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1650-1815: Territorialstaat und Schutzjudentum | bpb.de

1650-1815: Territorialstaat und Schutzjudentum

Prof. em. Dr. Arno Herzig Arno Herzig

/ 15 Minuten zu lesen

Moses Mendelssohn (1729-1786) war der bedeutendste jüdische Aufklärer und Philosoph seiner Zeit. (© Wikimedia)

Wachstum und neue jüdische Zentren

Nach dem Dreißigjährigen Krieg stieg die Zahl jüdischer Einwohner in Deutschland wieder an, etwa neun Zehntel von ihnen lebten nach 1650 in Kleinstädten und Dörfern, also im ländlichen Bereich. In Baden, Württemberg, Hessen, der bayerischen Pfalz, in Franken und Westfalen hatten sich circa 30 Landjudenschaften herausgebildet. In Norddeutschland ermöglichten der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg und die Landesherren von Holstein die Zuwanderung von Juden aus dem Osten. Als 1670 die Juden aus Wien ausgewiesen wurden, sorgte der Große Kurfürst dafür, dass sich die Wohlhabenden unter ihnen in Berlin ansiedeln konnten, wo seit 100 Jahren keine Juden mehr wohnen durften. Auch die nach 1648 aus Polen geflüchteten Juden fanden in Brandenburg und Holstein eine Bleibe.

Ein neues jüdisches Zentrum bildete sich im Hamburger Raum, wo die Grafen von Schaumburg und später dann die dänischen Könige Juden im damals noch selbstständigen Altona günstige Privilegien verliehen. Einigen von ihnen gelang es, auch in Hamburg Fuß zu fassen, doch die Bürgerschaft der Hansestadt stellte die Niederlassung der Juden immer wieder in Frage. Trotz der Schwierigkeiten konnte sich jedoch 1671 unter dem Altonaer Oberrabbinat die Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek mit einer voll entwickelten jüdischen Infrastruktur bilden, die für die künftige Entwicklung der Juden in Deutschland von großer Bedeutung sein sollte.

Die Sefarden in Hamburg

Eine Besonderheit bildeten in Hamburg um 1600 die Sefarden. Dabei handelte es sich um so genannte Conversos, die in Spanien und Portugal nach 1492 zum Christentum gezwungen worden waren, aber wegen der fortgesetzten Verfolgungen durch die Inquisition nach Amsterdam und Hamburg ausgewandert und dort zum Judentum zurückgekehrt waren. Während sie sich in Amsterdam als Juden frei entfalten konnten - wovon noch heute die prächtige portugiesische Synagoge zeugt -, waren sie in Hamburg Einschränkungen unterworfen. Eine Synagoge durften sie nicht errichten, einen Friedhof konnten sie 1611 nur im benachbarten Altona erwerben.

Die Sefarden definierten sich primär über ihre ethnische Herkunft bzw. soziale Stellung, weniger über ihre jüdische Religion, so dass sie zur aschkenasischen Gemeinde in Altona und Hamburg Distanz wahrten und bis zu ihrer Vernichtung unter dem NS-Regime eine eigene Gemeinde bildeten.

Nicht selten adliger Herkunft verdankten diese sozial hochrangigen Bankiers, Makler, Juweliere, Kaufleute und Ärzte ihre herausragende Stellung vielfach der Position als Residenten oder Konsuln auswärtiger Staaten. Da sie mit ihren Handelsbeziehungen über Spanien in die Neue Welt der Hansestadt nach 1600 zu einem wirtschaftlichen Aufschwung verhalfen, versuchte der Hamburger Rat sie gegen den Widerstand der lutherischen Bürgerschaft in der Stadt zu halten. Der adlige Lebensstil dieser Gruppe und ihre internationalen Verbindungen, auch zu den spanischen Conversos, erregten den Neid und den Hass der einfachen Hanseaten. Im 18. Jahrhundert wanderten deshalb die meisten Hamburger Sefarden nach Amsterdam aus, wo ihnen günstigere Lebensbedingungen geboten wurden.

Einschränkung und Schutz: die Judenordnungen

Wie die Reichsstadt Hamburg so versuchten auch die Territorialherren durch so genannte Judenordnungen das Leben der Juden in ihren Staaten zu regeln und zu schützen. Dies war allerdings mit großen Einschränkungen verbunden. So legten sie die jüdischen Sonderabgaben fest, schränkten die Freizügigkeit ein, verboten weitgehend den Grundbesitz sowie den Zugang zu den Zunftberufen und Kaufmannsgilden. Auch das religiöse Leben bestimmten sie, indem sie den Bau von Synagogen einschränkten und öffentliche Umzüge der Juden untersagten. Für den Landesherren war es günstiger, wenn die Juden eine Korporation, eine geschlossene Gemeinschaft, bildeten, da er von ihnen auf diese Weise eine Gesamtsteuer und weitere Abgaben verlangen konnte. Die Verteilung hatte die Judenheit unter sich zu regeln. Meist bestellte der Territorialherr jedoch auch einen so genannten Judenvorgänger oder -hauptmann, der vielfach von der Landjudenschaft abgelehnt wurde, da er zu stark sowohl die Interessen des Landesherrn als auch seine eigenen vertrat. Als Korporation musste die Landjudenschaft zudem solidarisch für die Vergehen einzelner Mitglieder haften. Die Aufteilung der Steuersummen auf die einzelnen Mitglieder erfolgte auf den so genannten Judenlandtagen, bei Konflikten vermittelte der Landesrabbiner.

