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Zwischen Tradition und Neuorientierung: die Außenpolitik

Heinz Kramer

/ 23 Minuten zu lesen

Seit 2002 hat sich Ankara von seiner Fixierung auf „den Westen“ abgekehrt und zur islamischen Welt, aber auch zuRussland und Asien hin geöffnet. Die zunehmende internationale Bedeutung der Türkei hat zudem ihren Wunsch, der EU beizutreten, deutlich gemindert.

Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan mit US-Präsident Barack Obama in Seoul 2012. (© picture-alliance/AP)

Einleitung

Türkische Außenpolitik steht seit dem Amtsantritt von Außenminister Ahmet Davutoglu im Mai 2009 verstärkt im Blickpunkt der deutschen und europäischen öffentlichen Aufmerksamkeit. Kommentatoren und Analysten rätseln, ob die Türkei sich vom Westen abwendet und eine "islamische" Richtung einschlägt. Hintergrund dieser Verunsicherung ist das deutlich gestiegene Interesse der Türkei an den Entwicklungen in der nah-/mittelöstlichen Nachbarschaft, gepaart mit dem Versuch, die Beziehungen zu diesen Ländern neu zu gestalten. Beim Blick auf diese Entwicklung wird jedoch zweierlei übersehen: Zum einen gilt die verstärkte außenpolitische Aktivität Ankaras nicht nur der "islamischen" Nachbarschaft, sondern gleichermaßen der kaspisch/zentralasiatischen, den Beziehungen zu Russland und auch der Entwicklung auf dem Balkan. Zum anderen wird zu wenig bedacht, dass türkische Außenpolitik seit jeher am nationalen Interesse ausgerichtet ist und dass sich dieses im Laufe der Republikgeschichte immer wieder einmal gewandelt hat.

"Friede daheim, Friede in der Welt"

Schon Atatürk hat für die junge Republik trotz der klaren Vorbildfunktion Europas für die Gestaltung der modernen Türkei keineswegs die außenpolitische Orientierung an und auf Europa bevorzugt. Sein Grundsatz war "Friede daheim, Friede in der Welt", das heißt der Vorrang innenpolitischer Stabilität und eine entsprechende Anpassung außenpolitischer Ziele und Verhaltensweisen. Resultat war eine Politik, die enge außen- und sicherheitspolitische Bindungen mied. Gute Beziehungen zur Sowjetunion waren genauso wichtig wie zu beiden Lagern (faschistische Staaten auf der einen, demokratische Staaten auf der anderen Seite), die sich in Europa Anfang der 1930er- Jahre immer deutlicher herausbildeten.

Nach Atatürks Tod im Jahre 1938 hielt sein Nachfolger Ismet Inönü an dieser Politik fest. Es gelang ihm durch geschicktes Lavieren zwischen den verschiedenen Mächten, die Türkei aus dem Zweiten Weltkrieg weitgehend herauszuhalten, ohne jemals offen die Neutralität zu erklären. Erst als sich der Sieg der Alliierten abzeichnete, erklärte auch die Türkei im Februar 1945 dem Deutschen Reich den Krieg und sicherte sich so die Teilnahme an der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen (VN).

Westorientierung im Kalten Krieg

Dieser Schritt erwies sich als bedeutsam für die Entwicklung der europäischen Nachkriegsordnung. Im Zuge des bald nach Kriegsende aufbrechenden Ost-West-Konflikts schlug sich Ankara auf die Seite der USA und ihrer europäischen Verbündeten. Nur so meinte Inönü die von Atatürk begründete Politik der türkischen Modernisierung nach europäischen Vorbildern erfolgreich fortsetzen zu können. Es ging ihm dabei weniger um eine Entscheidung zwischen "freier Welt" und "kommunistischem Herrschaftsbereich" als um die langfristige Existenzsicherung der kemalistischen Republik gemäß ihren Gründungsprinzipien.

Erleichtert wurde dieser Schritt durch sowjetische Forderungen gegen Kriegsende, die die in der Konvention von Mon-treux (1936) festgelegte türkische Herrschaft über die Meerengen Dardanellen und Bosporus einschränken sollten und zudem Abtretungen von türkischem Territorium im Osten des Landes an die Sowjetunion vorsahen. Als in dieser Lage die US-Regierung Griechenland und der Türkei volle Unterstützung zusicherte, war die türkische Entscheidung klar. In der Folgezeit wurde die Türkei Gründungsmitglied des Europarates und der OEEC, der späteren OECD.

Diese Politik wurde in der Zeit der parlamentarischen Mehrparteiendemokratie nach 1950 von allen Regierungen fortgesetzt. Der sich vertiefende Ost-West-Konflikt ließ der Türkei auch keine andere Wahl, sollte das kemalistische Entwicklungsziel nicht aufgegeben werden. Willig übernahm Ankara zusammen mit Griechenland im Rahmen der NATO die Rolle der räumlichen und militärischen "Barriere" gegen ein Vordringen der Sowjetunion in den Mittelmeerraum und gemeinsam mit dem Iran, Irak, Pakistan und Großbritannien im Rahmen des 1955 gegründeten Bagdad-Pakts (CENTO) gegen ein Vordringen Moskaus in den ölreichen Mittleren und Nahen Osten.

