative Ordnung


Der Islam ist mit der Gemeindegründung von Medina 622 und durch den frühen Erfolg der islamischen Expansion eine sehr diesseitsorientierte Religion geworden, die schon früh Verhaltensregeln für das zwischenmenschliche Zusammenleben, für Vertragsgestaltungen, politische Herrschaft und das Kriegswesen entwickelte. Muslime gehen davon aus, dass das "Reich Gottes" bereits auf Erden zu verwirklichen sei. Dies prägte den Islam als eine Gesetzesreligion, die zahlreiche Aspekte des menschlichen Lebens festlegen will. Tatsächlich aber existierten zu allen Zeiten parallel zum religiösen Recht auch andere Rechtsvorstellungen, seien es lokale Gewohnheitsrechte und Bräuche oder von Herrschern erlassene Gesetze.

Die normative Ordnung der Scharia ist nach Ansicht der Gläubigen nicht von Menschen geschaffen, sondern göttlichen Ursprungs und daher "absolut gerecht". Allerdings gibt es große Meinungsverschiedenheiten unter Muslimen, was genau die Scharia bedeutet, unter welchen Umständen sie gültig ist, angepasst und erneuert werden darf. Das hängt unter anderem mit Fragen zusammen, die im Kern jeder monotheistischen Religion stecken: Hat Gott als "Schöpfer" alles vorherbestimmt und die Menschen zu bloßen Befehlsempfängern gemacht, oder hat er sie mit Verstand und der Freiheit ausgestattet, ihr Schicksal selbstständig zu gestalten? Gibt es ewige Wahrheiten und Regeln, die für alle Zeiten gültig sind, oder können bzw. müssen sie den veränderten Umständen sich wandelnder Gesellschaften angepasst werden?

Die jeweils erste Position vertreten etwa Salafisten, die fundamentalistisch und buchstabengetreu die überlieferten Regeln befolgen wollen. Auf der anderen Seite stehen reformorientierte Islamisten, wie etwa die Muslimbruderschaft, oder schiitische Gruppierungen, die mit Hilfe "selbstständiger Rechtsfindung" (arab.: idschtihad) zeitangepasste Verhaltensregeln suchen. Säkular orientierten Gläubigen bietet die Religion eine moralische Orientierung, aber keine exakte Handlungsanweisung für ihr Leben. Daneben gibt es im Nahen Osten auch Atheisten, wenngleich sie sich durch den dominanten islamischen Diskurs derzeit nur selten offen zu erkennen geben.

Die arabisch-islamische Kultur


Obwohl nur rund ein Fünftel aller Muslime in arabischen Ländern leben, ist der Islam eine arabisch geprägte Religion geblieben. Für die arabischen und andere von Muslimen bewohnte Länder stellt die Religionsstiftung des Propheten Mohammed auf der Arabischen Halbinsel das Schlüsselereignis dar. Der Koran wurde in arabischer Sprache offenbart und niedergeschrieben, und Arabisch hat seine sakrale Bedeutung bis in die Gegenwart behalten. So vollziehen Muslime weltweit ihre Pflichtgebete in arabischer Sprache und beten in Richtung Mekka. Diese Stadt auf der Arabischen Halbinsel ist auch das Ziel der jährlich stattfindenden Pilgerfahrt (Hadsch), die jeder Muslim einmal im Leben vollziehen soll.

Religion und Kultur üben im Nahen Osten noch einen viel größeren Einfluss auf das tägliche Leben der Menschen aus als etwa in Europa. Im Westen sind durch die Aufklärung sowie durch die Liberalisierung und Individualisierung der modernen Gesellschaften viele Freiräume für ein selbstbestimmtes Leben ohne den direkten Einfluss von religiösen und kulturellen Vorschriften entstanden. In vielen Regionen des Nahen Ostens dominiert hingegen noch eine patriarchalische Familienordnung, in der Frauen ihren Männern und Jugendliche ihren Eltern gehorchen müssen. Dies ist keine Besonderheit des Islam, auch Christentum und Judentum entstanden ursprünglich in einem patriarchalischen Umfeld. Mittlerweile verändert sich das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, der jungen Generation zu ihren Eltern aber auch im Nahen Osten rasant. Ein Mehr an Bildung, der Zugang zu neuen Medien oder Reisen ins Ausland erweitern den Horizont und wecken den Wunsch, das eigene Leben selbstbestimmter gestalten zu dürfen.

Trotz zunehmender Offenheit in vielen Bereichen orientieren sich viele Muslime in Fragen des Glaubens, aber auch in sozialen und politischen Fragen nach wie vor an Vorbildern aus der islamischen Geschichte und Tradition. In Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs, wie die Region sie etwa zu Zeiten des Kolonialismus erlebte und aktuell angesichts der Globalisierung erlebt, sollen diese Vorbilder Halt gewähren.