Die für die Entwicklung der Juden in Deutschland wichtigste Judenordnung erließ 1750 der preußische König Friedrich II. (Reg.: 1740-1786). Diese Ordnung privilegierte die Mitglieder der Judenschaft je nach ihrer ökonomischen Stellung unterschiedlich und differenzierte sie damit sozial. Dabei ging es dem König primär darum, die reichen Juden als Fabrik- und Manufakturbesitzer zu fördern, die ärmeren aber möglichst aus seinem Land zu verdrängen. An erster Stelle standen die Generalprivilegierten, die den christlichen Kaufleuten gleichgestellt waren und als Bankiers, Münzstättenverwalter oder aber Manufakturisten für die wirtschaftliche Entwicklung größten Nutzen hatten. Als weitere bevorzugte Gruppe galten die ordentlichen Schutzjuden, deren erstgeborene Kinder ebenfalls "vergeleitet" (also mit einem Geleitbrief zu ihrem Schutz versehen) wurden. So erhielt der älteste Sohn mit dem Schutz das Recht, im Land zu leben, der Zweitgeborene aber musste für diesen Status hohe Summen und Sonderabgaben zahlen. Dann folgten die außerordentlichen Schutzjuden, deren Kinder nicht vergeleitet wurden, so dass sie in der Regel bei Volljährigkeit das Land verlassen mussten. Außerhalb der eigentlich vergeleiteten Judenschaft standen die Bediensteten, eine sozial nicht genau bestimmbare Gruppe, bei der es sich häufig um nichtvergeleitete Familienmitglieder oder Mitarbeiter in einflussreichen ökonomischen Positionen handeln konnte, wie das Beispiel Moses Mendelssohn zeigt. Als einer der führenden Philosophen in Preußen war er hauptberuflich als Prokurist in der Seidenmanufaktur des Isaak Bernhard in Berlin beschäftigt und gehörte gleichsam zu dessen Familie. Mendelssohn und seine Frau wurde das außerordentliche Schutzjudenprivileg nur auf Fürsprache anderer Gelehrter in Anerkennung seiner Gelehrsamkeit verliehen. Das Bleiberecht für seine Kinder wurde ihm erst viel später und gegen Zahlung gewährt. Die jüdische Unterschicht stellten die Armen/Verarmten, die von den jüdischen Gemeinden mitgetragen, häufig aber ausgewiesen wurden und sich den herumziehenden Bettlerscharen anschlossen. Dabei glitten sie nicht selten ins kriminelle Milieu ab.

Hoffaktoren - die jüdische Oberschicht

Im Gegensatz zum mittelalterlichen Fernhandel bzw. dem damaligen Stadthandel für das Umland stand im Zeitalter des Merkantilismus die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Territoriums im Vordergrund. Nach Wunsch der Landesherren sollte die Produktion im eigenen Land gesteigert, die geschaffenen Güter aber sollten ins "Ausland" exportiert werden. Dazu griffen sie auch dirigistisch in die Wirtschaftsabläufe ein. Für die Juden erschlossen sich dabei ertragreiche Tätigkeitsfelder; so für die Generalprivilegierten bzw. Hoffaktoren oder Hofagenten der Handel mit den Fürstenhöfen. Ihre Aufgabe bestand weitgehend in der Warenbeschaffung, Kreditvermittlung, Münzherstellung, bisweilen auch in diplomatischen und politischen Diensten, was nicht ohne Gefahr war. Dies belegt das Schicksal des württembergischen Hofagenten Joseph Süß Oppenheimer. Seine Vorrangstellung unter Herzog Carl Alexander büßte er unter dem Druck der Stände nach dessen Tod 1737 mit der Hinrichtung. Doch war das eher die Ausnahme, denn die Fürsten waren auf die Kredite der Hoffaktoren angewiesen.

QuellentextJoseph Süß Oppenheimer

Auf welch dünnem Eis und vor welch tiefem Abgrund die Hofjuden agierten, belegt exemplarisch der Fall des Joseph Süß Oppenheimer, dessen Geschichte die Menschen schon zu seinen Lebzeiten ungeheuer erregt hat. Während des Nationalsozialismus wurde Oppenheimer im Auftrag des Propagandaministers Goebbels gar zum dämonischen Juden schlechthin stilisiert und erlangte in dem antisemitischen Agitationsfilm "Jud Süß" des Regisseurs Veit Harlan traurige Berühmtheit.
Oppenheimer, erst mit dem Tag seiner Verhaftung im Jahr 1737 in herabsetzender Absicht zum "Jud Süß" gemacht, zählt wohl zu den bekanntesten Gestalten in der Geschichte der deutschen Juden. 1698 geboren, kann sein Aufstieg zum Bankier, zum württembergischen Geheimen Finanzrat und zum engen Vertrauten des Herzogs Carl Alexander von Württemberg das gefährliche Spannungsverhältnis gut veranschaulichen, in das die Hofjuden zur Zeit des kleinstaatlichen Absolutismus notwendig geraten mussten. An jedem Erfolg hafteten zugleich die Spuren des Unheils, und Oppenheimer war sehr erfolgreich: Er modernisierte das württembergische Finanzwesen, schaffte die alten Privilegien der Ständevertreter ab und sanierte den Staatshaushalt; doch mit jedem Anwachsen der Staatskasse nahm auch die Zahl der Neider und Gegner zu. Als der Herzog 1737 überraschend stirbt, ist Oppenheimer der Rache seiner Feinde schutzlos ausgeliefert. Er wird festgenommen und nach einem äußerst fragwürdigen Prozess zum Tode verurteilt.
Dieser Prozess, schnell angezettelt, schlecht vorbereitet und immer am Rande des offenen Justizskandals, offenbart die Mentalitäten und Mächte, denen Joseph Süß zum Opfer fiel. Da ihm keinerlei finanzielles oder politisches Vergehen nachgewiesen werden konnte, war es am Ende die pure Feindseligkeit, die ihn an den Galgen brachte: In den Augen seiner Ankläger gebührte dem "lüsternen Verführer", dem "kaltblütigen Geschäftsmann", dem "Freidenker" und nicht zuletzt dem "Juden" der Strick. Am Morgen des 4. Februars 1738 starb Joseph Oppenheimer am höchsten Galgen des Deutschen Reiches. Über 1200 Schaulustige, mehr als die Hälfte der Stuttgarter Bevölkerung, machten seine Hinrichtung zu einem grausigen Fest.

Ingke Brodersen, Rüdiger Dammann, Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland, Bonn 2007, S. 77 f.

Schon seit dem 17. Jahrhundert heirateten die Hoffaktorenfamilien untereinander, um auf diese Weise ein Netz für die Kreditbeschaffung bzw. -sicherung herzustellen. Doch reichten diese Verbindungen wiederum nicht so weit, dass es bei nicht eingehaltenen fürstlichen Verpflichtungen zu einer solidarischen Kreditverweigerung gekommen wäre. Dafür war die Konkurrenzsituation zu stark.

