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Verhältnis zum Staat im historischen Überblick

Wolfram Kinzig

/ 8 Minuten zu lesen

Im frühmittelalterlichen West- und Mitteleuropa führte die christliche Mission in Verbindung mit der Herausbildung des Frankenreichs als der dominierenden politischen Macht dazu, dass das Christentum die älteren keltischen und germanischen Religionen verdrängen und sich als Hegemonialreligion etablieren konnte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Erzbischöfen von Berlin (Georg Kardinal Sterzinsky), Köln (Joachim Kardinal Meisner) und der Apostolischen Nuntius in Deutschland (Erzbischof Erwin Josef Ender, von links nach rechts) beim Festgottesdienst anlässlich des 80. Geburtstages von Papst Benedikt XVI. in Berlin 2007 (© picture-alliance/AP)

Lateinische Kirche und weltliche Macht

Die Christianisierung Europas hatte weitreichende historische Folgen, die bis auf den heutigen Tag auch in Deutschland spürbar sind. In der Vorstellung derer, die im Einflussbereich der lateinischen Kirche standen (lateinische Kirche mit Zentrum Rom - im Gegensatz zur oströmischen, griechisch-orthodoxen Kirche mit Zentrum Byzanz), wurde Europa nahezu deckungsgleich mit dem "christlichen Abendland". Diese Sichtweise blendet jedoch aus, dass nicht einmal das Abendland im Sinne des europäischen Westens, geschweige denn Europa als Ganzes ausschließlich christlich gewesen ist. Auch in Westeuropa hat immer das Judentum in, mit und neben dem Christentum existiert. Außerdem stand über mehr als sieben Jahrhunderte, von 711 bis 1492, die Iberische Halbinsel unter arabischer Herrschaft bzw. arabischem Einfluss. Mehr noch: Als das letzte "Maurische Reich" in Spanien 1492 fiel, waren die ebenfalls islamischen Türken schon weit nach Südosteuropa hinein vorgestoßen und beherrschten Griechenland und große Teile des Balkans. Dies hatte nicht nur politische und religiöse, sondern auch kulturelle Konsequenzen: In der Architektur der Iberischen Halbinsel sind bis heute die Einflüsse der islamisch-maurischen Kultur deutlich erkennbar. Und auch die christliche Theologie des Mittelalters wurde von den muslimischen Arabern in ihrem Nachdenken über Gott erheblich befruchtet. Gleichzeitig definierte sich das Christentum bis in die Moderne hinein im Gegenüber zu Judentum und Islam.

Dabei war es bis zur Reformation im Abendland kaum strittig, dass die lateinische Christenheit die einzig legitime Form des Christentums darstellte. Religiösen Dissidenten, die immer wieder auftraten (etwa Katharer, Waldenser, John Wyclif, Jan Hus), gelang es nicht, langfristig alternative Formen des Christentums zu begründen. Es fehlte ihnen der notwendige strukturelle Rückhalt, um der rigorosen Unterdrückung seitens der etablierten Kirche wirkungsvollen Widerstand entgegenzusetzen. Auch die orthodoxen Kirchen nahm die lateinische Kirche nur am Rande des Gesichtsfeldes wahr und nur dann, wenn dies den eigenen kirchenpolitischen Hegemonialbestrebungen dienlich war.

Die lateinische Kirche war durch ein hierarchisches und territoriales Denken gekennzeichnet: Die Gläubigen waren nach dem Parochialprinzip organisiert, das heißt der jeweiligen Ortsgemeinde zugeordnet. Eine Reihe von Pfarreien (Parochien) bildete eine Diözese, die einem Bischof unterstand, dessen Entscheidungen Letztverbindlichkeit zukam. Die Diözesen wiederum wurden in größeren Einheiten (den Kirchenprovinzen=Erzdiözesen) zusammengefasst, die von Erzbischöfen (Metropoliten) geleitet wurden. Bischöfe wie Erzbischöfe mussten ihre Herrschaft in dem komplexen Spannungsfeld zwischen Territorialfürsten, Zentralgewalt (Kaiser) und Papst stets neu austarieren. Die Spannungen, die sich oft an der Einsetzung (Investitur) von Bischöfen entzündeten, eskalierten immer wieder neu, am spektakulärsten im so genannten Investiturstreit (1074-1122), der im Jahre 1077 zum Bußgang des deutschen Königs Heinrich IV. nach Canossa und zu seiner Unterwerfung unter Papst Gregor VII. führte.

