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Extremismus | bpb.de

Extremismus

Eckhard Jesse

Definition, Formen, Kritik

Der politische Extremismus (E.) ist dadurch gekennzeichnet, dass er den demokratischen Verfassungsstaat ablehnt oder ihn einschränken will – die demokratische Komponente und/oder die konstitutionelle. Alle Varianten des E. stehen demzufolge im Kern mit der Pluralität der Interessen, der Gewaltenteilung oder/und den Menschenrechten auf Kriegsfuß. E. basiert auf der Identitätstheorie der Demokratie, auf Freund-Feind-Stereotypen, auf einem hohen Maß an ideologischem Dogmatismus und in der Regel auf einem Missionsbewusstsein: Wer vom Glauben an ein objektiv erkennbares und vorgegebenes Gemeinwohl beseelt ist und sich im Besitz vermeintlich objektiver Gesetzmäßigkeiten wähnt, kann die Legitimität unterschiedlicher Meinungen und Interessen schwerlich dulden. Meistens ist auch die Akzeptanz von Verschwörungstheorien für extremistische Bestrebungen charakteristisch: Der eigene Misserfolg wird mit der Manipulation durch finstere Mächte erklärt. Der Begriff E. ist für antidemokratische Ideologien und Bewegungen besser geeignet – weil weniger konnotativ vorbelastet – als der des Radikalismus, welcher in der BRDtl. bis Mitte der 1970er-Jahre weite Verbreitung gefunden hatte und heute teilweise immer noch synonym gebraucht wird. Es gibt mit Blick auf Organisation, Ideologie und Strategie schwach und stark ausgeprägten E. Käme der E. an die Macht, schaffte er den demokratischen Verfassungsstaat ab oder schränkte wesentliche seiner Prinzipien ein. Die Forschung analysiert alle Dimension des E. intensiv (vgl. Backes et al. 1989 ff.; Pfahl-Traughber 2008).

Die Formen des E. sind höchst vielfältig: Es kommt auf die Art der eingesetzten Mittel ebenso an wie auf die der politischen Ziele. Wer politische Gewalt systematisch einsetzt, ist ein Terrorist. Am anderen Ende des politischen E. steht der Befürworter strikter Legalitätstaktik. Er verwirft Gewaltanwendung und -androhung. Dazwischen sind jene Positionen angesiedelt, die Gewalt zwar prinzipiell begrüßen, sie aber in der Praxis aus unterschiedlichen Gründen ablehnen. Der parteiförmige E., meistens fest organisiert, wendet in der Regel keine Gewalt an, propagiert sie auch nicht, während der subkulturelle E., oft schwach organisiert, Gewaltneigung erkennen lässt. Die Antwort auf die Gewaltfrage ist damit kein trennscharfes Kriterium für die Abgrenzung von E. und Demokratie.

Was die politische Zielrichtung angeht, so wird gemeinhin zwischen dem Links- und dem Rechtsextremismus differenziert. Mit Linksextremismus ist jene Art des E. gemeint, die alle Übel des „Systems“ in der Struktur der „kapitalistischen Klassengesellschaft“ sieht (Ausweg: „Kommunismus“) oder die den Staat generell ablehnt („Anarchismus“). Unter Rechtsextremismus versteht man einen häufig mit Rassismus verbundenen Nationalismus. Während der E. von rechts das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit ablehnt, stellt der E. von links dies – jedenfalls in der Theorie – nicht in Frage, verabsolutiert Gleichheit geradezu (auf Kosten der Freiheit). Obwohl rechts- und linksextremistische Bestrebungen, die sich jeweils wieder in unterschiedliche Richtungen aufspalten, einander heftig bekämpfen, benötigen ihre Repräsentanten sich gegenseitig: Die Warnung vor dem Rechtsextremismus („Antifaschismus“) nimmt bei Linksextremisten einen überdimensionalen Raum ein. Vice versa gilt das nicht im gleichen Maße. Das Hauptfeindbild für den Rechtsextremismus ist der „Fremde“, das für den Linksextremismus der kapitalistische Staat.