Muslime können dabei fundamentalistisch eine buchstabengetreue Imitation der frühislamischen Gemeinde unter Mohammed anstreben oder sich im Sinne einer zeitgemäßen Anpassung der Religion kritisch mit den islamischen Quellen auseinandersetzen. So stellen muslimische Reformer, darunter auch einige Islamisten, Verhaltensweisen in Frage, die im Namen des Islam Jahrhunderte überdauert haben. Dies gilt etwa für den Bereich der sozialen Rollenzuschreibung zwischen Mann und Frau. Manche fortschrittliche Gelehrte und "islamische Feministinnen" kritisieren die Regeln, die Frauen diskriminieren, und die patriarchalische Werteordnung als überholte Relikte der vorislamischen Stammeskultur. Andere verteidigen hingegen die konservativen Normen als unveränderbare göttliche Bestimmungen.

Kulturen und Religionen sind von Menschen geprägte und gelebte sinnstiftende Vorstellungen und Lebensentwürfe. Menschen ändern ihre Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und passen dabei – bewusst oder unbewusst – ihre Identitäten und Glaubensvorstellungen an veränderte Gegebenheiten an. In diesem gesellschaftlichen Prozess und in Konkurrenz zu anderen Kulturen und Religionen befinden sich kulturelle und religiöse Vorstellungen in einem steten Balanceakt zwischen der Bewahrung von "authentischen" Besonderheiten sowie dem Wunsch nach Reformen und dem Anschluss an den globalen Fortschritt. Diese Auseinandersetzung kommt auch im Rahmen des Islamismus zum Tragen. Im Arabischen Frühling und seinen Folgen erlebt sie eine erneute Dynamik.

Politischer Islam (Islamismus)


Im 18. und 19. Jahrhundert reagierten islamische Religionsgelehrte und muslimische Denker auf europäische imperiale Bestrebungen im Nahen Osten. In einer Wiederbelebung des Islam sahen sie die Lösung politischer und gesellschaftlicher Probleme. Die unterschiedlichen Ideologien und politischen Bewegungen, die daraus im 20. Jahrhundert entstanden, werden heute zusammenfassend als Islamismus bezeichnet.

Auf der Arabischen Halbinsel belebte Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1702/03–1792) die fundamentalistische theologische Schule des Salafismus wieder. Sie sucht das Heil in einer exakten Imitation der frühislamischen Gemeinde, der buchstabengetreuen Befolgung islamischer Vorschriften und in der Ablehnung "unislamischer Neuerungen", zu denen sie einige technologische Errungenschaften zählt. Dieser wahhabitische Salafismus ist die Staatsreligion in Saudi-Arabien geworden, das mit seinen enormen Öleinkünften seit den 1970er-Jahren die Verbreitung dieser Doktrin unterstützt.

QuellentextSaudi-Arabien und der Wahhabismus

Auf viele Menschen, die sich für den Nahen Osten interessieren, übt das Königreich Saudi-Arabien eine eigenartige Faszination aus. Seine heiligen Stätten ziehen muslimische Pilger aus aller Welt an. Einerseits ist bekannt, dass das Land über große Erdölvorräte verfügt und aus deren Erlösen eine hochmoderne Wirtschaftsstruktur aufbaute. Andererseits gilt Saudi-Arabien als verschlossen, extrem konservativ und einer puritanischen Auslegung des Islam verpflichtet. Tatsächlich treffen beide Wahrnehmungen zu.

Auch 1932, als es der den Staatsnamen prägenden Familie Sa‘ud unter ihrem Oberhaupt Abd al-Aziz (genannt Ibn Sa‘ud) zum dritten Mal seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gelang, auf der Arabischen Halbinsel einen Zentralstaat unter ihrer Führung zu errichten, fußte die Gründung auf einem nahezu symbiotischen Verhältnis mit der Geistlichkeit. Die Allianz geht auf das Jahr 1744 zurück, als der Dynastiegründer Mohammed Ibn Sa‘ud dem islamischen Reformer und Begründer des Wahhabismus Mohammed Ibn Abd al-Wahhab zusicherte, dessen Religionsauslegung nicht nur als die allein gültige anzunehmen, sondern sie auch zu schützen und zu verbreiten.