Unter den jüdischen Unternehmern profilierten sich auch einige Frauen. So in Hamburg Glikl Hameln, die aufschlussreiche Memoiren hinterließ. Nach dem Tod ihres Mannes 1689 führte sie erfolgreich das Geschäft mit Gold, Silber, Edelsteinen, Geld und Unzenperlen. Ihre 13 Kinder verheiratete sie strategisch geschickt mit Kindern der Hofagentenfamilien. An der Hochzeit ihrer Tochter Zippora mit dem klevischen Hofagenten Kosman Gomperz 1674 nahm sogar der preußische Prinz und spätere König Friedrich (I.) teil. Unter den erfolgreichen Hofagenten in Berlin, Kassel, München und Mainz befanden sich mindestens sieben Frauen, darunter die durch ihren Aufstieg aus kleinen Verhältnissen zu einer einflussreichen Finanzagentin bekannte Karoline Raphael, genannt "Madame Kaulla". Vielfach passten sich die jüdischen Hofagenten dem höfischen Lebensstil in Kleidung und Haartracht an, gaben aber ihre Verbindungen zu den jüdischen Gemeinden ihres Landes nicht auf. Für diese erreichten sie beim Fürsten manche Privilegien. Im Übergang von der Ständegesellschaft zur kapitalistischen Klassengesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnten sich viele Hoffaktoren im Bankgeschäft etablieren. Manche stiegen in den Adel auf, mussten aber dafür zuvor zum Christentum konvertieren.

QuellentextGlikl von Hameln

Glikl bas Juda Leib (1646/47 - 1724) oder, wie sie lange genannt wurde, Glückel von Hameln ist zweifellos die prominenteste Frau der deutsch-jüdischen frühen Neuzeit. Dies hat, wie sollte es anders sein, mit ihrer "Medienpräsenz" zu tun. Seit dem Erscheinen ihres unbetitelten autobiografischen Textes in der jiddischen Druckausgabe von 1896 sind ihre Erinnerungen (Sichroines) im deutschen und englischen Sprachraum in Übersetzung und in vielen Auflagen von Juden und Nichtjuden gelesen worden.[...]
Geboren wurde Glikl in Hamburg als dritte Tochter des angesehenen und wohlhabenden Kaufmanns Juda Leib und seiner Frau Bele, der Tochter des Nathan Melrich. [...] Als knapp Zwölfjährige wurde Glikl mit dem wenig älteren Chaim verlobt, dem jüngsten Sohn des wohlhabenden Kaufmanns Josef Hameln alias Jobst Goldschmidt. Zwei Jahre später (zirka 1659/1660) fand die Hochzeit statt, und das junge Paar lebte zunächst [...] in Hameln [...].
Es waren vor allem ökonomische Gründe, die Chaim und Glikl jedoch schon bald nach Hamburg zogen: Sie wollten sich in der aufblühenden Hafen- und Handelsstadt selbstständig machen. [...] Chaim startete einen erfolgreichen Handel mit Goldketten und Glikl bekam mit 16 Jahren ihr erstes Kind; im Abstand von jeweils etwa zwei Jahren folgten 13 weitere Kinder, von denen zwölf das Erwachsenenalter erreichten. [...] Ihren Handel erweiterten Chaim und Glikl auf Gold, Silber, Edelsteine, Geld und Unzenperlen, [...] der oft kränkliche Chaim ging regelmäßig auf Reisen, nach Amsterdam und auf die Messen in Leipzig und Frankfurt. [...] 1689 starb er unerwartet und hinterließ Glikl mit acht unverheirateten Kindern und der vollen Verantwortung für das Geschäft.
Um jedem Zweifel an ihrer Kreditwürdigkeit zuvorzukommen, veranstaltete Glikl eine Versteigerung und bezahlte aus dem Gewinn alle Schulden. Anschließend führte sie ein Ladengeschäft, in dem sie lokale Waren und Importe aus Holland anbot, Unzenperlen aufkaufte, sortierte und dann wieder verkaufte, Geldleihe und Wechselgeschäfte betrieb; auf den Messen in Leipzig und Braunschweig kaufte sie Waren ein, immer begleitet von einem ihrer älteren Söhne. [...] Ferner gründete sie eine Strumpfmanufaktur mit angeschlossenem Handel. Sie war so erfolgreich, dass sie an der Hamburger Börse 20000 Reichstaler Kredit hätte haben können. [...] Sie starb 1724 mit 78 Jahren, nachdem sie bereits 1719 das Schreiben an ihrem autobiografischen Text beendet hatte. [...]
Im Schreiben fand sie eine Ausdrucksmöglichkeit für ihre Trauer, für ihre Einsamkeit in der großen Verantwortung für acht unmündige Kinder. Kinder und Enkel sind ihre Adressaten. [...] Als Frau, Mutter und Kauffrau schrieb Glikl über andere Dinge als ein - meist männlicher - Gelehrter. Im Zentrum dieser weiblichen Perspektive stehen die Familie, die Kinder, die alltäglichen Herausforderungen durch das Geschäft. Zugleich eine Religiosität, die anders als bei den Männern nicht geprägt war durch gemeinschaftliches Lernen, Studieren und Beten, sondern in ihrer spezifisch weiblichen Form und angesichts von Schicksalsschlägen einen sehr individuellen und selbstbewussten Dialog mit Gott offenbart. [...]
[Wir finden] bei Glikl Nichtjuden ausschließlich an der Peripherie. Sie gehören einer anderen Welt an [...]. Sie sind wichtig, weil sie Macht und Herrschaft repräsentieren [...] und gefährlich als Urheber individueller oder kollektiver Gewalttaten gegen Juden. Doch dies verleitet Glikl nicht zu einer undifferenzierten Schwarz-Weiß-Malerei. Sie schildert auch Begebenheiten, bei denen sie positive Erfahrungen mit Nichtjuden machte, [...]. Ihre Distanz zu Nichtjuden bleibt bei aller Anerkennung jedoch immer spürbar, [...].
Glikl zeigt sich uns als eine sehr individuelle Schriftstellerin, als kluge Beobachterin der Gesellschaft ihrer Zeit und als selbstbewusst handelnde und denkende, dabei auch mit Gott argumentierende Persönlichkeit. Es sind die literarische Vielseitigkeit, der Blick aufs Alltagsleben und Einstellungen, auf Religiosität und Wirtschaftsgebaren, auf Personen, Familien und Gesellschaft, die an ihrem Werk noch heute faszinieren.