Der religiös ausgerichtete Fundamentalismus, etwa in Form des Islamismus, gilt als eine eigenständige Variante des E., jenseits von rechts und links. Er strebt einen „Gottesstaat“ an. In D. spielte der Fundamentalismus in der Vergangenheit eine eher untergeordnete Rolle. Alle drei Extremismen lehnen die westliche Demokratie ab und weisen ähnliche Feindbilder auf (etwa „den“ Westen). Zwischen den Extremismen gibt es keine zusammenarbeit.

Kritiker des Begriffs E., der eine lange Tradition hat, wenden ein, Analysen zum E. seien unterkomplex, staatszentriert, ideologiegesättigt. Auf diese Weise gerieten staatskritische Positionen ins gesellschaftliche Abseits. Höchst unterschiedliche Phänomene würden gleichgesetzt (Ackermann et al. 2015; Fuhrmann 2019). Die Kritik der Kritik lautet: Wer Parallelen und Unterschiede zwischen den Extremismen herausarbeitet, befleißigt sich keiner Gleichsetzung. Und wer den normativen Ansatz kritisiert, argumentiert meist selber mit einem solchen, nur einem anders geprägten. Wenn heute über den antiextremistischen Konsens kein Konsens mehr besteht, so ist dies ein Zeichen für die Erosion des Äquidistanzgebotes gegenüber rechts- und linksaußen. Das Wort vom E. der Mitte zielt auch gegen die etablierte Extremismusforschung. Für diese Position kommt die eigentliche Gefahr von der „Mitte“. Sie weicht grundlegend von dem Gebrauch des Begriffs bei Seymour M. Lipset ab, auf den der Topos vom „E. der Mitte“ zurückgeht. Dieser habe die Wurzeln in der Mittelschicht (Nationalsozialismus). Es ist daher notwendig, zwischen einer „sozialen Mitte“ und einer „politischen Mitte“ zu unterscheiden.

Organisierter Linksextremismus in Deutschland

Der organisierte Linksextremismus ist nach der weltweiten Agonie des Kommunismus im Allgemeinen und dem Zusammenbruch des „real-existierenden Sozialismus“ in der DDR im Besonderen zunächst in eine schwere Krise geraten. Aber er hat sich davon teilweise erholt. Nach dem Verfassungsschutzbericht von 2018 gehörten in D. ca. 32.000 Personen linksextremistischen Gruppierungen an (Verfassungsschutzbericht 2018). Zu den Aktionsfeldern zählen vor allem „Antifaschismus“, „Antirepression“ und „Antigentrifizierung“.

Der 1968 ins Leben gerufenen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), die vom „real existierenden Sozialismus“ der DDR ideologisch und finanziell abhängig war und nach wie vor kommunistische Prinzipien verficht, sind nur noch knapp 3000 Mitglieder geblieben. Sie verabschiedete 2006 ihr neues Grundsatzprogramm, das weiterhin eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft propagiert. Die 1982 gegründete Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) hält mit ihren ebenfalls knapp 3000 Mitgliedern nach wie vor an den Lehren von Mao Tse-tung, Lenin und Stalin fest. Für die einen Proletarierkult propagierende Partei war der Kommunismus in der Sowjetunion „entartet“, „revisionistisch“. Die trotzkistischen Gruppierungen, wegen ihres Kampfes um die „reine Lehre“ stark zersplittert, erreichen keine 0,1 Prozent. Die 1971 entstandene Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) umfasst lediglich 300 Mitglieder. Alle drei Parteien sind bei Wahlen ohne jeden Einfluss.