Die Lehre Abd al-Wahhabs, die von seinen Gegnern als Wahhabismus, von seinen Anhängern als Salafismus bezeichnet wird, beruht auf den streng konservativen Schriften des islamischen Gelehrten Ibn Taimiya (1263–1328). Dieser hatte eine Rückkehr der Gläubigen zu den originären Aussagen von Koran und Sunna gefordert. Abd al-Wahhab begriff sich als Sachwalter dieser Forderungen. Er unterstützte die Expansionsbestrebungen der Al Sa‘ud, um wieder einen "reinen" Islam in Mekka und Medina zu etablieren. Dafür versprach Abd al-Wahhab – auch für seine Nachfolger –, die Herrschaft der Al Sa‘ud als einzig rechtmäßige zu proklamieren. Auf dieser Grundlage kann die Familie Sa‘ud seit jeher auf die Unterstützung der hohen Geistlichen bauen, die zwar kaum Alltagspolitik betreiben, aber wichtige Inhalte der Gesetzgebung bestimmen und aufmerksam über die Einhaltung der wahhabitischen Normen wachen.

Die Verbindung begünstigte nicht nur eine außergewöhnliche "weltliche", sondern auch geistliche Machtfülle des Königs; in einem Land, in dem Koran und Sunna offiziell als Verfassung gelten, verkörpert er als "Hüter der beiden Heiligen Stätten" Mekka und Medina die höchste religiöse Autorität. Als heilige Stätten des Islam gelten alle Orte, die Muslime besuchen oder zu denen sie pilgern, weil sie dort eine besondere Nähe zu ihrem Schöpfer verspüren.

Da sich aus dem Anspruch, in Übereinstimmung mit der wahhabitischen Rechtsauslegung zu herrschen, ihre Legitimität ableitet, sind alle Könige letztlich darauf angewiesen, dass nicht nur die Geistlichen, sondern alle gläubigen Untertanen die Übereinstimmung bestätigen oder sie zumindest nicht in Frage stellen. Für den jeweiligen König bedeutet das Fluch und Segen zugleich: Schon Staatsgründer Ibn Sa‘ud hatte erkennen müssen, dass das wahhabitische Sendungsbewusstsein ihm zwar die Bildung seines Königreiches ermöglicht hatte, dass es dieses aber durch einen grenzenlosen Missionierungseifer wieder gefährdete. Folgerichtig löste er 1929 die Verbände seiner Glaubenskrieger (arab.: Ikhwan; dt.: "Brüder", in Wehrdörfern sesshaft gemachte Beduinen) gewaltsam auf.

Trotzdem blieb das Religionsverständnis, das sich an die Existenz der Ikhwan knüpfte, in Saudi-Arabien lebendig. Es behauptet sich bis heute in dem Teil der Gesellschaft, dem jegliche Veränderung der "reinen Lehre" – auch in den Beziehungen zum Ausland – suspekt erscheint. Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel gibt der Erscheinung in der Gegenwart einen Namen. Immerhin waren neben Osama bin Laden auch 15 der 19 Attentäter des 11. Septembers 2001 Bürger Saudi-Arabiens.

Gleichzeitig meldeten sich mit der Ausformung des Staates und insbesondere seit dem Modernisierungsschub infolge der Entwicklung Saudi-Arabiens zum weltgrößten Erdölexporteur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Akteure zu Wort, denen die Veränderungen der Gesellschaft viel zu langsam und halbherzig vonstattengingen: Privatunternehmer, Intellektuelle, Manager, Techniker und Spezialisten der Erdölwirtschaft. Sie forderten immer vernehmlicher einen modernen Staat inklusive bürgerlicher Freiheiten.

Die beschriebenen Widersprüche führten zu zahlreichen Eigenarten, die das Leben im gegenwärtigen Saudi-Arabien kennzeichnen. Eine Sittenpolizei (arab.: mutauwa) kontrolliert islamkonformes Verhalten in der Öffentlichkeit; nach ihrer Lesart schließt das auch ein, dass Frauen nicht Auto fahren dürfen. Auf der anderen Seite hat sich die saudische Gesellschaft wie selbstverständlich an die modernsten Errungenschaften heutiger Technik gewöhnt, etwa im Bereich der Kommunikation oder der Infrastruktur.

Die Bewältigung des Dauerspagats zwischen den gegensätzlichen Ansprüchen von Modernisten und Traditionalisten stellt eine elementare Herausforderung für alle Nachfolger Ibn Sa’uds, inklusive des gegenwärtigen Königs Salman, dar. Setzte sein im Januar 2015 verstorbener Vorgänger Abdullah noch vorrangig auf Ausgleich und Dialog, so bevorzugt Salman die innen- und außenpolitische Offensive. Allein im Januar 2016 wurden Dutzende Regimegegner hingerichtet, 2011 und 2015 intervenierten die Al Sa'ud militärisch in den Nachbarstaaten Bahrain und Jemen. In Bahrain sollten schiitische Aufstände niedergeschlagen, im Jemen die schiitische Huthi-Miliz bekämpft werden, an deren Seite die Islamische Republik Iran vermutet wird. Somit konkurriert ein zunehmend selbstbewusster auftretendes Saudi-Arabien um eine regionale Führungsrolle mit Iran.