Rotraud Ries, Glikl: Der Blick einer jüdischen Frau auf die Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Arno Herzig / Cay Rademacher, Die Geschichte der Juden in Deutschland, Hamburg 2007, S. 66ff.

Händler - die jüdische Mittelschicht

Unterhalb der jüdischen Oberschicht bildete sich ein jüdischer Mittelstand, dessen Mitglieder außerhalb der Zunftwirtschaft im Manufakturgewerbe und im Handel mit Kolonialprodukten sowie als Zwischenhändler neue Tätigkeitsbereiche fanden. Ihre Risikobereitschaft und die damit verbundenen Erfolge riefen wiederholt Kritik und auch Feindseligkeit sowohl der etablierten Kaufmannschaft wie der einfachen Bevölkerung hervor. Diese vertraten den Grundsatz, dass erst die Versorgung der Bevölkerung sicher gestellt werden müsse, bevor Lebensmittel ins "Ausland" verkauft werden dürften. Verstießen die Exporteure dagegen, kam es zu sozialem Protest, die Protestierenden verteilten die Exportgüter zum "gerechten Preis" unter sich. Mitunter konnte diese Verteilung in Plünderungen ausarten, wie 1699 in Bamberg. Hier drang das "liederliche Gesindel" - so die Bezeichnung im amtlichen Protokoll - in die Häuser der jüdischen Zwischenhändler ein und zerstörte deren Inventar. Trotz Militäreinsatz setzte sich der Protest bis ins Umland fort, wo sich ihm die Bauern anschlossen, die den in ihren Dörfern wohnenden Juden Geld, Gold und Schmuck wegnahmen, weil es sich angeblich um Wuchergut handele. Die bischöfliche Regierung versuchte die Situation zu retten, indem sie eine "Einschränkung der Juden-Gewerbschaften" verfügte. Doch dies erwies sich als kurzsichtig und führte zum Zusammenbruch der Agrarwirtschaft im Bamberger Land. Die Bauern konnten ihr Vieh nicht mehr wie bisher an die jüdischen Viehhändler verkaufen. 1713 musste deshalb eine bischöfliche Verordnung das Scheitern dieser Politik eingestehen und einräumen: "Was die Christen nicht führen und handeln können oder wollen, absonderlich auf dem Land, das solle dem Juden erlaubt seyn".

Unterstützung der jüdischen Unterschicht

Mochte eine respektable Gruppe des jüdischen Mittelstands relativ wohlhabend sein, so existierte doch auch eine Unterschicht, die durch Klein-, Trödel- und Hausierhandel ihr Dasein fristete und ständig in Gefahr lebte, in Armut und damit Schutzlosigkeit abzusteigen. Zu den Grundsätzen jüdischer Ethik gehört die Mildtätigkeit, zu der sowohl die Gemeinde wie der Einzelne verpflichtet sind. Als nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-63) immer mehr Juden verarmten, da von den Juden hohe Sonderabgaben verlangt wurden und der Handel unter den Kriegszügen litt, kam auf die Gemeinden eine schwere Aufgabe zu. Deutlich wird dies am Beispiel der kleinen jüdischen Gemeinde im fränkischen (Reichsdorf!) Gochsheim nahe Schweinfurt. Obwohl das Gesamtvermögen der dortigen 26 jüdischen Haushalte in den 1780er Jahren nur 7200 Gulden betrug, versorgten und beköstigten sie im Laufe des Jahres 1200 jüdische Bettler und Bettlerinnen, die in das Dorf kamen. Für diese Unterstützungsmaßnahmen wandten sie einen Betrag von 350 Gulden auf, immerhin fünf Prozent des Gesamtvermögens aller Mitglieder dieser Gemeinde, wobei die Hilfe für die in der eigenen Gemeinde wohnenden Bedürftigen noch nicht einmal berücksichtigt war.

Letztlich ist dies auch ein Beweis dafür, wie gut das soziale und geistliche Leben der Landgemeinden funktionierte und sich weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen entfalten konnte. Garantierte im Mittelalter die städtische Gemeinde die Infrastruktur der Judenheit, so war es nun der Verband der Landgemeinden, die zumeist in den Grenzen des frühneuzeitlichen Territorialstaates zusammengeschlossen waren. Diese Landjudenschaften besaßen ihre eigenen Selbstverwaltungsorgane mit einem Obervorsteher an der Spitze, der auf den so genannten Judenlandtagen durch die männlichen Gemeindemitglieder gewählt wurde.