Abgesehen von diesen Streitigkeiten war das etablierte religiöse System in ganz West- und Mitteleuropa erstaunlich stabil und hat dementsprechend auch das kulturelle Gedächtnis in Form von Literatur, Musik und bildender Kunst maßgeblich geprägt. Dies galt somit auch für Deutschland, das als eigenständiges Territorium bis in das 19. Jahrhundert hinein überhaupt nicht existierte, sondern einen nur vage definierten Teil einer größeren politischen Einheit, des Heiligen Römischen Reiches, bildete.

Veränderungen durch die Reformation

Erst im 16. Jahrhundert sollte sich durch die Reformation die religiöse Landkarte des Abendlandes völlig verändern. Eine Voraussetzung hierfür war die territoriale Zersplitterung des Reiches. Seit dem Mittelalter war es durch das Erstarken von Partikulargewalten (Reichsfürsten, Freie Reichsstädte) bei gleichzeitiger Schwächung der zentralen Regierung faktisch in eine Vielzahl von Territorien zerfallen, die weitgehend eigenständig regiert wurden. Dies verlieh Deutschland bis zur Besetzung seiner linksrheinischen Gebiete durch Napoleon 1801 und der anschließenden territorialen Neuordnung im Reichsdeputationshauptschluss 1803 das Aussehen eines Flickenteppichs.

Der territoriale Partikularismus verschärfte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts durch eine konfessionelle Spaltung infolge der fortdauernden Differenzen zwischen Altgläubigen (Katholiken, v. griech.: katholikos = allgemein, umfassend) und Protestanten (Wortbegriff abgeleitet vom Protest der evangelischen Stände auf dem Reichstag zu Speyer 1529 gegen die vom Reich verordnete Rekatholisierung in den Ländern, welche die Reformation eingeführt hatten). Nunmehr gab es neben den Altgläubigen Lutheraner und Calvinisten (Reformierte) sowie eine Reihe von kleineren konfessionellen Gruppen und Grüppchen, und die Fürsten orientierten sich in ihrer Politik unter anderem an der Konfession, der sie selbst anhingen. Diese konfessionelle Spaltung Deutschlands wurde im Augsburger Religionsfrieden von 1555 durch die Einführung des landesherrlichen Kirchenregiments zementiert: Seither war im Wesentlichen das Bekenntnis der Fürsten für die Konfession ihrer Untertanen ausschlaggebend (Prinzip des "cuius regio eius religio"). Dieses System wurde im Westfälischen Frieden von 1648 festgeschrieben, der die konfessionellen Grenzen im Reich endgültig fixierte.

Konfessionsverteilung um 1555

In den protestantischen Territorien war dabei der Fürst gleichzeitig der oberste Bischof (summus episcopus) der jeweiligen Landeskirche, während in den katholischen Gebieten die Kirche weiterhin in einem komplizierten Miteinander von Fürst, Episkopat und Papst regiert wurde.

Trotz aller politischen Umwälzungen, die etwa die Französische Revolution von 1789, die napoleonische Herrschaft mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches (1806) und die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 mit sich brachten, änderte sich an diesem rechtlichen Zustand nur wenig. Er blieb bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg und der Einführung der Weimarer Reichsverfassung im Jahre 1919 im Wesentlichen bestehen.