Henner Fürtig

Salafisten wollen das Vorbild der "frommen Altvorderen" (as-salaf as-salih), der frühen islamischen Gemeinde, imitieren. Sie suchen deshalb Regeln und Lösungen für sämtliche Lebensbereiche in den schriftlichen Quellen des frühen Islam und lassen Neuerungen nur zögerlich zu. Allerdings können sie auch recht pragmatisch agieren. So haben einige Salafisten, um ihren wachsenden politischen Einfluss zu sichern, im Arabischen Frühling Parteien gegründet und sich an Wahlen beteiligt, die sie zuvor als "unislamische Neuerungen" verdammt hatten.

Im bewaffneten Widerstand gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans (1979–1989) radikalisierte sich eine salafistische Gruppe und propagierte den Dschihadismus. Dessen bekannteste Vertreterin war die Terrororganisation al-Qaida (dt.: Basis, gegründet 1988) unter Osama bin Laden, deren Gewaltbereitschaft und Skrupellosigkeit mittlerweile vom "Islamischen Staat" weit überholt wurde.

QuellentextDer "Islamische Staat"

Die Ursprünge des "Islamischen Staates" (IS) lassen sich bis in den Afghanistan-Krieg (1979–1989) zurückverfolgen. Damals kämpften, von Saudi-Arabien, Pakistan und den USA unterstützt, arabische Freiwillige gegen die sowjetische Besatzungsmacht, die sich unter Führung Osama bin Ladens als "al-Qaida" (arab.; dt.: die Basis) organisierten.

Vom Kampf gegen die "ungläubigen Kommunisten" in Afghanistan gestärkt, kehrten sie in den 1990er-Jahren siegreich und ideologisch als Dschihadisten radikalisiert in ihre Heimatländer zurück. Dort zettelten sie bewaffnete Aufstände gegen die autoritären Regime an, so in Algerien und Ägypten, die mit westlicher Hilfe im Kampf gegen den "Terrorismus" niedergeschlagen wurden.

Mit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 (9/11) wollte Osama bin Laden deshalb ein Zeichen gegen die "Kreuzritter" der USA setzen. Sie sollten aus dem Nahen Osten verjagt werden, damit sie die dortigen Regime nicht mehr unterstützen konnten.

In Reaktion auf 9/11 rief der damalige US-Präsident George W. Bush einen "Krieg gegen den Terrorismus" aus, und die USA intervenierten mit Verbündeten in Afghanistan (2001) und im Irak (2003). In beiden Ländern reagierten Dschihadisten mit bewaffneten Aufständen. In Afghanistan wurden die Taliban von der Macht vertrieben, operierten aber aus dem Untergrund heraus weiter, während im Irak "al-Qaida im Irak" (AQI) unter dem Jordanier und Afghanistan-Veteran Abu Mus’ab az-Zarqawi kämpfte. AQI zeichnete sich durch extreme Gewalttaten aus, vor allem gegen die schiitischen Bewohner, die sie gemäß der salafistischen Ideologie als "Ablehner" des frühen Kalifats (arab.: rafida) und somit zur Tötung freigegeben ansah.

AQI profitierte vom wachsenden sunnitisch-schiitischen Gegensatz im Irak und schürte diesen, indem sie sich als Schutzmacht der Sunniten präsentierte. Die Brutalität des "Islamischen Staates Irak" (ISI), wie sich AQI seit 2006 nannte, schreckte indes auch viele Sunniten ab, und bis 2010 wurde die Gruppe durch US-Truppen und die sunnitisch-irakische "Erweckungsbewegung" (arab.: Sahwat al-Iraq) stark dezimiert.

Auch in den sunnitischen Provinzen des Irak brachen 2011 Proteste im Zuge des Arabischen Frühlings aus. Die schiitisch dominierte Zentralregierung unter Ministerpräsident Nuri al-Maliki begegnete ihnen repressiv. In dieser Situation trat ISI erfolgreich als Beschützer der Sunniten auf und gewann wieder an Zulauf. Zeitgleich schickte Abu Bakr al-Baghdadi, der 2010 Befehlshaber von ISI geworden war, Kämpfer nach Syrien, wo im Sommer 2011 ebenfalls ein sunnitisch dominierter bewaffneter Aufstand ausgebrochen war.