Die enge Gefolgschaft zu den USA wurde auch durch die Anerkennung Israels und die 1952 erfolgte Aufnahme diplomatischer Beziehungen deutlich. Ankara nahm dafür eine deutliche Entfremdung im Verhältnis zu den arabischen Staaten in Kauf. Im Gegenzug gewährten die USA dem Land umfangreiche Militär- und Entwicklungshilfe. Diese wurde die Grundlage für den Aufbau der türkischen Streitkräfte und die Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion. In dieser Zeit wurde die Basis für die bis heute andauernde sicherheitspolitische Sonderbeziehung zu den USA gelegt.

Die enge außen- und sicherheitspolitische Einbindung in das von den USA geführte westliche System war während des gesamten Ost-West-Konflikts Leitlinie türkischer Außenpolitik. Lediglich der Konflikt mit dem NATO-Partner Griechenland, vor allem in der Zypernfrage, bildete eine Ausnahme. Annäherungen an die Sowjetunion gegen Ende der 1960er-Jahre oder eine vorsichtige Distanzierung von der israelischen Palästinapolitik und die Mitgliedschaft in der 1969 gegründeten Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) waren Erweiterungen des außenpolitischen Horizonts, die mit Veränderungen der welt- und regionalpolitischen Konstellationen wie der Entspannung im Ost-West-Konflikt oder den Umbrüchen in der arabischen Welt zusammenhingen. Sie waren aber keine Signale für eine grundlegende Umorientierung.

All diese Entwicklungen dienten eher dem Zweck, den westlichen Bündnispartnern, vor allem den USA, die Bedeutung des türkischen Alliierten immer wieder vor Augen zu führen, die zeitweise in den innenpolitischen Turbulenzen der Türkei während der 1960er- und 1970er-Jahre mit ihren drei Militärputschen zwischen 1960 und 1980 verloren zu gehen drohte. Die Iranische Revolution und die Machtergreifung des Ajatollah Chomeini im Januar 1979 sowie die sowjetische Invasion in Afghanistan im Dezember 1979 trugen ein Übriges dazu bei, den strategischen Wert der Türkei für das westliche Bündnis zu festigen. Nicht zuletzt vor diesem internationalen Hintergrund konnte das türkische Militär im September 1980 seinen dritten Putsch durchführen, ohne größere Proteste der NATO-Verbündeten befürchten zu müssen.

Türkisch-griechische Konflikte um Zypern und die Ägäis

Belastend für die türkische Stellung im westlichen Bündnissystem wirkte sich allerdings der Zypernkonflikt aus, der bis heute nicht gelöst ist. Im Kern geht es um die Frage, wie die griechische Bevölkerungsmehrheit und die türkische Minderheit auf der Insel zusammenleben sollen. Als es im Dezember 1963 zu einem Massaker an zyperntürkischen Zivilisten durch zyperngriechische Polizeikräfte kam, das sich zu gewaltsamen Kämpfen ausweitete, drohte eine direkte militärische Konfrontation zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei.

Seit dieser sogenannten ersten Zypernkrise 1963/64 ist das absolute türkische Vertrauen in die NATO-Vormacht USA geschwunden. Der berühmte Brief, den US-Präsident Johnson im Juni 1964 an den türkischen Ministerpräsidenten Inönü schrieb, wurde in Ankara als grobe Missachtung der nationalen Interessen durch den mächtigsten Verbündeten angesehen. In diesem Schreiben hatte Johnson mitgeteilt, die Türkei könne nicht mit dem automatischen Beistand ihrer NATO-Verbündeten rechnen, wenn eine türkische Militärintervention auf Zypern die Sowjetunion zum Eingreifen veranlassen sollte. Seitdem gefährdete der türkisch-griechische Streit um die Regelung des Zusammenlebens der beiden Volksgruppen auf der Insel immer wieder den Zusammenhalt der Atlantischen Allianz.

Hinzu kamen bilaterale Konflikte zwischen Ankara und Athen über Hoheitsrechte in der Ägäis, den ägäischen Luftraum und den Status verschiedener Inseln in der Ägäis. In den bilateralen Streitfragen will die Türkei eine politische Übereinkunft zur Grundlage der Regelungen machen, während die griechische Seite, sich im Recht sehend und von der EU bestärkt, eine Schiedsentscheidung durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anstrebt. Seit der griechisch-türkischen Annäherung von 1999 führen beide Seiten vertrauliche Gespräche über die verschiedenen Punkte, ohne jedoch bis jetzt eine einvernehmliche Regelung gefunden zu haben. Doch kommt es nicht mehr zum "Beinahe-Krieg" wie noch im Januar 1996, als der Streit um die Hoheitsrechte über eine unbewohnte Mini-Insel in der Ägäis die Seestreitkräfte beider Seiten in Alarmbereitschaft versetzte.

In der Zypernfrage haben internationaler Druck und griechisches Interesse im Laufe der Zeit dazu geführt, dass die Formel der bizonalen und bikommunalen Föderation als "richtige" Lösung für das Zusammenleben der griechischen und der türkischen Volksgruppe auf der Insel von allen Seiten akzeptiert wurde. Allerdings gibt es bisher keine Einigung über die konkrete Ausgestaltung dieser Formel. Die türkische Seite befürwortet weitgehend getrennte und selbstverwaltete staatliche Einheiten der jeweiligen Volksgruppen unter dem Dach eines auf die minimal notwendigen Kompetenzen beschränkten Gesamtstaates. Die Griechen dagegen streben nach einem zyprischen Staat, in dem eine relativ starke Zentralgewalt über zwei auf die notwendigen Kompetenzen kommunaler Selbstverwaltung beschränkte Gliedstaaten herrscht. Sie sehen so ihre Mehrheitsstellung auf der Insel auch in der staatlich-institutionellen Konstruktion gewahrt, während die türkische Vorstellung vom Gedanken eines maximalen Minderheitenschutzes getragen ist.