Anders sieht dies für eine Partei aus, die in einer Art Grauzone angesiedelt ist. Die aus der SED hervorgegangene Linkspartei.PDS fusionierte am 16.06.2007 mit der Partei Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG) unter dem Namen Die Linke. Die Linke mit ihren knapp 62.000 Mitgliedern (Ende 2018) ist zwar insgesamt keine extremistische Kraft mehr, aber sie bietet weiterhin Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen (z. B. halbherzige Absage an den „realen Sozialismus“; Fixierung auf den Kapitalismus als einem Hauptübel; Akzeptanz von offen verfassungsfeindlichen Plattformen in den eigenen Reihen). Im Grundsatzprogramm von 2011 fordert die Partei einen „Systemwechsel“. Durch den Zusammenschluss mit der WASG ist keine Entradikalisierung eingetreten. Vereinfacht ausgedrückt: Die Partei ist im Westen radikaler als im Osten, wo sie über einen deutlich höheren Stimmenanteil verfügt (Bundestagswahl 2017: Ost 17,8 %, West 7,4 %). Nachdem sie bei der Bundestagswahl 2002 mit 4,0 % an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, schaffte sie 2005 (8,7 %), 2009 (11,9 %), 2013 (8,9 %) und 2017 (9,2 %) wieder den Einzug in den Deutschen Bundestag. In Thüringen – hier erzielte die Partei bei der Landtagswahl 2019 mit 31,0 % ihr bestes Ergebnis – stellt sie seit 2014 mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten (in einer Koalition mit der SPD und den Grünen), und in Berlin ist sie seit 2016 Juniorpartner in einem rot-rot-grünen Koalition. Sie war zuvor Juniorpartner in Mecklenburg-Vorpommern (1998–2006) und in Brandenburg (2009–2019). Seit 2019 ist sie des erste Mal in der Regierung eines West-deutschen Bündeslandes vertreten (Bremen). In 10 von 16 Landtagen ist die Partei Repräsentiert (Stand: Ende 2019). Das Amt der Vorsitzenden haben seit 2012 Katja Kipping und Bernd Riexinger inne. Die bisherige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, Repräsentantin des linken Flügels, trat 2019 nicht mehr an. Zur neuen Vorsitzenden avancierte neben Dietmar Bartsch (seit 2015) Amira Mohamed Ali.

Organisierter Rechtsextremismus in Deutschland

Die verschiedenen Richtungen des organisierten Rechtsextremismus haben von der Wiedervereinigung zunächst nicht in dem erhofften Maße profitieren können. Dies änderte sich jedoch später. Nach dem Verfassungsschutzbericht für 2018 gibt es 24.000 organisierte oder nichtorganisierte Rechtsextremisten. Seit Jahren steht die heftige Kritik an der Migrationspolitik der Bundesregierung im Vordergrund der Kampagnen.

Die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist ungeachtet ihrer Schwäche weiterhin die stärkste Kraft im organisierten Rechtsextremismus. Diese Partei war in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre in sieben Landtage gekommen. Nach ihrem Scheitern bei der Bundestagswahl 1969 (4,3 %) konnte sie zunächst keine Erfolge mehr verbuchen. Auf dem Höhepunkt der Kampagnen gegen Hartz IV gelang ihr erstmals wieder der Einzug in einen Landtag (in SN 2004 mit 9,2 %). 2006 kam sie auf 7,3 % in MV. Diese Erfolge vermochte sie in beiden Ländern auf abgeschwächtem Niveau zu wiederholen (SN 2009: 5,6 %; MV 2011: 6,0 %). Die NPD trat von der zweiten Hälfte der 90er-Jahre an unter dem Vorsitzenden Udo Voigt mit der Drei-Säulen-Strategie („Kampf um den Wähler“, „Kampf um die Köpfe“, „Kampf um die Straße“), die 2004 um eine vierte Säule ergänzt wurde („Kampf um den organisierten Willen“), stark radikalisiert auf – neonationalsozialistische Tendenzen ließen sich nachweisen. Sie sieht in einer homogenen Volksgemeinschaft ein Modell für die Zukunft. Die aggressiv, bisweilen rassistisch agierende NPD verficht – anders als in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren – einen strikt antikapitalistischen Kurs und versucht auf diese Weise, beim „kleinen Mann“ anzukommen (vgl. Brandstetter 2013). Zwar ging die 1987 als Partei ins Leben gerufene Deutsche Volksunion (DVU), die 1998 in ST mit dem besten Ergebnis einer Rechtsaußenpartei in einem Land [12,9 %] ebenso in das Parlament eingezogen war wie 1999 und 2004 in BB, 2011 in der NPD auf, aber diese wurde in den letzten Jahren immer schwächer. Sie umfasst unter ihrem seit 2014 amtierenden Vorsitzenden Frank Franz nur noch 4000 Mitglieder (Ende 2018), und sie erreichte bei der Bundestagswahl 2017 lediglich 0,4 %, also nicht einmal das für die staatliche Parteifinanzierung nötige Quorum von 0,5 %.