Die "Nusra-Front", wie sich der ISI-Ableger und syrische Zweig von al-Qaida nannte, gewann an Ansehen, weil ihre erfahrenen Kämpfer das alawitisch-schiitische Regime von Baschar al-Assad militärisch unter Druck setzten. Diese Popularität wollte sich ISI zu eigen machen, indem die Gruppe 2013 in Syrien intervenierte und den Zusammenschluss beider Milizen zum "Islamischen Staat im Irak und in Scham [Großsyrien]" (ISIS) verkündete. Weder die Nusra-Front noch die al-Qaida-Mutterorganisation erkannten diese Zwangsvereinigung an – es kam 2014 zu innerdschihadistischen Kämpfen zwischen al-Qaida/Nusra und ISIS.

ISIS trat im Sommer 2014 die Flucht nach vorn an. In einem Überraschungsangriff überrannte er die syrisch-irakische Grenze, riss symbolisch die von Briten und Franzosen 1916 gezogene koloniale Grenze von Sykes-Picot ein, stieß weit in den Irak vor und besetzte ein Territorium vom Umfang Großbritanniens. Am 29. Juni 2014, dem ersten Tag des islamischen Fastenmonats Ramadan, benannte sich ISIS in "Der Islamische Staat" (IS) um.

Nunmehr ohne territoriale Begrenzung erhob er den Anspruch, Kern eines islamischen Weltreichs zu sein, das sich alle muslimischen und nichtmuslimischen Territorien einverleiben werde. Gleichzeitig ernannte der IS seinen Anführer Abu Bakr al-Baghdadi zum Kalifen, dem politischen und religiösen Oberhaupt der Muslime, dessen Befehlen sich alle Muslime fortan unterzuordnen hätten. Wer dies verweigere, sei automatisch ein Abtrünniger (arab.: murtadd). Der IS verschaffte sich dadurch eine "Lizenz zum Töten" all seiner Gegner, so auch islamistischer und dschihadistischer Konkurrenten.

Die Vorstellung, die verfolgten sunnitischen Muslime verteidigen zu müssen, sprach Muslime weltweit an, die sich aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls "entrechtet" fühlten. Das Zusammengehörigkeitsgefühl fand in der Vorstellung seinen Ausdruck, einer von Gott auserwählten Avantgarde anzugehören. Je mehr Kämpfer aus der arabischen Welt, aus Europa und Zentralasien die vom Kalifen verlangte Auswanderung (arab.: hidschra) in den "Islamischen Staat" vollzogen, desto erfolgreicher wurden dessen brutale Eroberungs- und Beutezüge.

In aufwändig produzierten Internetvideos und Hochglanzbroschüren verbreitete der IS seine militärischen Erfolge und seine martialische Propaganda. In diesen Botschaften vertrat er das religiöse Heilsnarrativ, dass Gott auf Seiten der Siegreichen sei, weshalb sich ständig neue Rekruten und dschihadistische Gruppen dem IS anschlossen. Die versprochene Kriegsbeute bot darüber hinaus einen ökonomischen Anreiz.

Allerdings hat sich der IS durch seine Brutalität auch mächtige Feinde geschaffen. Sein religiöser Alleinvertretungsanspruch wird weder im islamistischen Lager noch von muslimischen Staaten und religiösen Autoritäten anerkannt. Dutzende Staaten bekämpfen den IS, der seit Mai 2015 territorial nicht mehr expandierte, stattdessen eine militärische Niederlage nach der anderen erlebt. Seine auf Beute beruhende Ökonomie wurde dadurch geschwächt, und er musste ersatzweise Abgaben von seinen Untergebenen erheben, was wiederum seine Beliebtheit untergrub.

Viele Anhänger zweifeln mittlerweile am Heilsnarrativ des IS und versuchen zu fliehen. Von einst neun Millionen Einwohnern des "Islamischen Staates" verblieben bis zum Sommer 2016 nur sechs Millionen. Deserteure gelten als "Verräter" und werden auf öffentlichen Plätzen hingerichtet, um andere Ausstiegswillige abzuschrecken.

Terroranschläge wie am 13. November 2015 in Paris und 2016 in Brüssel, in Orlando, in Nizza und im Irak haben dem "Islamischen Staat" wieder internationale Aufmerksamkeit beschert. Sie sind allerdings kein Beleg der Stärke, sondern eher Zeichen des Niedergangs. Sein euphorisches Versprechen eines permanent expandierenden Kalifats, das alle menschengeschaffenen Staatsgrenzen einreißen und die Muslime vereinigen werde, ist gescheitert. Aber als apokalyptische Endzeitsekte und als Terrororganisation kann der IS möglicherweise noch fortbestehen.