Erschwert wird eine Einigung durch drei Umstände: die türkische militärische Besetzung eines großen Teils im Norden der Insel, den 2004 erfolgten Beitritt Zyperns zur EU und den seit Dezember 1999 laufenden türkischen Beitrittsprozess zur EU. Nachdem die gewaltsamen Konflikte von 1963 nur durch die Stationierung einer VN-Schutztruppe (UNFICYP) auf der Insel beendet werden konnten und damit die faktische Separierung der Volksgruppen begann, führte die von der griechischen Militärjunta provozierte türkische Invasion im Juli/August 1974 zur endgültigen Teilung in den türkisch besetzten Norden und die griechische Republik Zypern im Süden der Insel. Letztere wird von der internationalen Staatengemeinschaft als einzige legitime politische Vertretung der Insel anerkannt. Daran änderte auch die 1983 proklamierte Umwandlung des Nordteils in die Türkische Republik Nordzypern nichts. Sie wird nur von der Türkei anerkannt und sichert ihre Existenz durch die Anwesenheit von circa 36000 türkischen Soldaten im Norden. Seit den 1970er-Jahren hat jeder VN-Generalsekretär vergeblich versucht, die Trennung rückgängig zu machen und eine von beiden Seiten akzeptierte Regelung herbeizuführen.

Am weitesten kam dabei Generalsekretär Kofi Annan, der im Vorfeld des zyprischen EU-Beitritts im Frühjahr 2004 einen detaillierten Regelungsplan vorlegte (Annan-Plan), dem in einer getrennt in beiden Inselteilen durchgeführten Volksabstimmung am 24. April 2004 der türkische Bevölkerungsteil mit Unterstützung der AKP-Regierung mit 65 Prozent seine Zustimmung erteilte. Der Plan wurde jedoch von den griechischen Zyprern mit 76 Prozent abgelehnt. Seitdem gibt es zwar seit dem Frühjahr 2008 - wieder unter der Ägide der VN - Verhandlungen zwischen beiden Seiten, die aber bisher ohne Ergebnis blieben.

Diese Verhandlungen werden durch den am 1. Mai 2004 erfolgten Beitritt Zyperns zur EU kompliziert. Seitdem darf eine Zypernregelung in wesentlichen Punkten nicht gegen EU-Recht verstoßen, wenngleich man sich großzügig bemessene Übergangszeiten vorstellen kann. Hinzu kommt, dass Griechenland und die Republik Zypern als EU-Mitglieder das Zypernproblem im Zusammenhang mit den seit Oktober 2005 laufenden türkischen Beitrittsverhandlungen mit Brüssel zu ihrem Vorteil instrumentalisieren wollen. Vieles spricht dafür, dass eine endgültige Zypernregelung nur im Rahmen eines Gesamtpaketes möglich sein wird, in dem Zypernfrage, griechisch-türkische Streitigkeiten und der türkische EU-Beitritt zusammengefasst sind.

Initiativen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Das Ende des Ost-West-Konflikts brachte für die Türkei ein radikal gewandeltes politisches Umfeld. Doch bereits unter dem Regime des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal und seiner Mutterlandspartei hatte in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine außenpolitische Umorientierung begonnen. Özal versuchte einen dann letztlich doch fehlgeschlagenen Ausgleich mit Griechenland, und er öffnete die türkische Wirtschaft zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens.

Özal verfolgte das Ziel, die Türkei in Anlehnung an die asiatischen "Tigerstaaten" binnen zehn Jahren zum "Südkorea" des Nahen Ostens zu machen. Erst als diese Bemühungen ebenso wenig vorankamen wie Bestrebungen, mit den USA eine Freihandelszone zu bilden, schwenkte er in der Europapolitik um und stellte im April 1987 den Antrag auf Beitritt zur EU. Dieser blieb jedoch erfolglos. Insgesamt war seine Außenpolitik von einem erheblichen Maß an Pragmatismus und einer damit einhergehenden Lockerung der ideologischen Bindung an den Westen gekennzeichnet. Erstmalig kam der Begriff des "Neo-Osmanismus" zur Charakterisierung der türkischen Außenpolitik auf. Dabei wurde aber die sicherheitspolitische Einbindung in die Atlantische Allianz nie in Frage gestellt.

Die neue Nachbarschaft nach dem Ende und Zerfall der Sowjetunion brachte für die türkische Außenpolitik eine Vielzahl neuer Herausforderungen. Özal, seit 1991 Staatspräsident, plädierte anfänglich mit starker amerikanischer Unterstützung für eine weitreichende Hinwendung zu den neuen Turkrepu-bliken in Zentralasien (Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Turkmenistan). Neben wirtschaftlichen Vorteilen (Erdöl, Erdgas) versprach er sich auch eine Ausdehnung des türkischen politischen Einflussbereichs bei den "Sprachverwandten". Washington hoffte auf eine Zurückdrängung Russlands, vor allem aber auf eine Einhegung des befürchteten radikal-islamischen Einflusses Teherans.

