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Fußball-WM 2022 in Katar | Hintergrund aktuell | bpb.de

Fußball-WM 2022 in Katar Interview mit Ronny Blaschke

Ronny Blaschke

/ 6 Minuten zu lesen

Am 20. November beginnt die Fußball-WM in Katar. Die Menschenrechtssituation im Land wird scharf kritisiert. Ein Gespräch mit dem Sportjournalisten Ronny Blaschke über Voraussetzungen und mögliche Folgen der WM.

"Al Rihla Pro". Offizieller adidas-Spielball für die WM 2022 in Katar. (© picture-alliance, Pressefoto Rudel | Robin Rudel)

bpb.de: Der WM-Ausrichter Katar ist ein autoritärer Staat und die Menschenrechtssituation im Land problematisch. Darf man sich als Fußball-Fan auf die WM freuen oder sollte man sie lieber boykottieren?

Ronny Blaschke: Natürlich darf man sich als Fußball-Fan auf die WM freuen. Aber man sollte die WM in Interner Link: Katar auch zum Anlass nehmen, sich auf die Komplexität der globalisierten Wirtschaft einzulassen. Einerseits gibt es in Katar tatsächlich keine freien Medien, keine Opposition, keine Gewerkschaften und Streikmöglichkeiten. Andererseits hat das Land mehr als 300 Milliarden Euro in die westliche Wirtschaft investiert – in Deutschland etwa in Volkswagen und die Deutsche Bank. Auch haben deutsche Konzerne in Katar mit großen Infrastrukturprojekten wie der dortigen U-Bahn gutes Geld verdient. Es muss jedem klar sein: Der Wohlstand bei uns in Europa fußt auch auf Beziehungen zu Ländern wie Katar. Bundeskanzler Olaf Scholz war im September in Doha, weil er sich um katarische Gaslieferungen bemüht hat. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck war in diesem Jahr ebenfalls bereits dort. Rund 150 deutsche Unternehmen sind in Katar aktiv. Die Fußball-WM ist eine Gelegenheit, sich mit all dem kritisch zu beschäftigen.

bpb.de: Im vergangenen Jahr berichtete die britische Zeitung "Guardian", dass allein bis Mitte 2020 mehr als 6500 Gastarbeiter beim Bau der Stadien gestorben seien. Menschenrechtsorganisationen fordern bislang erfolglos Entschädigungszahlungen.

Blaschke: Wir wissen nicht, wie viele Menschen gestorben sind und auch nicht, woran sie gestorben sind. Das ist ein Problem bei der Debatte. Katar verweigert die Herausgabe von Informationen und lehnt auch Obduktionen ab. Klar ist: Es arbeiten insgesamt mehr als zwei Millionen Gastarbeiter aus Südostasien in Katar. Und natürlich ist jeder Toter einer zu viel.

Es gibt die Forderung nach einem Entschädigungsfonds von 440 Millionen Dollar. Ich weiß allerdings nicht, wie ein solcher in der Praxis umgesetzt werden soll. Denn es fehlen viele notwendige Informationen über Betroffene und deren Familien. Die Interner Link: Fifa und die Medien hätten in den vergangenen Jahren mehr Druck machen können, damit eine Entschädigung gezahlt wird. Letztlich dürfte nach der WM die Aufmerksamkeit für Katar schwinden und damit auch für das Entschädigungsprogramm.

bpb.de: Hat die anstehende WM die Situation der Gastarbeiter in Katar verbessert?

Blaschke: Auf dem Papier schon. Es gibt für sie nun Möglichkeiten, sich zu beschweren, den Job zu wechseln oder leichter auszureisen. Dennoch dokumentieren Menschenrechtsorganisationen immer noch Lohnraub, Übergriffe und Einschüchterungen – auch werden Unterkünfte überwacht. Es fehlen Gewerkschaften und freie Medien in dem Land. Da bringen die besten Reformen nur eingeschränkte Erfolge.