Die beiden Parteien Die RECHTE, gegründet 2012, und Der III. Weg, gegründet 2013, entstanden wohl nicht zuletzt als Auffangbecken für NPD-Anhänger, da zeitweise mit einem Verbot dieser politischen Kraft gerechnet werden musste. DIE RECHTE, mit einem gewissen Schwerpunkt in NRW, verfügt über 600 Mitglieder, der III. Weg, der am ehesten in Sachsen aktiv ist, über 530. Beide politischen Kräfte sind stark neonationalsozialistisch orientiert und bundespolitisch ohne jeden Einfluss. Sie kommen bei Wahlen, an denen sie teilnehmen müssen, um nicht den Parteienstatus zu verlieren, nicht mehr als 0,1 %.

Ganz anders fällt das Urteil über die Alternative für Deutschland (AfD) aus. Gegründet im Jahre 2013 durch Bernd Lucke vor allem als euroskeptische Partei, richtete sie ihre Kritik in erster Linie auf die Europäische Union im Allgemeinen und den Euro im Besonderen. 2015 wurde Lucke auf dem Essener Parteitag durch die bisherige Co-Vorsitzende Frauke Petry abgewählt. In der Folge setzte eine massive Kritik an der teils ungeordneten Zuwanderung durch Migranten ein, vor allem 2015/2016. Die Radikalisierung der AfD führte schließlich zum Verlassen der Partei durch Petry, bedingt auch durch deren Alleingänge. In der Folge war Alexander Gauland als Fraktions- (neben Alice Weidel) und Parteivorsitzender (neben Jörg Meuthen) der einflussreichste und auf Integration zwischen den verschiedenen Kräften bedachte Politiker in der AfD. 2015 entstand innerhalb der AfD Der Flügel, eine von Björn Höcke geführte Gruppierung, die der Verfassungsschutz im Januar 2019 als Verdachtsfall für rechtsextremistische Positionen bezeichnet hatte (neben der Jungen Alternative) und der etwa ein Drittel der Mitglieder zuzurechnen sind. So äußert Der Flügel scharfe Kritik am Islam, nicht nur am Islamismus. Auf dem Parteitag im November 2019 wurden Meuthen und der Sachse Tino Chrupalla, ein Protegé Gaulands, der nicht mehr antrat, zum Bundessprecher gewählt. Das nunmehrige Ziel Gaulands und der Mehrheit der AfD ist, als „bürgerliche“ Kraft, die eine Kooperation mit der Union und der FDP austrebt, anerkannt zu werden. Union und FDP widersetzen sich bisher diesem Anliegen.

War die AfD bei der Bundestagswahl 2013 mit 4,7 % knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert, so erreichte sie 2017 12,6 % (Ost: 21,9 %, West 10,7 %), wurde damit drittstärkste Kraft und größte Oppositionspartei im Parlament. Sie ist mittlerweile in allen 16 Landtagen vertreten. In den neuen Bundesländern, in denen sie radikaler auftritt als in den alten, avancierte sie jeweils zur zweitstärksten Kraft (SN 2019: 27,5 %, ST 2016: 24,3 %; BB 2019: 23,5 %; TH 2019: 23,4 %; MV 2016: 20,8 %). Die AfD ist ungeachtet einzelner Tendenzen insgesamt keine rechtsextremistische Partei, sondern eine rechtspopulistische, die „das Volk“ gegen „die Elite“ ausspielt.