Stephan Rosiny

Weiterführende Literatur: Stephan Rosiny, "Des Kalifen neue Kleider": Der Islamische Staat in Irak und Syrien, GIGA Focus Nahost, 06/2014
Externer Link: www.giga-hamburg.de/de/system/files/publications/gf_nahost_1406.pdf

Dschihadisten verengen den Dschihad (arab.; wörtl.: Anstrengung) auf eine Gewaltstrategie, die auch vor dem Töten von Zivilisten und anderen Muslimen, die nicht ihrem Islambild folgen, nicht Halt macht. Im Islamverständnis der Dschihadisten gelten andere Richtungen im Islam, wie etwa die Schiiten, als "Abtrünnige". Sie sehen sich selbst in einem "globalen Dschihad", sozusagen in einem "heiligen Krieg" gegen die Ungläubigen. Obwohl sie zahlenmäßig eine kleine Gruppe innerhalb der Muslime und selbst innerhalb des Islamismus nur eine Minderheit darstellen, prägen sie aufgrund ihrer destruktiven Gewaltstrategien heute die negative Außenwahrnehmung des Islam und des Islamismus.

Diese Gewalt gegen Unschuldige im Namen der Religion lehnen die allermeisten Muslime und Islamisten strikt ab. Gemäßigte Islamisten, wie etwa die 1928 gegründete ägyptische Muslimbruderschaft, wollen ihre eigenen Gesellschaften nicht durch Gewalt, sondern durch Bildung, Sozialeinrichtungen und Wirtschaftsförderung schrittweise reformieren. Sie unterhalten hierfür Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Institutionen der Wirtschaftsförderung, wie Genossenschaften oder Kleinkreditprogramme. Dies verstehen sie als ihren Dschihad, ihre Anstrengung, ein gottgefälliges Leben zu führen, ihre Gesellschaften zu verbessern und sich individuell selbst zu perfektionieren. Sie sind aufgeschlossen gegenüber Aspekten der westlichen Moderne wie Demokratie, Meinungsfreiheit, Bürgerrechten und Zivilgesellschaft, soweit diese nach ihrer Ansicht mit der Scharia, der islamischen normativen Ordnung, vereinbar sind.

QuellentextDie Muslimbruderschaft

Vielen gilt die 1928 von Hassan al-Banna gegründete ägyptische Muslimbruderschaft als die Mutterorganisation der islamistischen Bewegung. Zunächst wurde die Gruppe als eine Wohlfahrtsorganisation gegründet. Sie wollte die Lebensbedingungen der ägyptischen Bevölkerung verbessern, die sich unter der britischen Vorherrschaft verschlechtert hatten. Dazu betrieb sie Schulen und Krankenhäuser und zielte gleichzeitig darauf, Erwachsene durch islamische Bildung zu besseren Muslimen zu erziehen und dem Verfall der Sitten entgegenzutreten, den al-Banna ebenfalls der Kolonialherrschaft der Briten zuschrieb. Ihn leitete die Vision einer auf "guten" Muslimen basierenden idealen Gesellschaft, in der die ethischen Prinzipien der Scharia, vor allem soziale Gerechtigkeit, verwirklicht sein sollten.

Im Laufe der Jahrzehnte politisierte sich die Muslimbruderschaft. Den Rahmen hierfür boten in den 1940er-Jahren der Zweite Weltkrieg, die erstarkende ägyptische nationalistische Bewegung und die Gründung Israels 1948. Die Muslimbruderschaft, die stark gewachsen war, begann ihre Anhängerschaft auch für politische Zwecke zu mobilisieren, vor allem in Form von Demonstrationen, aber auch in Form gewalttätiger Aktionen. Sie gründete einen paramilitärischen Apparat, um gegen die Briten in der Suezkanalzone und gegen Zionisten im heutigen Israel vorzugehen. Einen tödlichen Anschlag auf den probritischen ägyptischen Premierminister 1948 beantwortete das Regime allerdings mit der Ermordung Hassan al-Bannas 1949.

Dies stürzte die Muslimbruderschaft in eine Krise, die sich verschärfte, als kurz darauf, 1952, die politischen Spannungen der 1940er-Jahre in den Putsch der "Freien Offiziere" unter Gamal Abdel Nasser mündeten. Er schaffte die probritische Monarchie ab, wurde Präsident und verfolgte die Muslimbruderschaft unerbittlich. Die Organisation, die zu einem beachtlichen politischen Konkurrenten herangewachsen war, wurde fast gänzlich zerschlagen.