Allerdings wurde die konfessionelle Situation im 19. Jahrhundert noch dadurch komplizierter, dass in einigen deutschen Staaten - letztlich angestoßen durch den preußischen König Friedrich Wilhelm III. - Unionen zwischen Reformierten und Lutheranern eingeführt wurden, die sich aber nicht in ganz Deutschland durchsetzten und jeweils unterschiedlichen Charakter trugen. So entwickelten sich im 19. Jahrhundert mehrere Typen von Union: von der reinen Verwaltungsunion, bei der Lutheraner und Reformierte durch eine gemeinsame Administration geleitet werden, aber ansonsten ihre je eigenen gottesdienstlichen Formen und Bekenntnisse beibehalten (Beispiel: Lippische Landeskirche), bis hin zur Konsensus- oder Bekenntnisunion, die sich auf ein gemeinsames Bekenntnis stützt (Beispiele: Pfalz, Baden). So sind derzeit 13 der 22 Kirchen der EKD (siehe S. 7) in der einen oder anderen Weise uniert. Faktisch entstand dadurch eine dritte, in der Praxis recht diffuse protestantische Konfession.

Entwicklung seit der Weimarer Republik

In der Weimarer Verfassung von 1919 kam das landesherrliche Kirchenregiment zu seinem Ende. Art. 137 stellte ausdrücklich fest: "Es besteht keine Staatskirche." Die Kirchen galten nunmehr als "Religionsgesellschaften" und unterlagen damit im Prinzip dem Vereinsrecht (Art. 124 [1]). Dennoch gab es eine Reihe von Sonderregelungen, die in Art. 135-141 in einem eigenen Abschnitt "Religion und Religionsgesellschaften" festgehalten wurden. Hierzu gehörten unter anderem

  • die Verfassung der Religionsgesellschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art. 137 [5]);

  • die Freiheit der Selbstverwaltung (Art. 137 [3]);

  • die Zusage der Glaubens- und der Gewissensfreiheit und das Recht zur ungestörten Religionsausübung unter Beteiligung der Religionsgesellschaften, auch im Heer, in Krankenhäusern, Gefängnissen und sonstigen öffentlichen Anstalten (Art. 135; 137; 140; 141);

  • die strikte Trennung von Religionszugehörigkeit und Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie Zulassung zu öffentlichen Ämtern (Art. 136);

  • das Recht zum Einzug der Kirchensteuer (Art. 137 [6]);

  • das Recht auf Eigentum (Art. 138);

  • der Schutz des Sonntags und der staatlich anerkannten Feiertage (Art. 139).

Der Religionsunterricht wurde an allen Schulen - mit Ausnahme der "bekenntnisfreien (weltlichen)" Schulen - als ordentliches Lehrfach "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft" unter Aufsicht des Staates eingeführt. Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen blieben erhalten (Art. 149).

Darüber hinaus erhielten die Religionsgesellschaften weiterhin Staatsleistungen, sofern sie hierauf durch Gesetz, Vertrag oder besondere Rechtstitel einen Anspruch hatten (Art. 138, 173).

Die katholische Kirche hatte im Kaiserreich zeitweise unter erheblichem Druck gestanden, weil der preußische und damit protestantisch dominierte Staat die antiliberalen Tendenzen innerhalb der Kurie, wie sie sich unter anderem im Unfehlbarkeitsdogma des I. Vatikanischen Konzils (1869/70) manifestierten, mit erheblichem Misstrauen betrachtet und auch die Kontrolle über die Bistümer auszudehnen versucht hatte (so genannter Kulturkampf, 1871-87). Durch die neuen gesetzlichen Regelungen sowie durch eine geschickte Kirchenpolitik gelang es der katholischen Kirche nun nach 1919, ihre Selbstständigkeit zu behaupten und weiter auszubauen.

Die Bemühungen um eine rechtliche Sicherung der Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich wurden durch eine Reihe von Länderkonkordaten (Bayern 1924, Preußen 1929, Baden 1932), vor allem aber durch das Reichskonkordat im Sommer 1933 gekrönt, das bereits in die Zeit des Nationalsozialismus fiel. Die mittlerweile eingetretenen politischen Veränderungen warfen indessen neue Probleme auf. Eugenio Pacelli, der als päpstlicher Nuntius und Kardinalstaatssekretär die Konkordate ausgehandelt hatte, blieb als Papst Pius XII. (ab 1939) in seiner äußeren Haltung zum NS-Regime umstritten. Dies darf aber nicht isoliert gesehen werden. Manche Bischöfe, allen voran der "Löwe von Münster", Clemens August Graf von Galen, nutzten die erreichten Spielräume, um nachdrücklich gegen Maßnahmen des NS-Regimes zu protestieren. Der Münchener Kardinal Michael von Faulhaber entwarf die Enzyklika "Mit brennender Sorge" (1937), in der Papst Pius XI. gegen die Machthaber in Deutschland seine Stimme erhob.