Islamismus in Deutschland und extremistische Bestrebungen von Ausländern

Der in mehrere Richtungen gespaltene Islamismus ist die in D verbreitetste Form des Fundamentalismus. Nach den Daten des Verfassungsschutzes gibt es ein Islamismuspotenzial von knapp 27.000 Personen. Die bei weitem größte Gruppierung stellt mit 10.000 Mitgliedern die 1985 gegründete Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) dar, die türkischen Ursprungs ist und deren Gedankengebäude wesentlich auf Ideen des 2011 verstorbenen Necmettin Erbakan zurückgeht. Die westliche Demokratie wird ebenso verworfen wie jede Form des Kommunismus und des Nationalismus. Die IGMG – eine extremistische Organisation, aber keine gewalttätige – strebt eine weltweite enge Zusammenarbeit aller islamisch geprägten Staaten an. Was Gewalttaten von Islamisten betrifft (diese müssen keine Ausländer sein), so ist D. mittlerweile nicht nur Rückzugsraum, sondern auch Operationsgebiet, wie Anschläge belegen Die Zahl der Gewalttaten im Bereich des Islamismus lag 2018 bei 44 (2017: 65). Viele Straftaten sind antisemitischer Natur.

Bei den extremistischen Bestrebungen von Ausländern (ohne Bezug zum Islamismus) handelt es sich nach den Angaben des Verfassungsschutzes um ein Personenpotenzial vom 30.000 (Ende 2018), wobei allein die Hälfte zu den Mitgliedern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gehört. Das 1993 ausgesprochene Betätigungsverbot für die PKK wird immer wieder unterlaufen. Die 11.000 Rechtsextremisten gehören einer nationalistischen türkischen Bewegung an, welche die eigne Ethnie überhöht. Das Charakteristische dieses Ausländerextremismus besteht darin, dass erbitterte Streitigkeiten aus den Herkunftsländern in D. ihre Fortsetzung finden.

Vergleich

Im Vergleich zur rechten Variante des E. ist die linke in D. lange stärker präsent gewesen, zumal die DDR einen ideologischen, organisatorischen und finanziellen Rückhalt bot. Allerdings war die Existenz der DDR für die extreme Linke nicht nur von Vorteil: Wer mit ihr sympathisierte, machte sich unglaubwürdig. Da der Nationalsozialismus einen Zivilisationsbruch herbeigeführt hatte, war jede rechte Richtung von vornherein in der Defensive.

Das Gefahrenpotenzial des politischen E. misst sich an verschiedenen Kriterien. Zu den wichtigsten gehören die Wahlerfolge, der Organisationsgrad, die Art der Ideologie, der extremistische Handlungsstil, die in der Bevölkerung verbreiteten extremistischen Einstellungen sowie die verschiedenen Möglichkeiten extremistischer Infiltration. Während die extreme Linke im intellektuellen Milieu durchaus über gewissen Einfluss verfügt(e), dürfte das rechtsextreme Einstellungspotenzial bei Teilen der breiten Bevölkerung stärker zu mobilisieren sein. Angesichts der historischen Last hat es jede Form des Rechtsextremismus allerdings nach wie vor schwer, Akzeptanz zu finden. Alle gesellschaftlichen Eliten beziehen entschieden Stellung gegen jeden E. von rechts.

