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Annäherung an ein Land im Wandel | Tschechien | bpb.de

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Annäherung an ein Land im Wandel

Dieter Segert

/ 3 Minuten zu lesen

Blick aus der Altstadt auf den Weihnachtsmarkt in Prag. (© ddp/AP)

Mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern und knapp 80000 Quadratkilometern Grundfläche gehört Tschechien zu den kleineren Staaten in Europa. Trotzdem finden sich viele Aspekte, die das Land und seine Menschen speziell für den direkten Nachbarn Deutschland von Interesse sein lassen, wie etwa seine Kultur, seine Wirtschaft sowie die Schönheiten seiner Landschaften und Städte.

Reisende schätzen die gotischen oder barocken Baudenkmäler Prags sowie seine Jugendstilarchitektur. Ebenso attraktiv sind die gut erhaltenen Zentren kleiner Städte, besonders im Süden des Landes, seine vielen alten Klöster und Burgen. Vielerorts zeigen sich Spuren der jüdischen Kultur Böhmens und Mährens wie jahrhunderte alte Synagogen und Friedhöfe.

Literatur, Musik und Filme aus dem Nachbarland finden weltweite Resonanz. Viele kennen die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hapiek, die Romane Franz Kafkas, die Erzählungen Karel Capeks und die Dichtung Jaroslav Seiferts, der für sein poetisches Lebenswerk 1984 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Musikfreunden sind Bedrich Smetana und Antonín Dvorák ein Begriff oder auch die Prager Jazzclubs. Tschechische Filme haben internationales Renommee wie etwa der 1996 mit einem Oscar ausgezeichnete Film "Kolja" des Regisseurs Jan Sverak, der das schwierige Verhältnis von Tschechen und Russen zum Thema hat. Kinder dagegen lieben Figuren wie den kleinen Maulwurf oder den Wassermann aus der tschechischen Zeichentrickfilmproduktion.

In den letzten zehn Jahren hat sich Tschechien stark verändert. Aus der Tschechoslowakei wurde zunächst eine Tschecho-Slowakische Föderation, am 1. Januar 1993 entstanden zwei unabhängige Staaten, Tschechien und die Slowakei. Auf letztere wird im Folgenden ebenfalls kurz eingegangen.

Seit 1999 ist Tschechien Mitglied der NATO. Und in Kürze wird es zusammen mit anderen Ländern in die Europäische Union aufgenommen werden. Europa dehnt sich nach Osten aus. Und damit wird es wichtiger werden, diesen "Osten" kennen zu lernen.

Vor allem die Hauptstadt Prag bildet einen Anziehungspunkt. Nicht nur Westeuropäer, sondern auch eine große Zahl von US-amerikanischen Staatsbürgern leben zeitweise dort, arbeiten in den Niederlassungen ausländischer Firmen oder lernen an den Universitäten bzw. den Sprachschulen der Stadt. In manchen Cafés im Stadtzentrum überwiegen die in Englisch geführten Unterhaltungen.

Auch deutsche Firmen investieren in größerem Umfang in Tschechien. Ein bekanntes Beispiel ist der erfolgreiche Einstieg des Volkswagen-Konzerns beim tschechischen Autohersteller Skoda in Mladá Boleslav 1991. Der Außenhandel Tschechiens bezieht sich mittlerweile zu über zwei Dritteln auf die Länder der EU.

In den letzten Jahren kam es aber auch zu politischen Spannungen zwischen Tschechien und seinen Nachbarn. In Österreich fanden Demonstrationen gegen das Atomkraftwerk im tschechischen Temelín statt und die Grenzübergänge zwischen beiden Ländern wurden blockiert.

QuellentextAtomkraftwerk Temelin

Über den Ausbau des AKW Temelin wurde noch während des kommunistischen Regimes im Jahre 1980 entschieden. [...] Ursprünglich sollten in Temelin vier Reaktoren sowjetischer Produktion VVER-1000 installiert werden, jeder mit 1000 MW-Leistung. Der Bau des ersten Reaktorblocks begann 1987. [...] Mit der Inbetriebnahme rechnete man im November 1992.

Nach der samtenen Revolution 1989 [...] beschloss die Regierung, mit der Beendigung des Baus die amerikanische Gesellschaft Westinghouse zu beauftragen, damit das Atomkraftwerk den internationalen Standards entspreche. Die neue demokratische Regierung beschloss 1993, dass von den geplanten vier Reaktoren nur zwei fertig gebaut werden sollten. Der erste Reaktor sollte Ende des Jahres 1995 beendet werden, der zweite dann Mitte 1997. Doch die Ereignisse nahmen einen anderen Verlauf. Die ursprünglich geschätzte Gesamtsumme für das Projekt wurde erheblich überzogen und das Datum der Fertigstellung immer wieder verschoben. [...]

So stiegen die Gesamtkosten bis Ende 1999 von geplanten 35 auf 71 Milliarden und die Gesamtkosten bei der Fertigstellung werden auf mehr als 100 Milliarden Kronen geschätzt. 1998 hat die provisorische Regierung unter Josef Tosovsky über die Errichtung einer Expertenkommission entschieden, die die [...] Auswirkungen einer möglichen Fertigstellung von Temelin auswerten sollte. [...] Die Ergebnisse ihrer Arbeit waren aber eher widersprüchlich. Auf der einen Seite empfahl die Kommission die Fertigstellung des Baus, allerdings nur unter der Bedingung, dass der Termin eingehalten wird. Auf der anderen Seite kam die Kommission zum Schluss, dass die Tschechische Republik bis mindestens 2010 keine neue Stromquelle brauchen wird. In dem Bericht der Kommission wird weiter festgestellt, dass, sollte das AKW in Betrieb genommen werden, die Tschechische Republik nur schwer ihre überschüssige Energie aus Temelin am europäischen Markt absetzen können wird.

Am 12. Mai 1999 hat die tschechische Regierung [...] über die Fertigstellung und Inbetriebnahme des AKW positiv entschieden, trotz der Proteste der Österreicher, die sich um die Sicherheit des sich in Grenznähe befindenden AKW besorgt zeigten.

Aus dem Archiv von "Radio Prag" in deutscher Sprache.

Bereits im Januar 2002 hatte in Österreich ein Volksbegehren Erfolg, wonach sich das Parlament beauftragt sah, die Zustimmung des Landes zum Beitritt Tschechiens von der Stilllegung Temelins abhängig zu machen. Allerdings bindet dieses Volksbegehren das Parlament nicht in seiner Entscheidung.

Dieter Segert

Trotz der positiven Auswirkungen der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 gab es 2002 Kontroversen um einige der so genannten Benes-Dekrete, die gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs, also immerhin vor fünfeinhalb Jahrzehnten, mit dem Ziel verabschiedet wurden, die Vertreibung auf eine rechtliche Grundlage zu stellen.

Die Annäherung an ein Land vollzieht sich häufig über die Beschäftigung mit seiner Geschichte. Manches Phänomen der Gegenwart hat seine historischen Wurzeln. Was von dieser Vergangenheit erzählenswert bleibt, muss jede Generation für sich neu festlegen.