Kontroversen und Verunsicherungen

War das deutsche Judentum in seiner Gemeinde- und Verwaltungsstruktur gefestigt, so fehlte es doch nicht an inneren Verunsicherungen, in denen alte Ängste auflebten und in messianische Erwartungen umschlugen. Viele Juden in Deutschland - sogar die Sefarden in Hamburg - sahen in dem 1665 in der Türkei auftretenden Sabbatai Zwi den Messias. Ihre Hoffnungen schlugen allerdings in Enttäuschung um, als Sabbatai zum Islam übertrat. Dennoch bildete sich eine kleine jüdische Sekte, die weiterhin an ihn als Messias glaubte, aber nur als Geheimsekte agieren konnte. Zum Konflikt wegen Sabbatai Zwi und zu einer neuen Krise des Judentums in Deutschland kam es jedoch erst 100 Jahre nach seinem Auftreten im so genannten Hamburger Amulettenstreit. Dem im aschkenasischen Judentum hochangesehenen Oberrabbiner der Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek Jonathan Eibeschütz warf in den 1750er Jahren der in Altona lebende Talmudist und Druckereibesitzer Jakob Emden vor, im Geheimen die Irrlehren des Pseudomessias Sabbatai Zwi zu verbreiten. Eibeschütz hatte angeblich an Schwangere Amulette mit Sabbataiischen Symbolen verteilt. Dies führte zu einer mehrjährigen Kontroverse, in die zahlreiche aschkenasische Rabbiner in Deutschland und Polen auf der einen oder anderen Seite verstrickt waren. Die Folge war eine Spaltung des traditionellen Judentums und ein Ansehensverlust des Rabbinerstandes. Dieser war bereits in der Frühaufklärung in die Kritik geraten, da viele Rabbiner, vor allem diejenigen aus Osteuropa, das Judentum als geschlossenes kulturelles System vermittelten, das sich gegen die europäische Kultur abschottete. Diese Rabbiner ließen nur das durch Talmud, Tora und die Responsen tradierte Wissen gelten und sperrten sich gegen die europäische Aufklärung, die im 18. Jahrhundert zu einem enormen Aufschwung der Naturwissenschaften und der Philosophie führte. Im Gegensatz zum sefardischen Judentum stand das traditionelle aschkenasische Judentum dieser Entwicklung distanziert gegenüber.

Antijudaismus im 18. Jahrhundert

Allerdings war auch die deutsche bzw. europäische christliche Gesellschaft bei aller Begeisterung für die Aufklärung dem Judentum gegenüber nicht toleranter geworden. In allen drei christlichen Konfessionen, im Katholizismus, Luthertum und Calvinismus, herrschte eine latente Judenfeindschaft, die sich sowohl im gelehrten Schrifttum wie in gelegentlichen antijüdischen Aktionen zeigte. Im katholischen Volk glaubte man nach wie vor an die Blutschuldlüge sowie an den von Juden angeblich begangenen Hostienfrevel und pilgerte zu den entsprechenden Wallfahrtsorten, wie ins bayerische Deggendorf sowie ins niederösterreichische Pulkau; die Kirche sprach die angeblich von Juden ermordeten Kinder selig. Die protestantischen Christen wiederum warfen den Juden vor, das Christentum zu verspotten, indem diese die Dreifaltigkeit Gottes als Vielgötterei ansahen und auf die uneheliche Geburt Jesu hinwiesen. Noch im 18. Jahrhundert kam es in protestantischen Gemeinden zu lokalen Verfolgungen von Juden, wie beispielsweise im westfälischen Iserlohn. Dort wurden die Juden zum Opfer der Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Calvinisten, in denen die Lutheraner den Calvinisten vorwarfen, diese teilten den Zweifel der Juden an der Auferstehung Jesu. Dass ein solches Einverständnis nicht gegeben war, belegt jedoch das 1711 auf Veranlassung eines calvinistischen Landesherrn gedruckte Werk "Entdecktes Judenthum". Dessen Autor, der calvinistische Heidelberger Orientalist Johann Andreas Eisenmenger, lieferte auch künftigen Generationen durch seine aus dem Zusammenhang gerissenen Talmud-Zitate pseudowissenschaftliche Argumente gegen das Judentum. Selbst der Vorwurf der Brunnenvergiftung und des Ritualmords wurde hier nach wie vor vertreten.

Impulse der Aufklärung

Doch im Zeichen der Aufklärung trat eine kleine Gruppe von Dichtern und Autoren der traditionellen Judenfeindschaft entgegen. In Romanen und auf der Bühne stellten sie Juden nun nicht mehr - wie bis dahin üblich - als Schurken dar, sondern als normale (oder gar) vorbildliche Menschen. Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing schuf mit seinem Werk "Nathan der Weise" 1779 das Modell eines gelungenen Umgangs der großen Weltreligionen miteinander. In seiner Ringparabel werden alle Religionen als gleichrangig angesehen und beweisen ihren inneren Wert und ihre Wahrheit durch die Menschlichkeit, die sie den anderen erweisen. Es ist ein Schlüsseltext der religiösen Toleranz, der sich allerdings nur eine kleine Schar verpflichtet fühlte. Auch im politischen Raum wurden Modelle für eine allmähliche Gleichstellung der Juden in der Gesamtgesellschaft entwickelt. Das in dieser Beziehung epochale Werk "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" verfasste auf Bitte seines Freundes Moses Mendelssohn 1781 der preußische Beamte Christian Wilhelm von Dohm. Schon der Titel macht deutlich, dass Dohm nicht für die sofortige Gleichstellung, also Emanzipation, der Juden eintrat. Erst wenn die Juden sich in ihrer Sozialstruktur der christlichen Mehrheitsgesellschaft angepasst hätten, sollten sie die volle Gleichberechtigung erlangen. Dohm forderte deshalb die Öffnung auch der zünftischen Handwerksberufe für jüdische Anwärter. Als Anhänger des Physiokratismus, der die Schaffung von Mehrwert nur durch die Landwirtschaft gewährleistet sah, verlangte er vor allem den Zugang zu den bäuerlichen Berufen, in denen damals die meisten Beschäftigten arbeiteten. Skeptisch stand er den Handelsberufen gegenüber. In die inneren Angelegenheiten des Judentums, auch was die Stellung der Rabbiner betraf, sollten sich Staat und Gesellschaft seiner Meinung nach nicht einmischen.