Hinzu kommt: Etwa 50.000 der rund 300.000 einheimischen Katarer sollen entfernt verwandt sein mit der Herrscherfamilie. Da lässt man sich nicht einfach sanktionieren für Fehlverhalten gegenüber den Angestellten. Zudem scheuen viele Gastarbeiter juristische Auseinandersetzungen, weil sie Angst haben ausgewiesen zu werden und dann kein Geld mehr zu verdienen, das ihre Familien aber dringend brauchen. Viele Haushalte sind abhängig von Überweisungen aus den Golfstaaten. Man spielt auch mit der Angst der Arbeiter.

bpb.de: Die Fifa hat Katar kürzlich für angebliche Verbesserungen der Menschenrechtssituation gelobt. Haben die WM und die Berichterstattung darüber hier tatsächlich eine positive Wirkung entfaltet?

Blaschke: Dass wir überhaupt so intensiv über Katar sprechen und, dass es dort jetzt ein Büro der Internationalen Arbeitsorganisation Interner Link: ILO gibt und die Menschenrechtsorganisation Amnesty dort regelmäßig aktiv ist – das hätte es meiner Meinung nach ohne die WM nicht gegeben. Die Frage ist nur, zu welchem Preis das passiert ist: Acht Stadien wurden in einem Staat am Persischem Golf gebaut, in dem es sehr heiß ist und die Stadien eigentlich langfristig nicht gebraucht werden. Auch die für die WM hochgezogene Infrastruktur wird für gerade einmal 300.000 Einheimische eigentlich nicht gebraucht.

bpb.de: Die Fifa wirbt: "Nachhaltigkeit stand von Anfang an im Zentrum der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft Katar 2022." Doch kann eine WM, bei der Stadien neu gebaut werden und dann voraussichtlich viele Jahre lang weitgehend leer stehen, nachhaltig sein?

Blaschke: Einige Stadien werden wieder zurückgebaut und eines soll sogar komplett abgetragen werden. Angeblich soll es laut Fifa die nachhaltigste WM überhaupt sein. Aber es gibt Kritikpunkte: Katar hat bislang fast nichts für erneuerbare Energien getan. Und es gibt zwar nun eine Metro, aber die wird von den Menschen kaum genutzt. Das Bewusstsein für die Klimakrise ist bei den Entscheidungsträgern im Land noch nicht vorhanden. So müssen die Kataris fast nichts für Gas und Strom bezahlen.

Dabei sind die Folgen der Klimakrise für die arabische Halbinsel dramatisch: Diese könnte Ende des 21. Jahrhunderts unbewohnbar sein. Aber vielleicht kann die WM in dieser Frage eine Diskussion im Land anstoßen. Wenn nun viele Touristen kommen, wird womöglich auch über diese Themen gesprochen.

Ein junger Mann an einer Plakatwand mit der Illustration des Maskottchens "La'eeb" der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar. (© picture-alliance, EPA | NOUSHAD THEKKAYIL)

bpb.de: Kommen wir noch einmal zu den Menschenrechten. In Katar droht Menschen, die mit Menschen desselben Geschlechts Sex haben, Auspeitschen und Gefängnisstrafen. Doch die Fifa sagt, jeder könne zur WM reisen. Wird Katar während der WM offener sein und anschließend wieder repressiver werden?

Blaschke: In Russland war das so während der Interner Link: WM 2018. Da gab es damals eine relativ offene Queer-Szene. Ich denke, das wird auch bei dieser Weltmeisterschaft so sein. So soll etwa die Regenbogenfahne erlaubt sein. Die Sicherheitskräfte werden sicher keine westlichen Touristen verhaften. Denn nach so etwas werden die vielen anwesenden Medien ja nur suchen. Aber man muss eben beobachten, wie es nach der WM weitergeht. Es gibt ja auch konservative Strömungen in Katar, denen die bisherigen Reformen schon zu weit gehen.

bpb.de: Wie steht es um die Rechte von Frauen?