Doch bald zeigte sich, dass die politischen und wirtschaftlichen Ressourcen der Türkei bei Weitem nicht ausreichten, um in der riesigen Region zwischen dem Kaukasus und China eine dominante Rolle zu spielen. Heute ist die Türkei dort ein Akteur unter vielen, während China eine immer wichtigere Rolle spielt. Ankara konzentriert sich zunehmend auf die Kaukasusregion und die angrenzenden kaspischen Staaten mit ihren gewaltigen Erdgasvorkommen. Doch hat es neben der mit politischer US-Unterstützung gebauten und im Jahr 2005 in Betrieb gegangenen Erdöl-Pipeline von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan bislang kaum Erfolge erzielen können.

Teils aus nationaler Interessenpolitik, teils infolge der sicherheitspolitischen Bindungen an das westliche Bündnis und die USA engagierte sich die Türkei in den 1990er-Jahren auch im Post-Jugoslawien-Konflikt und im Krieg der USA mit dem Irak. Sowohl aufgrund seiner EU-Ambitionen als auch seiner osmanischen Geschichte (große Teile des Balkans hatten bis 1912 zum osmanischen Herrschaftsgebiet gehört) betrachtet die Türkei die Balkanregion als "natürliches" Interessengebiet. Das führte 1992 auf türkische Initiative hin zur Gründung der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperationszone, die seitdem allerdings eher ein politisches Schattendasein führt und auch mit ihren ambitionierten wirtschaftlichen Zielen nicht so recht vorankommt.

Politisch bedeutsamer war dagegen die türkische Beteiligung an den Nachfolgekriegen im auseinandergebrochenen Vielvölkerstaat Jugoslawien. Hier fügte sich Ankara nahtlos in die Politik und die militärischen Aktionen der westlichen Staaten unter Führung der USA, die den Schutz der Zivilbevölkerung und ethnischer Minderheiten zum Ziel hatten, ein, obgleich der in ihren Augen ungenügende Schutz muslimischer Bevölkerungsgruppen in Bosnien-Herzegowina oder dem Kosovo in der türkischen Öffentlichkeit teils heftige Unmutsäußerungen hervorrief. Ebenso beteiligt sich Ankara an den verschiedenen friedenssichernden Maßnahmen nach Beendigung der Kämpfe.

Ähnlich "bündnistreu" zeigte sich die Türkei im Zweiten Golfkrieg gegen den Irak 1991, mit dem die USA zwar die irakische Besetzung Kuweits beendeten, aber darauf verzichteten, das Regime von Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Die Regierung Özal schloss die Öl-Pipelines aus dem Nord-irak und unterstützte die USA bei der Einrichtung einer Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades, mit der nach Ende des Krieges die Kurden im Norden Iraks vor der Rache Saddams geschützt werden sollten.

Längerfristig schuf sich Ankara durch dieses erste militärische Engagement im arabischen Raum seit Beginn der Republik allerdings mehr Probleme als Vorteile. Die instabile Lage im nordirakischen Kurdengebiet wurde von der PKK genutzt, um ihre gegen die Türkei gerichteten Gewaltaktionen von dort aus zu führen und dieses Gebiet als Rückzugsraum zu nutzen. Zwar unternahm die Türkei im Laufe der 1990er- Jahre wiederholt umfangreiche Militäraktionen gegen die PKK im Nordirak, die sogar die längere Besetzung irakischen Territoriums im Grenzgebiet zur Türkei einschlossen. Doch brachte das für Ankara auch immer wieder politische Probleme sowohl mit den Führungen der beiden dominanten kurdischen Parteien im Nordirak als auch mit der Zentralregierung in Bagdad mit sich. Die Lage verbesserte sich erst, als es 1999 gelang, den PKK-Führer Abdullah Öcalan durch ein türkisches Kommando in Kenia festzunehmen.

Die "neue" Außenpolitik in der AKP-Ära

Die Öffnung der türkischen Außenpolitik und die Abkehr von der einseitigen Fixierung auf "den Westen" wurde dann unter der Ägide der AKP-Regierungen nach 2002 zum Programm erklärt. Dahinter steht das von Außenminister Davutoglu entwickelte Konzept der "Strategischen Tiefe". Darin wird die Identität der Türkei aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres religiös-kulturellen Erbes nicht mehr als nur "westlich" beschrieben. Diese geografischen und historisch-kulturellen Faktoren verleihen ihr laut Davutoglu eine multiple Identität als europäisches, asiatisches und nah-/mittelöstliches Land mit zentralasiatischen und afrikanischen Einsprengseln. Folglich kennt seine neue Außenpolitik auch keine absoluten Vorzugspartner mehr, ohne aber deswegen bestehende Beziehungen in Frage zu stellen. Dieses Konzept ist ein klarer Bruch mit der kemalistischen Tradition. Es beansprucht, den nationalen Interessen der Türkei unter den neuen Bedingungen des 21. Jahrhunderts besser zu entsprechen als jene.