Erst nach Nassers Tod 1970, unter dessen Nachfolger Anwar al-Sadat, endete die Zeit der Verfolgung. Sie hinterließ die Muslimbruderschaft jedoch verändert: Sie lehnte nun Gewalt als Strategie ab und beschränkte sich auf Missionierungs- und Wohlfahrtsarbeit wie zu ihren Anfangszeiten. Doch schon bald wurde der unpolitische Kurs Gegenstand interner Kontroversen. Unter dem Eindruck der islamischen Revolution im Iran 1978/79 wollten einige Muslimbrüder gezielten Einfluss auf die ägyptische Politik nehmen. Der Richtungsstreit entschied sich nach der Ermordung Sadats 1981, als es der zunächst tolerante Kurs von Sadats Nachfolger, Hosni Mubarak, der Muslimbruderschaft erstmals ermöglichte, sich am formalen politischen Prozess zu beteiligen. Seit 1984 nahm die Gruppe regelmäßig an Parlamentswahlen teil und entwickelte sich zu einem professionellen politischen Akteur. Voraussetzung für diese Duldung seitens des Regimes war jedoch die weiterhin konsequente Absage der Muslimbruderschaft an jegliche Gewalt.

Für die Gruppe begann nun ein rasanter Aufstieg, 2005 wurde sie größte Oppositionskraft im Parlament. Ihre Stärke gewann sie vor allem durch ihre Doppelfunktion als Wohlfahrts- und Missionierungsorganisation einerseits und als politische Gruppierung andererseits. Denn die Muslimbruderschaft konnte durch ihre soziale Arbeit nicht nur in den Städten, sondern bis in die kleinsten Dörfer hinein ein weites Netz an Unterstützern aufbauen.

Als im Zuge des Arabischen Frühlings Mubarak 2011 gestürzt wurde, konnte die Muslimbruderschaft von dieser Popularität profitieren. In der nächsten Parlamentswahl wurde sie die stärkste Kraft, und ihr Kandidat Mohammed Mursi gewann die Präsidentschaftswahl 2012. Die Gruppe trat für einen "zivilen (nicht theokratischen, bzw. durch den Klerus geführten) Staat mit islamischem Referenzrahmen" ein. In diesem sollten demokratische Kernelemente wie Machtrotation durch regelmäßige Wahlen und Gewaltenteilung umgesetzt werden. Jedoch sahen die Muslimbrüder keinen freiheitlich-demokratischen Staat vor, da der "islamische Referenzrahmen" auch bedeuten sollte, im Bereich der öffentlichen Moral und dem Verhältnis von Mann und Frau strikte Regeln der Scharia zu befolgen, in denen insbesondere Freiheitsrechte von Frauen hätten eingeschränkt werden können.

Die Regierungszeit der Muslimbrüder währte nur kurz und endete abrupt: Im Juni 2013 demonstrierten unzufriedene Bürger in Massen vor allem gegen das wirtschaftliche "Versagen" der Muslimbrüder und forderten Mursis Rücktritt. Als dieser sich weigerte, stürzte ihn das Militär. Seither wird die Gruppe erneut massiv verfolgt und ist erstmals auch gesellschaftlich isoliert. Beides zeigt Konsequenzen: Kleine Muslimbrüder-Einheiten begehen Gewaltakte gegen Infrastruktur und den Sicherheitsapparat, und auch die Führung der Muslimbrüder ist zunehmend zwiegespalten in der Frage, ob der Einsatz von Gewalt im Kampf gegen das neue ägyptische Regime legitim ist. Möglicherweise steht eine erneute Radikalisierung der Gruppe bevor.


Annette Ranko


Weiterführende Literatur: Annette Ranko, Die Muslimbruderschaft – Porträt einer mächtigen Verbindung. Hamburg: edition Körber-Stiftung 2013

Die ideellen Wurzeln dieses reformerischen Islamismus liegen im Islamischen Modernismus. Dessen Vertreter Jamal ad-Din al-Afghani (1838/39–1897) und Mohammed Abduh (1849–1905) interpretierten die religiösen Quellen neu, den Gegebenheiten ihrer Zeit angepasst. Ihr Ziel war es, die Region gegen die ökonomisch, politisch und militärisch überlegenen europäischen Kolonialmächte zu stärken, indem sie westliche Errungenschaften wie Militärwesen, Demokratie und moderne Wissenschaften mit dem Islam versöhnen wollten.

Als europäische Mächte nach dem Ersten Weltkrieg auch noch die ostarabischen Staaten besetzten und die jüdische Besiedlung Palästinas sowie die Staatsgründung Israels förderten, stieß dies in der einheimischen Bevölkerung auf breite Ablehnung, auf Gegenwehr sowohl arabisch-nationalistischer als auch islamistischer Bewegungen. Diese wollten den Islam zur Basis der Gesellschaftsordnung und des politischen Systems erheben, um der politischen Vorherrschaft und "kulturellen Invasion" des Westens mit authentischen "islamischen Werten" zu begegnen.