Es liegt auf der Hand, dass der linke Extremismus in den neuen Bundesländern – zumal in seiner weichen Variante – stärker ist als in den alten. Schließlich hatte die DDR eine Reihe von Integrationsmechanismen geschaffen, die Teile der Bevölkerung guthießen und noch immer gutheißen. Schwerer zu erklären ist das höhere Ausmaß an Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Sozialisations- und situationsbedingte Faktoren spielen gleichermaßen eine Rolle. Die DDR war keine weltoffene Gesellschaft, und die Auseinandersetzung mit der leidvollen Vergangenheit fiel oberflächlich aus. „Man“ gehörte zu den „Siegern der Geschichte“. Die situativen Faktoren scheinen gleichwohl erklärungskräftiger zu sein.

Den stärksten Einfluss innerhalb des linksextremistischen nicht-parteiförmigen Spektrums spielen die weder zentral organisierten noch ideologisch einheitlich orientierten sogenannten „Autonomen“, die mit militant-gewalttätigen Aktionen aufwarten, etwa beim G8-Gipfel in Hamburg 2017. Den gewaltbereiten Kräften von links sind Ende 2018 etwa 9000 Personen zuzurechnen, 7400 unter ihnen bezeichnen sich selbst als „Autonome“, wobei die „Szene“ es versteht, bei bestimmten Aktionen – vor allem im „antifaschistischen“ Kampf – zusätzliche Anhänger zu mobilisieren. Die zum Teil antiimperialistisch, zum Teil antideutsch ausgerichtete „Szene“ ist einerseits durch Massenmilitanz gekennzeichnet (z. B. am 1. Mai), andererseits durch klandestine Aktionen (z. B. Brandanschläge).

Das rechtsextremistische, nicht-parteiförmige Spektrum, ist seit der deutschen Einheit stärker. Zumal in den neuen Bundesländern hat die rechtsextremistische Subkultur mit gewalttätigen Aktionen gegen Migranten oft für negative Schlagzeilen gesorgt. Die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, vornehmlich im jugendlichen Alter, liegt nach Angaben des Verfassungsschutzes für das Jahr 2018 bei 13.000 Personen. Zum Teil gibt es strukturelle Analogien zum Pendant von links (keine Eingliederung in Organisationen mit fester Struktur; Übernahme des Kleidungsstils; Modifikation von Slogans der Gegner). Freilich ist die Logistik in der rechtsextremen „Szene“ schwächer.

Während ein Großteil der Gewalttaten von rechtsaußen eher spontan geschieht, weist die Szene linksaußen eine weit intensivere Planungsintensität aus. Unterschiede in der Tatspezifik (der prozentuale Anteil der Körperverletzungen ist rechts höher, derjenige der Landfriedensbrüche links) gehen z. T. auf die unterschiedliche soziale Charakteristik der Akteure zurück. Für den rechten Rand gilt: niedrigeres Durchschnittsalter, geringerer Bildungsstand, stärkeres männliches Übergewicht, größere Neigung zu körperlicher Gewalt. Während die rechte Gewalt eher expressiv ist (Gewalt als Selbstzweck), ist die von links stärker instrumentell bestimmt (Gewalt als Mittel zum Zweck). Im Jahr 2018 gab es 1010 (2017: 1648) extremistisch motivierte Gewalttaten von links und 1088 (2017: 1054) von rechts. 2018 lag die Zahl der Gewalttaten von Linksextremisten gegen (tatsächliche oder vermeintliche) Rechtsextremisten bei 289 (2017: 264), die der von Rechtsextremisten gegen (tatsächliche oder vermeintliche) Linksextremisten bei 113 (2017: 98). Bei der Konfrontationsgewalt weist die linke Szene eine bessere Vernetzung auf. Das ist die eine Seite. Die andere: Tötungsdelikte gehen weitaus stärker auf die Szene von rechtsaußen zurück.

Auch im intellektuellen Umfeld fallen gravierende Unterschiede auf. Rechtsextremisten konnten kaum einen Einfluss auf die Mehrheitskultur gewinnen. Die Versuche, im intellektuellen Milieu Anhänger zu finden (verbreiteter, aber ungenauer Begriff: „Neue Rechte“), sind begrenzt erfolgreich. Die Identitäre Bewegung, die der Verfassungsschutz wegen des propagierten Ethnopluralismus als extremistisch einstuft, ist ungeachtet spektakulärer Aktionen ohne sonderliche Ausstrahlungskraft. Hingegen sind Linksextremisten im intellektuellen Milieu weitaus weniger ausgegrenzt. Sie verbinden ihren „Antifaschismus“ mit Attacken gegen das etablierte Gesellschaftssystem.