Irak

In diesem Sinne ist Davutoglus Konzept gleichzeitig neu und steht dennoch in der generellen Tradition türkischer Außenpolitik als Umsetzung des nationalen Interesses. So bekräftigte auch die AKP-Regierung die schon von ihrer Vorgängerin nach den Anschlägen des 11. September 2001 abgegebene Versicherung, dass radikaler, gewalttätiger Islam von der Türkei nicht akzeptiert und unterstützt werde. Das hinderte die Türkei aber nicht daran, im Frühjahr 2003 den USA die erbetene Unterstützung für den Einmarsch ihrer Streitkräfte in den Irak, an dem sich auch Großbritannien und andere Staaten beteiligten, zu versagen. Hier musste sich Ministerpräsident Erdogan der öffentlichen Meinung in der Türkei beugen, zumal auch die Militärführung deutliche Zurückhaltung an den Tag legte. Das türkisch-amerikanische Verhältnis wurde durch diese Haltung Ankaras erheblich beschädigt. Gleichzeitig wuchs das Ansehen Ankaras in weiten Teilen der arabischen Welt. Das Bild des "getreuen Dieners" amerikanischer Mittelostpolitik begann zu verblassen.

Das Interesse, nach dem Ende des Regimes von Saddam Hussein zur Stabilität im Irak beizutragen, führte zu einer punktuellen Zusammenarbeit mit dem Iran und Syrien als den beiden anderen wichtigen irakischen Nachbarstaaten. Hier ging es Ankara vor allem darum, ein Übergreifen der kurdischen Autonomiebestrebungen im Nordirak auf die eigene Kurdenregion zu verhindern. Daher unterstützte die Türkei die Bestrebungen der irakischen Zentralregierung in Bagdad zur Wahrung der nationalen Integrität Iraks. Als die US-Regierung ankündigte, ihre Truppen bis Ende 2011 aus dem Irak abzuziehen, begann Ankara, seine Beziehungen zur Kurdischen Regionalregierung im nordirakischen Erbil zu intensivieren, um auch auf diesen wichtigen innerirakischen Akteur einen gewissen Einfluss zu bekommen.

Die verbesserten Beziehungen führten nicht nur zu einer erheblichen Ausweitung der grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen, die die Türkei zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor im Nordirak machte, sondern auch zur Schwächung der Position der PKK, die in den dortigen Kandil-Bergen ihr Hauptquartier für ihre anhaltenden Guerillaaktionen im türkischen Südosten eingerichtet hatte. Dennoch ist unklar, wie groß der Einfluss Ankaras auf die innere Entwicklung des Iraks tatsächlich ist. Damit bleibt auch die Frage offen, ob die sorgfältige Balancepolitik gegenüber dem südlichen Nachbarn die türkischen Sicherheitsinteressen längerfristig sichern kann.

Israel und Naher Osten

Doch nicht nur im Irak hat sich die Türkei unter der AKP im Mittleren und Nahen Osten engagiert. Gemäß dem von Außenminister Davutoglu propagierten Grundsatz der "Null Probleme mit Nachbarländern" wurden auch die Beziehungen zu Syrien, dem Libanon, Iran und - anfänglich - selbst Israel verbessert. Ankara engagierte sich in verschiedenen Konflikten als Vermittler, so zwischen Israel und Syrien, zwischen verschiedenen Fraktionen im Libanon und selbst zwischen Israel und den Palästinensern. Doch blieben diese Bemühungen weitgehend erfolglos. Insbesondere nachdem Israel im Januar 2009 das Hamas-Regime im Gaza-streifen angriff, änderte sich die Stimmung in der Türkei und bei Ministerpräsident Erdogan. Seitdem zählt die AKP-Regierung zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik und wird von Jerusalem dem Lager der Feinde Israels zugerechnet.

Die Türkei und der "Arabische Frühling"

Die zahlreichen Aktivitäten in der Region haben das Ansehen der Türkei und besonders das ihres Ministerpräsidenten in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit enorm gesteigert. Für viele wurde die Türkei zu einem nachahmenswerten Vorbild. Offen ist allerdings, wie sich die Stellung Ankaras in der Region im Gefolge der "arabischen Umbrüche" des Jahres 2011 entwickelt. Die AKP-Regierung wurde von den Volksbewegungen genauso unvorbereitet getroffen wie die USA oder die europäischen Staaten. Auch die Türkei hatte ihre Beziehungen hauptsächlich zu den autokratischen Führungen der arabischen Staaten gepflogen, die von den Volksbewegungen aus dem Amt gejagt wurden. Sie brauchte daher einige Zeit, um ihre Außenpolitik entsprechend anzupassen, zumal zum Beispiel in Libyen tausende türkische Gastarbeiter lebten, die dort im Auftrag türkischer Bauunternehmen tätig waren.

Letztlich aber fand die AKP zu einer Haltung, der zufolge in allen Ländern der Wille des Volkes zur Leitschnur für die politische Neugestaltung gemacht werden soll. Selbst der syrische Staatschef Baschar al-Assad, zu dessen Regime die AKP seit 2008 sich kontinuierlich verbessernde Beziehungen aufgebaut hatte, was unter anderem in der gegenseitigen Aufhebung der Visumpflicht für ihre Bürger zum Ausdruck kam, musste sich heftige türkische Kritik an seinem brutalen Vorgehen gegen die politische Protestbewegung gefallen lassen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob und wie weit sich die in europäischen und zum Teil auch türkischen Kreisen diskutierte Ansicht bewahrheitet, dass der AKP-Türkei eine Vorbild- oder Modellrolle beim Aufbau demokratischer Systeme in den "neuen" arabischen Gesellschaften zukommen wird. In jedem Fall will die AKP diese Chance nutzen, wie sich im Sommer 2011 zeigte, als Ministerpräsident Erdogan auf einer Rundreise durch Ägypten, Libyen und Tunesien von der dortigen Bevölkerung als Vertreter eines modernen muslimischen Staates enthusiastisch gefeiert wurde.