QuellentextChristian Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781)

Nur der Pöbel, der es für erlaubt hält, einen Juden zu hintergehen, gibt ihm schuld, daß er nach seinem Gesetze fremde Glaubensgenossen (Leute anderen Glaubens) betrügen dürfe, und nur verfolgungssüchtige Priester haben Märchen von den Vorurteilen der Juden gesammelt, die nur ihre eigenen beweisen. Die der Menschlichkeit und der Politik gleich widersprechenden Grundsätze der Ausschließung, welche das Gepräge der finsteren Jahrhunderte tragen, sind der Aufklärung unserer Zeit unwürdig und verdienen schon längst nicht mehr befolgt zu werden.
Unseren fest gegründeten Staaten müsste jeder Bürger willkommen sein, der die Gesetze beobachtet und durch seinen Fleiß den Reichtum des Staates vermehrt. Auch der Jude hat auf diesen Genuß, auf diese Liebe Anspruch. Seine Religion macht ihn ihrer nicht unwürdig, da er bei ihrer strengsten Befolgung ein sehr guter Bürger sein kann. Ich wage es, selbst die standhafte Anhänglichkeit an die nach ihrem Glauben ihren Vätern verliehene Lehre von Gott dem jüdischen Charakter als einen guten Zug anzurechnen. Was der Christ Blindheit und verstockte Hartnäckigkeit nennt, ist beim Juden standhafte Beharrlichkeit bei dem, was er einmal als göttliches Gebot glaubt. Wer kann sich versagen, den Juden hochzuachten, den keine Marter bewegen konnte, von seiner Religionsvorschrift abzugehen, und den Nichtswürdigen zu verachten, der um des Vorteils willen sich (von ihr) lossagt und den christlichen Glauben mit den Lippen bekennt?
Schon allein die Anhänglichkeit an den uralten Glauben gibt dem Charakter der Juden eine Festigkeit, die auch zur Bildung ihrer Moralität überhaupt vorteilhaft ist. Ihre Armen fallen dem Staate nicht zur Last; die ganze Gemeinde nimmt sich ihrer an. Das häusliche Leben genießen sie mit mehr Einfachheit. Sie sind meistens gute Ehemänner und Hausväter. Der Luxus ist auch unter ihren Reichen noch lange nicht soweit gestiegen, als bei den Christen von gleichem Vermögen. Dem Staate sind sie überall ergeben, und sie haben oft in Gefahren einen Eifer bewiesen, den man von so wenig begünstigten Gliedern der Gesellschaft nicht erwarten sollte.

Julius Höxter, Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur, hg. u. erg. von Michael Tilly, Wiesbaden 2009, S. 481

Die Reaktion auf Dohms Schrift in Deutschland, auf die er in der Neufassung von 1783 einging, zeigt einerseits, wie klein die aufgeklärte Elite war, die sich mit Dohms Vorschlägen befasste, andererseits aber auch, wieweit selbst diese noch geistig von seinen Vorstellungen entfernt war. Es wurden Vorbehalte geäußert, die bis weit ins 19. Jahrhundert immer wiederkehren: beispielsweise das Argument, in einem "christlichen Staat" dürften Juden kein Amt ausüben, oder der Hinweis auf die jüdischen "Sondereigenheiten". Deutlich wird in dieser Diskussion, dass die deutschen Aufklärer nicht bereit waren, Juden als Juden zu akzeptieren. Sie sollten ihre jüdische Sprache, ihr Äußeres, ihre Geschäftspraktiken, ihre orthodoxe Religionsauffassung ablegen und sich "nach den Sitten der Christen umbilden", wie es 1788 der aufgeklärte Schriftsteller Freiherr Knigge in seinem Buch "Über den Umgang mit Menschen", einem für Generationen gültigen Anstandsbuch, formulierte. Hier wird deutlich ausgesprochen, was dann unter der bürgerlichen Gleichheitsforderung zum Problem werden sollte: die Unfähigkeit, Minderheiten und ihre Subkultur zu tolerieren.

Die jüdische "Insonderheit", so sahen es wie Dohm die meisten deutschen Aufklärer, war verursacht worden durch die Einschränkungen, die die christliche Gesellschaft den Juden auferlegt hatte. Sie war zu beseitigen, wenn man diese Einschränkungen aufhob und die Juden in einem allmählichen Entwicklungsprozess an die durch die Aufklärung bestimmte Gesellschaftsordnung anglich. Trotz aller Einschränkungen und Vorbehalte ermöglichte die Gesellschaft damit aber, zumindest in der Theorie, den Juden eine seit Jahrhunderten verwehrte Integration in die Allgemeingesellschaft.

Moses Mendelssohn - ein jüdischer Aufklärer

Auch im Judentum fand das durch die Vernunft bestimmte Denken Anhänger. Diese erlangten vor allem in Berlin Zugang zu den bürgerlichen Aufklärungszirkeln. Vielfach waren es jüdische Frauen, in deren Salons sich jüdische wie christliche Intellektuelle, Bürgerliche und Adlige versammelten. Die jüdischen Aufklärer, so genannte Maskilim, wurden zu Trägern eines neuen philosophischen Verständnisses jüdischer Kultur. Auch das orthodoxe Judentum, wie es sich vor allem durch die Rabbiner präsentierte, wurde hinterfragt. Der bedeutendste der Maskilim, Moses Mendelssohn, vertrat wie die christlichen Aufklärer die Auffassung, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft Gott erkenne, nicht aber durch die göttliche Offenbarung (Glaube). Mit seinem Werk wie zum Beispiel dem "Phaidon oder die Unsterblichkeit der Seele" (1767) hatte er großen Einfluss auf die zeitgenössische Philosophie, so dass er sogar zum Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde. Der preußische König Friedrich II. verweigerte allerdings die Bestätigung. Der jüdischen Gemeinde und den Geboten des Judentums blieb Mendelssohn treu. Im Gegensatz zu Dohms Forderung kritisierte er allerdings die Macht der Rabbiner im Judentum, beispielsweise ihre Möglichkeit, Gemeindemitglieder durch den Bann auszuschließen.

QuellentextJüdische Gesetze und bürgerliche Vereinigung

Und noch itzt kann dem Hause Jakobs kein weiserer Rat erteilt werden als ebendieser. Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion eurer Väter. Traget beider Lasten, so gut ihr könnet! Man erschweret euch zwar von der einen Seite die Bürde des bürgerlichen Lebens, um der Religion willen, der ihr treu bleibet, und von der andern Seite macht das Klima und die Zeiten die Beobachtung eurer Religionsgesetze, in mancher Betrachtung, lästiger, als sie sind. Haltet nichtsdestoweniger aus, stehet unerschüttert auf dem Standorte, den euch die Vorsehung angewiesen, und lasset alles über euch ergehen, wie euch eurer Gesetzgeber lange vorher verkündiget hat. [...]
Und ihr, lieben Brüder und Mitmenschen! Die ihr der Lehre Jesu folget, solltet uns verargen, wenn wir das tun, was der Stifter eurer Religion selbst getan [...] hat? Ihr solltet glauben, uns nicht bürgerlich wieder lieben, euch mit uns nicht brüderlich vereinigen zu können, solange wir uns durch das Zeremonialgesetz äußerlich unterscheiden, nicht mit euch essen, nicht von euch heiraten, das, soviel wir einsehen können, der Stifter eurer Religion selbst weder getan, noch uns erlaubt haben würde? - Wenn dieses, wie wir von christlich gesinnten Männern nicht vermuten können, eure wahre Gesinnung sein und bleiben sollte; wenn die bürgerliche Vereinigung unter keiner andern Bedingung zu erhalten, als wenn wir von dem Gesetze abweichen, das wir für uns noch für verbindlich halten; so tut es uns herzlich leid, was wir zu erklären für nötig erachten; so müssen wir lieber auf bürgerliche Vereinigung Verzicht tun.