Blaschke: Katar sagt von sich, man sei das Land der starken Frauen und verweist auf Frauen in Führungspositionen. 70 Prozent der Studierenden in der Education City, einem riesigen Campus am Rande von Doha, sind weiblich. Aber Fakt ist auch: Frauen müssen für etliche Dinge erst einen männlichen Vormund befragen, wenn sie etwa im Ausland studieren oder für den Staat arbeiten oder auch nur zum Gynäkologen wollen.

bpb.de: Kritiker sagen, Katar wolle die WM als Plattform für politische Propaganda nutzen. So verschenkt das Regime laut Medienberichten Reisen nach Katar samt Freikarten an Fans, wenn diese sich dazu verpflichten, positiv in den sozialen Medien zu berichten. Könnte der Plan aufgehen?

Blaschke: Auch andere Staaten, die Sportgroßveranstaltungen ausgerichtet haben, haben sehr viel Geld für Lobbyisten ausgegeben. Natürlich sind gerade PR-Agenturen aktiv. Aber es werden ja auch viele kritische Journalisten in das Land einreisen. Was mich mehr erstaunt ist, dass in Demokratien wie Japan, Südkorea und Indien, die sehr viel Gas aus Katar beziehen, fast gar nicht über Menschenrechtsverletzungen diskutiert wird.

In den USA wird ebenfalls nicht sonderlich ausgeprägt über die katarische Menschenrechtslage gesprochen. Wohl auch, weil der Fußball in den Vereinigten Staaten keine so wichtige Rolle spielt. So kritische Interner Link: Berichterstattung wie bei uns gibt es ansonsten etwa in Großbritannien den Niederlanden, Belgien oder Skandinavien – aber das war es dann auch schon.

bpb.de: Was sollten die Lehren aus der Katar-WM sein? Sollte das Vergabesystem reformiert werden?

Blaschke: Das Vergabesystem wurde bereits reformiert. Mittlerweile liegt die Vergabe nicht mehr beim FIFA-Exekutivkomittee, das nur aus nur 24 Mitgliedern besteht, sondern bei allen FIFA-Mitgliedern…

bpb.de: …aber die Kritik an den Turniervergaben hält ja weiter an…

Blaschke: Ja. Aber die Kritik wird fast nur hier in Deutschland laut. In Asien, Afrika und Südamerika gibt es die Forderung nach einer grundlegenden Fifa-Reform nicht. Es existiert keine Mehrheit im Verband für eine Reform.

bpb.de: Um die Pressefreiheit in Katar steht es nach Expertenansicht sehr schlecht. Im Ranking von "Reporter ohne Grenzen" kommt der Staat auf Platz 119 von 180. Spüren ausländische Journalistinnen und Journalisten die Repressionen genauso stark wie die katarischen?

Blaschke: Es sind bereits ausländische Journalisten festgesetzt worden. Auch müssen eingereiste Medienvertreter Tracking-Apps downloaden, mit denen sich ihre Standorte erfassen lassen und Einverständniserklärungen unterzeichnen. Doch es sind vor allem die Journalisten im Inland, die nicht frei berichten können. Es gibt ein Pressegesetz, das Zensur ermöglicht und ein Cyber-Law-Gesetz, das angebliche Fake News bestraft. Die Gesetze werden in der Praxis zwar kaum angewendet. Man setzt jedoch vor allem darauf, dass sich Berichterstatter aus Angst selbst zensieren. Es gibt aber einzelne Journalisten die lange in Haft sitzen.

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Der Berliner Journalist und Buchautor Ronny Blaschke beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den politischen und gesellschaftlichen Aspekten des Sports. Zu seinen Schwerpunktthemen gehören unter anderem Rechtsextremismus, Diskriminierung und Sportereignisse in autokratischen Staaten.