Kaukasusregion und Russland

Doch nicht nur in der arabischen Welt steht die AKP-Außenpolitik der "Null Probleme mit Nachbarn" vor großen He-rausforderungen. Auch in der Kaukasusregion wird sie mit einer höchst komplexen Problemlage konfrontiert, für deren Bewältigung sie nur unzureichende Mittel besitzt. Die Regierung Erdogan versucht in der Region einen schwierigen Balanceakt zwischen ihren verschiedenen und nicht immer widerspruchsfreien regionalen Interessen. Das größte Problem bereitet ihr, die Balance zwischen ihren Beziehungen zu Aserbaidschan und Armenien zu halten. Mit Aserbaidschan verbinden die Türkei eine enge ethnische Verwandtschaft und die Energiebeziehungen über die Ölpipeline BakuCeyhan. Beides bewirkt eine starke Solidarität mit Baku im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt über Bergkarabach, eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Südosten des Kleinen Kaukasus, die zwar völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mit massiver Unterstützung Armeniens seit 1994 de facto selbstständig ist. Das Verhältnis der Türkei zu Armenien ist wegen des Vorwurfs des Völkermords durch das Osmanische Reich an den Armeniern im Jahre 1915 schwer belastet. Dabei ist beiden Ländern an einer Normalisierung ihrer Beziehungen sehr gelegen, weil dadurch die Stabilität in der fragilen Kaukasusregion deutlich erhöht würde, was vor allem mit Blick auf seine Energiepolitik im Interesse Ankaras ist. Doch kann die Türkei dies kaum aus eigener Kraft erreichen. Sie ist hier zu einem guten Teil auf die politische Unterstützung der USA angewiesen, deren regionalpolitische Interessen weitgehend mit denen der Türkei übereinstimmen.

Mit größerer Zurückhaltung wird in Washington dagegen die Entwicklung der türkischen Beziehungen zu Russland und Iran gesehen. Das hoch antagonistische Verhältnis zu Moskau in der Zeit des Kalten Krieges hat sich unter der AKP-Ägide mittlerweile zu einer "strategischen Partnerschaft" gewandelt. Inhaltlich konzentrieren sich die Beziehungen auf den Wirtschaftssektor und hier vor allem auf den Energiebereich. Die hohe Lieferabhängigkeit von russischem Erdgas wurde schon erwähnt. Dennoch haben beide Länder nach 2009 Abkommen über weitere Energie-Großprojekte abgeschlossen. So hat die Regierung Erdogan unter anderem den Auftrag für den Bau und den Betrieb des ersten türkischen Atomkraftwerks bei der südtürkischen Stadt Akkuyu an die russische Firma Rosatom vergeben. All diese Pläne sind Ende 2011 aber noch nicht im Stadium der Ausführung angelangt.

Iran

Ähnlich wie Ankaras Israel-Politik sorgt auch die Politik gegenüber dem iranischen Nachbarn für Irritationen in den westlichen Hauptstädten. Beide Länder führen als große Staaten in der mittelöstlichen Region seit Jahrhunderten eine Politik normaler nachbarschaftlicher Beziehungen, die aber immer auch von unterschwelliger machtpolitischer Rivalität gekennzeichnet waren. Auch nach der schiitischen Revolution in Teheran bemühte sich Ankara trotz aller ideologischen Unterschiede um einen normalen Umgang mit dem Mullah-Regime. Das gegenseitige Interesse an wirtschaftlichem Austausch und beiderseitige Probleme mit der jeweiligen kurdischen Minderheit führten Teheran und Ankara vor allem unter den AKP-Regierungen näher zusammen.

Damit geriet die Türkei jedoch bei ihren amerikanischen und europäischen Verbündeten öfters in ein schiefes Licht. Insbesondere die iranische Atompolitik und Teherans Unterstützung mittelöstlicher Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah führten zu Irritationen. Ankara war nicht bereit, sich der Politik seiner Verbündeten anzuschließen, Iran durch starken internationalen Druck, der bis hin zu öffentlichen Spekulationen über die Möglichkeit einer Militärintervention reichte, zum Verzicht auf die Anreicherung von Uran zu bewegen. Ebenso wenig konnte es sich zu einer klaren Verurteilung von Teherans Unterstützung der hauptsächlich gegen Israel agierenden Terrororganisationen durchringen.

Auf der anderen Seite weckte Erdogans offenkundiges Streben nach größerem türkischen Einfluss in der Region nach den Umwälzungen des "Arabischen Frühlings" in Teheran wieder regionalpolitische Rivalitätsreflexe, zumal Ankaras Erlaubnis für die Aufstellung einer Radarstation des (gegen Teheran gerichteten) NATO-Raketenabwehrschirms ebenso wie die harsche Abkehr vom syrischen Assad-Regime bei der iranischen Führung offenes Missfallen hervorrief. Die türkisch-iranischen Beziehungen haben auch unter der AKP noch keine neue Qualität gewonnen.