Moses Mendelssohn: Schriften über Religion und Aufklärung, Berlin 1989. S. 451ff. Zitiert nach: Geschichte aus erster Hand: Aschkenas - Zur jüdischen Geschichte Deutschlands, Schwalbach 2004. S. 21

Das Zusammenleben von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheitsgesellschaft stellte sich für die jüdischen Aufklärer des ausgehenden 18. Jahrhunderts problemlos dar: Die jüdische Nation sollte sich auf der Basis ihrer Vernunftreligion, wie sie Mendelssohn vertrat, zu moralisch vorbildlichen Bürgern und nützlichen Gliedern des Staates entwickeln. In Freischulen, die auf Initiative der jüdischen Aufklärer hin gegründet wurden, sollten jüdische Kinder aller Schichten in allgemein bildenden Fächern und jüdischer Religionslehre für ihr Berufsleben erzogen werden. Und sie sollten sich, wie Dohm es forderte, in ihrer Sozialstruktur der Allgemeingesellschaft anpassen. Hier vertrat allerdings Mendelssohn, im Gegensatz zu Dohm, die Auffassung, dass der Handelsberuf durchaus nützlich und deshalb nicht aufzugeben sei. Dem jüdischen Bürgertum in Deutschland wäre im 19. Jahrhundert wohl kaum der beispiellose soziale und kulturelle Aufstieg gelungen, hätten nicht die Maskilim den Weg dafür vorbereitet. Es sollte allerdings noch Generationen dauern, bis die Gleichstellung der Juden schrittweise in die Realität umgesetzt wurde.

Unvollendete Emanzipation

Einen ersten Schritt tat Kaiser Joseph II. 1782 in seinen österreichischen Kronländern. Sein Toleranzedikt hob, je nach Landesteil unterschiedlich, das Niederlassungsverbot für Juden auf. Sie durften Handwerke erlernen und sich in freien Berufen betätigen. Zudem sollten jüdische Kinder die öffentlichen Schulen besuchen. Hatten in Frankreich 1791 die Juden die volle Gleichstellung erreicht, so galt dieses Recht auch für alle deutschen Territorien, die nach der Französischen Revolution unter direkter Herrschaft Frankreichs standen bzw. als so genannte Modellstaaten das französische Recht übernahmen, wie beispielsweise seit 1808 das Großherzogtum Berg mit Düsseldorf als Metropole sowie das Königreich Westphalen mit Kassel als Hauptstadt. Inzwischen hatte allerdings Napoleon I. 1808 durch sein "Schändliches Dekret" die Gleichstellung für Juden insofern geschmälert, als er deren Handel unter staatliche Aufsicht gestellt und ihre Mobilität eingeschränkt hatte. Napoleon I. berief 1806 eine jüdische Notablenversammlung (Notablen, durch Bildung, Rang und Vermögen ausgezeichnete Mitglieder der bürgerlichen Oberschicht in Frankreich) ein, die die Rolle des Judentums im Staat definieren sollte. Sein jüngster Bruder Jerôme richtete als König von Westphalen in Kassel ein jüdisches Konsistorium unter dem ehemaligen Hofagenten Israel Jacobson ein, das das jüdische Gemeindeleben zentral organisieren sollte. Die anderen nicht von Frankreich abhängigen deutschen Staaten folgten mit einer mehr oder weniger weitreichenden Tolerierung ihrer Juden. Preußen erließ für die ihm nach dem Frieden von Tilsit verbliebenen Provinzen 1812 ein eingeschränktes Emanzipationsedikt, das die Juden zu "Einländern und preußischen Staatsbürgern" erklärte. Zwar sollte ihre Zulassung zu öffentlichen und staatlichen Ämtern erst durch eine spätere Gesetzgebung festgelegt werden, doch konnten sie sich damit uneingeschränkt wirtschaftlich betätigen, um nach der preußischen Niederlage von 1806 zum Wiederaufbau des Staates beizutragen. Dennoch erfüllten die in mehreren deutschen Staaten nach 1800 erlassenen so genannten Emanzipationsgesetze nicht die Forderungen der Aufklärung.

QuellentextToleranzpatent Kaiser Josephs II. von 1782

Wir, Joseph der Zweite, von Gottes Gnaden erwählter Röm. Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches, König in Germanien, Ungarn und Böhmen usw. [...] entbieten jedermann Unsere Gnade und geben euch hiermit gnädigst zu vernehmen:
Vom Antritt Unserer Regierung an haben Wir es einen Unserer vorzüglichsten Augenmerke sein lassen, daß alle Unsere Untertanen ohne Unterschied der Nation und Religion, sobald sie in Unseren Staaten aufgenommen und geduldet sind, an dem öffentlichen Wohlstande, den Wir durch Unsere Sorgfalt zu vergrößern wünschen, gemeinschaftlichen Anteil nehmen, eine gesetzmäßige Freiheit genießen und auf jedem ehrbaren Wege zur Erwerbung ihres Unterhalts und Vergrößerung der allgemeinen Emsigkeit kein Hindernis finden sollten. [...]