Als die meisten arabischen Staaten bis Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erlangten, übernahmen zunächst säkulare nationalistische und sozialistische Regime die Macht. Sie verloren allerdings an Ansehen, weil sie zunehmend autoritär herrschten und weil es ihnen nicht gelang, ihre Gesellschaften nachhaltig zu entwickeln und die Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit, Fortschritt und wirtschaftlichem Aufstieg zu erfüllen.

Seit Ende der 1960er-Jahre – die arabische Niederlage gegen Israel im Nahostkrieg von 1967 (Dritter Nahostkrieg) gilt hier als Scheidepunkt – gewannen deshalb Islamisten an Zulauf. Unter der Parole "Der Islam ist die Lösung" kritisieren sie seither die bestehenden "korrupten" Regime und den Verfall moralischer Werte. Außenpolitisch wenden sie sich gegen die westliche (und bis zum Zerfall der Sowjetunion 1990 die östliche) Einflussnahme auf ihre Gesellschaften. "Weder West noch Ost" lautete etwa eine Parole der Iranischen Revolution von 1979, in deren Folge erstmals in der Neuzeit ein islamisches politisches System, die "Islamische Republik Iran" errichtet wurde. Der schiitische Islamismus, wie er in der "Islamischen Revolution" in Iran und im "Islamischen Widerstand" der Hisbollah im Libanon gegen die israelische Besatzung des Südlibanon (1978–2000) zum Tragen kam, greift das rebellisch-revolutionäre Element von Imam al-Husain, dem Enkel des Propheten, wieder auf.

Bis zum Arabischen Frühling im Jahr 2011 blieben sunnitisch-islamistische Bewegungen und Parteien in den meisten arabischen Ländern verboten oder unter Kontrolle der autoritären Regime. Reform-Islamisten, wie etwa die ägyptische Muslimbruderschaft, hatten sich bereits zuvor an Protesten gegen die autokratischen Herrscher beteiligt, und viele Menschen erhofften sich von ihnen eine grundlegende Reform von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit den Umbrüchen des Arabischen Frühlings erlebten sie deshalb Aufwind und wurden bei ersten freien Wahlen in Tunesien, Ägypten und Marokko 2011 jeweils stärkste Partei. Die Ägypter bestimmten den Muslimbruder Mohammed Mursi im Juni 2012 zum ersten frei gewählten Präsidenten. Salafistische Bewegungen nutzten die neuen politischen Freiräume des Arabischen Frühlings, indem sie offen auf eine Islamisierung der Gesellschaften gemäß ihres ultra-konservativen Religionsverständnisses drängten.

Der politische Islam erlebt nach seinem größten Triumph im Arabischen Frühling mittlerweile eine tiefe Krise. Seine Anhänger sind entlang konfessioneller Identitäten in sunnitische und schiitische Bewegungen entzweit, das sunnitische Lager ist zusätzlich in Muslimbrüder, Salafisten und Dschihadisten gespalten. Diese Richtungen konkurrieren um Wahrheitsanspruch und Anhänger, und sie bekämpfen sich teilweise sogar mit Waffengewalt. Manche der gewählten islamistischen Parteien haben die hohen in sie gesteckten Erwartungen an politische Partizipation und wirtschaftlichen Aufschwung nicht erfüllen können. Als die Armee im Juli 2013 gegen die Muslimbruderschaft in Ägypten putschte, erntete sie dafür große Zustimmung in der Bevölkerung.

Werden konfessionelle und ideologische Gegensätze das islamistische Lager weiter spalten und schwächen, oder wird es moderaten Islamisten gelingen, ein pluralistisches Islamverständnis zu entwickeln, breite, inklusive, politische Koalitionen zu schmieden und eine optimistische Vision für eine bessere Zukunft ihrer Gesellschaften zu entwerfen? Welchen Einfluss werden Salafisten und Dschihadisten auf die nahöstliche Staatenwelt ausüben, und kann sich der historisch und in der Gegenwart kulturell vielfältig gelebte und theologisch mannigfaltig gedeutete Islam gegen diese fundamentalistischen Richtungen behaupten? Die weitere politische Entwicklung in der Region ist eng mit diesen Fragen verknüpft.

Dr. Stephan Rosiny ist Politik- und Islamwissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost-Studien. Zuvor war er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Islamwissenschaft der FU Berlin tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Machtteilung in multiethnischen Gesellschaften; politischer Islam/Islamismus, Sunna-Schia-Verhältnis sowie das Verhältnis von Religion und Gewalt.
Kontakt: E-Mail Link: rosinys@hotmail.com