Globale Interessen

"Strategische Tiefe" bildet jedoch nicht nur die konzeptionelle Grundlage für deutlich verstärkte außenpolitische Aktivitäten der Türkei in ihrer unmittelbaren regionalen Nachbarschaft. Sie leitet gleichermaßen das Bestreben, den Status der Türkei als einer wichtigen Akteurin im globalen internationalen Kontext zu verdeutlichen. Die Türkei konnte in der Periode 2009/2010 einen Sitz als nichtständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat erringen und hat seit 2005 ihre Rolle in der OIK durch die Wahl des bekannten Wissenschaftshistorikers Ekmeleddin Ihsanoglu zum Generalsekretär dieser 57 Staaten umfassenden Organisation gestärkt. Wichtiger noch ist die Mitgliedschaft in der G-20, die auch international der Anerkennung als Schwellenland und Mitgestalter der internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert gleichkommt.

Der gewachsene türkische Anspruch nach internationaler Mitgestaltung findet auch in der Intensivierung der Beziehungen zu anderen Schwellenländern seinen Ausdruck. Dies gilt besonders für China und Indien, aber auch für den afrikanischen Kontinent. China und Indien werden als die künftigen Machtzentren Asiens gesehen und bilden willkommene neue riesige Märkte für die türkische Industrie, die immer auf der Suche nach Absatzchancen jenseits ihrer etablierten Wirtschaftsbeziehungen zum OECD-Raum ist. Auch wenn diese Bemühungen um Vergrößerung des internationalen Status und Spielraums der Türkei noch in ihren Anfängen stehen, zeigen sie doch deutlich, dass unter der AKP-Regierung die kemalistische vorrangige Fixierung auf den Westen geschwunden ist und einem neuen außenpolitischen Selbstbewusstsein Platz gemacht hat. In ihren Grundzügen wird diese neue Außenpolitik sowohl in allen Gruppen der politischen Elite als auch in der türkischen Öffentlichkeit akzeptiert.

Perspektiven des EU-Beitritts

Von diesem neuen türkischen Selbstbewusstsein bleibt auch das Verhältnis zur EU nicht unberührt. Zwar besitzt die Türkei seit Dezember 1999 den Status einer Beitrittskandidatin, und seit Oktober 2005 wird offiziell über diesen Beitritt verhandelt. Doch sieht es nach über fünf Jahren Verhandlungen nicht danach aus, dass das Ziel in absehbarer Zeit, wenn überhaupt, erreicht werden kann. Auf beiden Seiten macht sich Ermüdung breit und bei den Türken zusätzlich Frust und Enttäuschung über die EU.

Das sah noch anders aus, als am 12. September 1963 in Ankara das Assoziierungsabkommen zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei unterzeichnet wurde. Es hatte den Aufbau einer Zollunion zwischen beiden Seiten zum Ziel und sieht in seinem Artikel 28 vor, eine Mitgliedschaft der Türkei in der Gemeinschaft zu prüfen, wenn diese Zollunion erreicht wurde. Damit wurde seinerzeit eine politische Perspektive eröffnet, die von beiden Seiten gewollt und deshalb vertraglich fixiert wurde. Sie ist heute noch gültig, da das Assoziierungsabkommen nicht gekündigt und die Beitrittsperspektive seitens der EU-Mitgliedstaaten in der Folgezeit immer wieder ausdrücklich bestätigt wurde.

Dennoch unternahmen beide Seiten keine besonderen Anstrengungen, der Verwirklichung dieses Ziels rasch näher zu kommen. In der Türkei überwogen bald Befürchtungen, sie könnte in der wirtschaftlich überlegenen EWG (später EG - Europäische Gemeinschaft) nicht konkurrenzfähig sein, das Beitrittsinteresse. In der Gemeinschaft machten sich immer größere Bedenken breit, die immens große und unterentwickelte Türkei mit ihren innenpolitischen Instabilitäten der 1970er- Jahre zu integrieren. Der Militärputsch von 1980 brachte dann einen politisch motivierten Stillstand in den Beziehungen. Dieser hielt auch danach an, weil Griechenland nach seinem Beitritt zur EG 1981 wegen seiner bilateralen Konflikte mit der Türkei Fortschritte in der Assoziierung blockierte.

Was in den wenig dynamischen Jahren nach dem Beginn der Assoziation jedoch stets gleich blieb, war das hohe Interesse wichtiger EG-Mitglieder (Deutschland, Großbritannien und die Niederlande) an einer engen sicherheitspolitischen Bindung der Türkei an Europa. Deshalb leistete Deutschland der Türkei im Rahmen der NATO von 1964 bis 1995 Militärhilfe in Form von Ausrüstungs- und Waffenlieferungen in Höhe von mehreren Milliarden DM. Dieses sicherheitspolitische Inte-resse ließ angesichts der weltpolitischen Veränderungen des Jahres 1979 (Iran und Afghanistan) auch nach dem türkischen Militärputsch von 1980 einen totalen Abbruch der Assoziierung in den Augen der EG-Länder (und der USA) nicht ratsam erscheinen.