Die evangelischen Landeskirchen sahen in der Weimarer Republik den kirchenpolitischen Entwicklungen zeitweise hilflos zu oder versuchten, in herkömmlicher Weise mit dem Staat zu paktieren. Zwar kam es zu einer Reihe von Kirchenverträgen zwischen mehreren evangelischen Landeskirchen und den deutschen Ländern, die - wie die Konkordate - bis heute Gültigkeit haben (Bayern 1924, Preußen 1931, Baden 1932, wobei die heutigen Bundesländer Rechtsnachfolger sind). Aber die evangelischen Kirchen begaben sich in mehr oder weniger starke Abhängigkeit von den jeweils herrschenden politischen Mächten, was auf der institutionellen Ebene in der weitgehenden Unfähigkeit gipfelte, dem nationalsozialistischen Gewaltstaat wirkungsvollen Widerstand zu leisten. Der oppositionellen so genannten Bekennenden Kirche fehlten unter den Bedingungen des Terrorregimes der Mut, die organisatorischen Möglichkeiten und der breite Rückhalt in der Bevölkerung, um der Mitwirkungs- und Anpassungsstrategie der NS-treuen "Deutschen Christen" Einhalt zu gebieten oder die systematische Ermordung von Jüdinnen und Juden zu verhindern. Öffentliche Proteste (Paul Schneider) oder gar die Mitwirkung an Attentats- und Umsturzplänen (Dietrich Bonhoeffer) blieben die Ausnahme.

Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war darüber hinaus in den evangelischen Kirchen stärker als im Katholizismus ein Entkirchlichungs-, ja Entchristianisierungsprozess erkennbar geworden. Er lässt sich nicht nur an einer bis dahin unbekannten Distanz zur Institution Kirche, sondern auch an der steigenden Popularität atheistischer Positionen ablesen, die häufig sozialphilosophisch oder naturwissenschaftlich begründet wurden. Am drastischsten war die Situation in Berlin: Hier besuchten um 1850 lediglich etwa fünf Prozent der Stadtbevölkerung den Gottesdienst. Als 1874 in Preußen die Zivilehe eingeführt wurde, ging die Zahl der kirchlichen Trauungen auf 20 Prozent zurück; auch wurde nur noch die Hälfte der Kinder getauft.

Die Gründe für diesen zunehmenden Prozess der Säkularisierung, der heute von vielen Historikern und Philosophen als ein entscheidendes Merkmal der Aufklärung gesehen wird, sind vielschichtig und können hier nicht im Detail erörtert werden. Hierzu zählen unter anderem

  • politische Faktoren wie die Nähe der Kirchen zu restaurativen und antiliberalen Tendenzen innerhalb der Obrigkeiten, die in Teilen der Bevölkerung, vor allem unter der Arbeiterschaft, antikirchliche Reaktionen auslösten oder bestehende Entfremdungen verstärkten;

  • die Verelendung der Arbeiterschaft infolge einer ungezügelten Industrialisierung, auf die die Kirchen nur unzureichende Antworten zu geben vermochten;

  • neue Erkenntnisse der Theologie und Philosophie, welche die Gewissheit in die historische Zuverlässigkeit der biblischen Schriften erschütterten und

  • neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse - vor allem die Entstehung des Darwinismus -, welche die jahrhundertealten christlichen Erklärungsmuster für die Entstehung von Welt und Mensch in Frage stellten.

Somit ist die Distanz zu Kirche und Christentum, wie sie in bestimmten bundesdeutschen Milieus zu beobachten ist, kein neues Phänomen. Sie begleitet vielmehr die Kirchengeschichte seit über zwei Jahrhunderten. Diesen Trend konnten auch die Erschütterungen zweier Weltkriege nur zeitweise aufhalten.