7. Es bestehen demnach die Vergünstigungen, welche der jüdischen Nation durch gegenwärtige Abänderung, wodurch die letzte Judenordnung vom 5. Mai 1764 ganz außer Kraft gesetzt wird, zufließen, in folgenden:
Da Wir die jüdische Nation hauptsächlich durch besseren Unterricht und Aufklärung ihrer Jugend und durch Hinwendung auf Wissenschaften, Künste und Handwerke dem Staate nützlicher und brauchbarer zu machen, zum Ziele nehmen, so erlauben und befehlen Wir

8. gnädigst den tolerierten Juden in jenen Orten, wo sie keine eigenen deutschen Schulen haben, ihre Kinder in die christlichen Normal- und Realschulen zu schicken, um in diesen wenigstens das Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. [...]

10. Zur Erleichterung ihres künftigen Unterhalts [...] gestatten Wir ihnen gnädigst, daß sie von nun an alle Gattungen von Handwerken und Gewerben [...] bei christlichen Meistern, allenfalls auch unter sich selbst, erlernen [...] können [...].

15. Bei so vielen der Judenschaft eröffneten Erwerbswegen und dem dadurch entspringenden mannigfaltigeren Zusammenhange mit Christen fordert die Sorgfalt für die Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Zutrauens, daß die hebräisch und hebräisch mit deutsch vermengte, sogenannte jüdische Sprache und Schrift abgeschafft werde [...], an deren Statt sich künftig der landesüblichen Sprachen zu bedienen ist [...].

18. Durch gegenwärtige Verordnung kommen Wir von der bisherigen Beschränkung auf bestimmte Judenhäuser ab und erlauben den tolerierten Juden, eigene Wohnungen sowohl in der Stadt als in den Vorstädten nach ihrer Willkür zu mieten. [...]

24. überhaupt alle bisher gewöhnlichen Merkmale und Unterscheidungen, wie das Tragen der Bärte, das Verbot, an Sonn- und Feiertagen vor zwölf Uhr nicht auszugehen, öffentliche Belustigungsorte zu besuchen und dergleichen, [werden] aufgehoben. Im Gegenteile wird den Großhändlern und ihren Söhnen, sowie den Honoratioren, auch Degen zu tragen erlaubt.

Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur, hg. u. erg. von Michael Tilly, Wiesbaden 2009, S. 485 ff.

QuellentextEdikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate vom 11. März 1812

Wir, Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden, König in Preußen usw., haben beschlossen, den jüdischen Glaubensgenossen in unserer Monarchie eine neue, der allgemeinen Wohlfahrt angemessene Verfassung zu erteilen, erklären alle bisherigen, durch das gegenwärtige Edikt nicht bestätigten Gesetze und Vorschriften für die Juden für aufgehoben und verordnen wie folgt:

§ 1. Die in Unsern Staaten jetzt wohnhaften, mit Generalprivilegien, Naturalisationspatenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien sind für Inländer und preußische Staatsbürger zu achten.

§ 2. Die Fortdauer dieser ihnen beigelegten Eigenschaft als Inländer und Staatsbürger wird aber nur unter der Verpflichtung gestattet, daß sie fest bestimmte Familiennamen führen und daß sie nicht nur bei Führung ihrer Handelsbücher, sondern auch bei Abfassung ihrer Verträge und rechtlichen Willenserklärung der deutschen oder einer anderen lebenden Sprache und bei ihren Namensunterschriften keiner anderen als deutscher oder lateinischer Schriftzüge sich bedienen sollen.

§ 3. Binnen sechs Monaten, von dem Tage der Publikation dieses Edikts an gerechnet, muß ein jeder geschützte oder konzessionierte Jude vor der Obrigkeit seines Wohnorts sich erklären, welchen Familiennamen er beständig führen will. Mit diesem Namen ist er sowohl in öffentlichen Verhandlungen und Ausfertigungen als im gemeinen Leben gleich einem jeden andern Staatsbürger zu benennen. [...]

§ 7. Die für Inländer zu achtenden Juden hingegen sollen, insofern diese Verordnung nichts Abweichendes enthält, gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten mit den Christen genießen.

§ 8. Sie können daher akademische Lehr- und Schul-, auch Gemeindeämter, zu welchen sie sich geschickt gemacht haben, verwalten.

§ 9. Inwiefern die Juden zu andern öffentlichen Bedienungen und Staatsämtern zugelassen werden können, behalten Wir Uns vor, in der Folge der Zeit gesetzlich zu bestimmen.

§ 10. Es stehet ihnen frei, in Städten sowohl als auf dem platten Lande sich niederzulassen.

§ 11. Sie können Grundstücke jeder Art gleich den christlichen Einwohnern erwerben, auch alle erlaubten Gewerbe mit Beobachtung der allgemeinen gesetzlichen Vorschriften treiben. [...]

§ 14. Mit besonderen Abgaben dürfen die inländischen Juden als solche nicht beschwert werden.

§ 15. Sie sind aber gehalten, alle den Christen gegen den Staat und die Gemeine ihres Wohnorts obliegenden bürgerlichen Pflichten zu erfüllen und, mit Ausnahme der Stolgebühren [Abgaben für kirchliche Aufgaben, Red.], gleiche Lasten wie andere Staatsbürger zu tragen. [...]

§ 39. Die nötigen Bestimmungen wegen des kirchlichen Zustandes und der Verbesserung des Unterrichts der Juden werden vorbehalten, und es sollen bei der Erwägung derselben Männer des jüdischen Glaubensbekenntnisses, die wegen ihrer Kenntnisse und Rechtschaffenheit das öffentliche Vertrauen genießen, zugezogen und mit ihrem Gutachten vernommen werden.
(gez.) Friedrich Wilhelm

Julius Höxter, Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur, hg. u. erg. von Michael Tilly, Wiesbaden 2009, S. 508 f.

Fussnoten

lehrte am Historischen Seminar der Universität Hamburg Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Zahlreiche Forschungsprojekte und Veröffentlichungen, u. a. zur deutsch-jüdischen Geschichte, zur Reformationsgeschichte und zur Konfessionalisierung in der Frühen Neuzeit sowie zur Geschichte Schlesiens. Professor Herzig ist u. a. im Kuratorium der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts und Mitglied der Historischen Komission für Schlesien. Kontakt: arno.herzig@uni-hamburg.de