Nach dem vergeblichen Beitrittsantrag Özals von 1987 konzentrierte sich die politische Aufmerksamkeit in den 1990er-Jahren auf die Herbeiführung der Zollunion. Diese konnte entsprechend dem Zusatzprotokoll von 1972 zum Assoziierungsabkommen fristgerecht zum 1. Januar 1996 in Kraft treten. In Ankara keimten daraufhin wieder Hoffnungen auf einen baldigen Beitritt als letzten Schritt in der Assoziierung. Umso größer war die Enttäuschung als - nicht zuletzt auf Betreiben Deutschlands - der Europäische Rat in Luxemburg im Dezember 1997 die Türkei explizit von der neuen Erweiterungsrunde ausnahm. Diese blieb auf zehn Länder in Mittel- und Osteuropa sowie auf die beiden Mittelmeerstaaten Zypern und Malta beschränkt. Die damit propagierte "Wiedervereinigung Europas" sollte weiterhin ohne die Türkei stattfinden.

Die Lage änderte sich jedoch nach dem Regierungswechsel in Deutschland im Herbst 1998. Die neue rot-grüne Bundesregierung erklärte sich bereit, die Türkei zum Kreis der Beitrittskandidaten zuzulassen. Als dann infolge der spontanen wechselseitigen Hilfen bei Erdbeben im Marmararaum und bei Athen auch Griechenland seine Vorbehalte fallen ließ, fasste der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, im Dezember 1999 in Helsinki einen entsprechenden Beschluss. Doch sollte es noch bis Dezember 2004 dauern und großer politischer Reform-anstrengungen der seit 2002 amtierenden AKP-Regierung bedürfen, bis die EU-Mitglieder den Beginn der Beitrittsverhandlungen beschlossen.

Die Türkei hatte sich durch die Reformen zwar politisch so verändert wie seit der kemalistischen Revolution nicht mehr, doch wuchs parallel dazu in der EU-Öffentlichkeit der Widerstand gegen den Beitritt eines muslimischen Staates. Das Argument der ungenügenden Aufnahmefähigkeit der Union machte die Runde. Die Türkei wurde als zu fremd, zu groß und zu arm empfunden, um in die EU zu passen. Hinzu kam, dass konservative Kreise in der EU der Türkei schlicht eine "europäische Identität" absprachen, die zur Voraussetzung für eine reibungslose Mitgliedschaft erklärt wurde.

So standen die im Oktober 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen von Anfang an unter keinem guten Stern. Die Lage wurde vollends verfahren, als sich die gerade ins Amt gewählte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) klar gegen einen Beitritt und für eine "privilegierte Partnerschaft" genannte Sonderbeziehung zwischen der Türkei und der EU aussprach und darin ab 2007 vom neuen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy unterstützt wurde. Beide vermieden aber einen Abbruch der Verhandlungen. Das Risiko einer endgültigen Abwendung Ankaras von Europa und vom "Westen" wurde für zu groß gehalten, was auch die Führung der USA den EU-Staaten gegenüber immer wieder unterstrich. So entwickelt sich infolge der zunehmend selbstbewussten neuen türkischen Außenpolitik in der Nachbarschaft der EU - vom Balkan über die Schwarzmeer-Kaukasus-Region, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Nordafrika - eher ein Neben- denn ein gezieltes Miteinander von türkischer und EU-Politik.

Die Türkei tat ihrerseits auch nichts, um die Lage zu verbessern. Ministerpräsident Erdogan war vielmehr zutiefst enttäuscht, dass die EU nicht in der Lage - aus türkischer Sicht: nicht willens - war, das große Entgegenkommen Ankaras in der Zypernfrage im Frühjahr 2004 entsprechend zu würdigen und nach dem Scheitern des Annan-Plans direkte Handelsbeziehungen mit Nordzypern aufzunehmen. Die Türkei weigerte sich deshalb, ihrer Verpflichtung nachzukommen und das Abkommen über die Zollunion mit der EU auch auf das Neumitglied Zypern auszudehnen. Türkische Häfen und Flughäfen blieben für zyprische Schiffe und Flugzeuge gesperrt.

Als Konsequenz fror die EU im Dezember 2006 acht der 35 Verhandlungskapitel ein, die in Beziehung zur Zollunion stehen. Nach 2007 erklärte Paris, dass es weitere fünf Kapitel nicht freigebe, da sie nur für Vollmitglieder relevant seien und die Türkei dies nach französischer Ansicht nicht werden soll. Weitere sechs Kapitel blockierte die Regierung Zyperns im Dezember 2009 aus Verärgerung über das Nichtstun der EU gegenüber der andauernden türkischen Verweigerung in Sachen Zollunion. Im Sommer 2011 standen somit noch drei Kapitel überhaupt für Verhandlungen offen. Diese konnten jedoch nicht beginnen, weil die Türkei aus Sicht der Europäischen Kommission die dafür notwendigen vorbereitenden Maßnahmen noch nicht ergriffen hatte.

Die Beitrittsverhandlungen befinden sich also in einer Sackgasse. Um dort wieder herauszukommen, müssten beide Seiten ihre Haltung grundsätzlich revidieren. Dafür aber sehen weder die EU-Staaten noch die Türkei einen überzeugenden Anlass. In der Türkei wächst mit der zunehmenden internationalen Bedeutung und der guten wirtschaftlichen Entwicklung die Meinung, auf die EU-Mitgliedschaft nicht unbedingt angewiesen zu sein. In Europa bleibt der öffentliche Widerstand gegen den Beitritt vor allem in konservativen Kreisen unverändert stark.