Der E. sucht den Eindruck hervorzurufen, der demokratische Verfassungsstaat müsse vor den drängenden Problemen der Gegenwart kapitulieren – sei es Arbeitslosigkeit, sei es Zuwanderung. Die politische Kultur in D. dürfte so gefestigt sein, dass extremistische Erfolge nicht die Demokratie gefährden, mag auch die Zunahme der Liberalität – ein charakteristisches Indiz für den Wandel der politischen Kultur – insofern ambivalent sein, als sie Erosionstendenzen gegenüber dem E. begünstigt, zumal dem von links. Allerdings: Die Gewalt könnte durch das gegenseitige „Bekriegen“ linker und rechter Chaoten Fahrt aufnehmen. Vollmundige Parolen der einen Seite werden von der anderen für bare Münze genommen. Auch das ist ein Beispiel für das Wechselspiel von rechtsaußen und linksaußen. Wer auf alle Seiten des politischen E. schaut, trägt dem Äquidistanzgebot Rechnung. Hehre Ziele rechtfertigen niemals schnöde Mittel (vgl. Backes und Jesse 2006; Jesse und Mannewitz 2018).

Streitbare Demokratie

Das mit den Namen von Karl Loewenstein und Karl Mannheim verbundene Konzept der streitbaren Demokratie liegt dem Grundgesetz zugrunde. Das Schicksal der Weimarer Republik warf die Frage auf, ob die Demokratie nicht Mechanismen zum eigenen Schutz vorsehen kann und soll. Der zentrale Gedanke: den Demokratieschutz in den Bereich des legalen politischen Handelns vorzuverlagern. Die Demokratie Weimarer Prägung konnte gegenüber solchen Gruppierungen nichts unternehmen, da diese (überwiegend) nicht gegen Gesetze verstoßen hatten. Gemäß der Konzeption der streitbaren Demokratie mit ihrem Dreiklang von Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und Vorverlagerung des Demokratieschutzes gibt es nicht nur verfassungsfeindliche Methoden, sondern auch verfassungsfeindliche Ziele.

Die junge westdeutsche Demokratie reagierte zunächst verunsichert. 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP) verboten, 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Die Bundesrepublik wollte mit den beiden Verboten Exempel statuieren. Diese waren nicht nur rechtmäßig, sondern wohl auch zweckmäßig. Im Jahr 2001 wurde vom Bundestag, vom → Bundesrat und von der → Bundesregierung jeweils ein Verbotsantrag gegen die NPD beim → Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das Verfahren scheiterte zwei Jahre später in einer Prozessentscheidung, keiner Sachentscheidung. Eine Beobachtung durch V-Leute in den Vorständen der Partei unmittelbar vor dem Verbotsantrag oder gar noch danach stelle ein nicht behebbares Verfahrenshindernis dar (vgl. Flemming 2005). Diese Prozessentscheidung, keine Sachentscheidung, stellte der NPD damit zwar keinen Freifahrtschein aus, doch nahm die streitbare Demokratie Schaden. Im Dezember 2013 reichte der Bundesrat erneut einen Verbotsantrag ein. Nach der dreitägigen mündlichen Verhandlung Anfang März 2016 wies das Bundesverfassungsgericht am 17. Januar 2017 in einem einstimmig ergangenen Urteil den Verbotsantrag ab. Über weite Strecken belegt es den verfassungsfeindlichen Charakter der Partei: ihren Verstoß gegen die Menschenwürde (mit der ethnisch-homogen interpretierten „Volksgemeinschaft“), ihre Verletzung des Demokratieprinzips, erkennbar etwa im sozialrevolutionären Selbstverständnis, ihre Verwandtschaft zum Nationalsozialismus (z. B. im Rückgriff auf dessen Vokabular und Symbolik). Gleichwohl teilte das Gericht keineswegs die Position des Antragstellers: Zwar verfolge die Partei ihre verfassungsfeindlichen Ziele planvoll, aber sie habe weder Aussicht, diese durchzusetzen noch gebe es hinreichende Anzeichen für eine massive Beeinträchtigung der Freiheit. Die NPD erhielt keinen „Persilschein“ – das Urteil glich einem Freispruch zweiter Klasse: So entfiel die Erstattung der Kosten für die NPD (vgl. Meier et al. 2017).

Bis zum Inkrafttreten des Vereinsgesetzes im Jahr 1964 war von der Bestimmung des Art. 9 Abs. 2 GG rege Gebrauch gemacht worden: Die Ausschaltung von insgesamt 64 Vereinigungen aus dem politischen Leben hat der Liberalität wohl eher geschadet, die innere Sicherheit kaum gestärkt. Seit 1964 sind vom Bundesministerium des Innern ausschließlich ausländische Vereinigungen (etwa der islamistische „Kalifatsstaat“ 2001) oder rechtsextremistische deutsche (z. B. die Wiking Jugend 1994) verboten worden (vgl. Gerlach 2012). Aber eine linksextremistische deutsche Vereinigung hat seit mehr als einem halben Jahrhundert kein Verbot mehr getroffen. Wurde 2011 die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (mit 600 Mitgliedern) verboten, so existiert die 1975 ins Leben gerufene Rote Hilfe, die 9200 Mitglieder (Ende 2018) umfasst, weiterhin unbehelligt. Sie unterstützt „politische Gefangene“ aus dem linksextremistischen Milieu, sofern diese sich nicht von ihren Taten distanzieren und eine Zusammenarbeit mit den staatlichen Organen ablehnen. Die vier Anträge gegen Rechtsextremisten auf Grundrechtsverwirkung gemäß Art. 18 GG – 1960 gegen Otto Ernst Remer, 1969 gegen Gerhard Frey, 1992 gegen Heinz Reisz und gegen Thomas Dienel – scheiterten sämtlich. Da für den demokratischen Verfassungsstaat die Herausforderung von organisierten Kräften ausgeht, ist der Artikel nicht effizient und wohl kein Zeichen demokratischer Souveränität.

Streitbare Demokratie bedeutet nicht nur Repression, sondern auch Prävention. Vom Jahre 2000 an werden Präventionsprogramme gegen Rechtsextremismus und dessen Gewalt durch die jeweiligen Bundesregierungen gefördert, mit der Schwarz gelben Regierung von 2009 an auch solche gegen Linksextremismus und Islamismus, freilich in einem weitaus bescheideneren Maße. Als bekannt wurde, dass die Bundesministerien die Vergabe der Gelder im Kampf gegen jede Art des Extremismus von einer Bekundung abhängig machten, wonach die Träger der Projekte eine „Demokratieerklärung“ („Extremismusklausel“) zu unterschreiben und die Akzeptanz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auch für die mit ihnen zusammenarbeitenden Initiativen zu bestätigen hatten, löste dies Kritik von linker Seite aus. In der Zeit der zweiten Großen Koalition (2013–2017) wurde diese „Demokratieerklärung“ abgeschafft.

Die in der Bundesrepublik geltende Konzeption der streitbaren Demokratie unterscheidet sich sowohl von der formalen Demokratie des Weimarer Musters als auch von einem Demokratietyp, der nach außen streitbare Elemente meidet, faktisch aber, jedenfalls teilweise, für ihre Geltungskraft indirekt Sorge trägt, durch die Bekämpfung von Extremisten in einer „diskreteren“, weniger auffälligen Art. Insofern sollte der Begriff des deutschen Sonderwegs nicht umstandslos verwendet werden.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Eckhard Jesse

Fussnoten