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Der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS)

Guido Steinberg

/ 11 Minuten zu lesen

Kaum eine andere islamistische Gruppe steht derzeit so stark im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit wie die ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien). Woher kommt die militante Gruppe? Welche Rolle spielt sie im Syrien-Krieg? Und wie hängt sie mit al Qaida zusammen?

Kämpfer der islamistischen ISIS im Januar 2014 in der Provinz Anbar im Irak. (© picture-alliance/AP)

Im Juni 2014 nahm der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS) weite Teile des West- und Nordwestirak einschließlich der Millionenstadt Mosul ein. Kurz darauf erklärte sich ihr Anführer Abu Bakr al-Baghdadi zum Kalifen aller Muslime und nannte seine Organisation kurzerhand in "Islamischer Staat" (IS) um. Die großspurige Rhetorik konnte aber nicht verdecken, dass es sich bei dem ISIS nur um eine militante Organisation handelte, die unter häufig geänderten Namen erst seit dem Jahr 2000 bestand und vor Mitte 2014 nie über mehr als 10.-20.000 Kämpfer verfügte. Ihr Gründer war der jordanische Terrorist Abu Musab az-Zarqawi (1966-2006), der seine Anhänger 2003 in den Irak führte, wo er und seine Nachfolger die amerikanischen Besatzungstruppen und den neuen irakischen Staat bekämpften. Trotz zahlreicher Rückschläge gelang es der Organisation, nach dem Rückzug der USA Ende 2011 wieder zu erstarken, ihre Aktivitäten auf Syrien auszuweiten und 2014 auch im Irak in die Offensive zu gehen.

Abu Musab az-Zarqawi und die Genese des ISIS

Die Ideologie und Strategie des ersten Anführers Abu Musab az-Zarqawi prägt die Geschichte von ISIS bis heute. Der Jordanier gründete im Jahr 2000 die Organisation "Tauhid" (= Bekenntnis zur Einheit Gottes) als Sammelbecken für Jihadisten aus Jordanien, Palästina, Syrien und dem Libanon. Obwohl er sein Hauptquartier in Afghanistan aufschlug und enge Kontakte zur Führung der al-Qaida unterhielt, vermied er es, sich der Organisation anzuschließen. Vielmehr erteilten ihm die damals in Afghanistan herrschenden Taliban die Erlaubnis, ein Trainingslager nahe der Stadt Herat einzurichten. Zarqawis Ziele waren zunächst begrenzt und spiegelten die stark jordanische und palästinensische Zusammensetzung seiner Gruppierung wider: Er wollte das Königshaus in seinem Heimatland Jordanien stürzen und anschließend "Jerusalem befreien".

Ende 2001 flohen Zarqawi und seine Anhänger aus Afghanistan. Sie reisten über den Iran in den Nordirak, wo Zarqawi die amerikanisch-britische Invasion abwartete, die im Frühjahr 2003 zum Sturz Saddam Husseins führte. Ab Sommer 2003 brach ein Aufstand gegen die fortgesetzte amerikanische Präsenz aus, der von zahlreichen sunnitischen Gruppen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung getragen wurde. Eine der größten wurde von Zarqawi angeführt, dem es gelang, zahlreiche Iraker in seine Organisation zu integrieren, die er nun "at-Tauhid wa-l-Jihad" (Einheitsbekenntnis und Heiliger Krieg) nannte. Im Oktober 2004 schon folgte die nächste Umbenennung, als Zarqawi einen Gefolgschaftseid auf den al-Qaida-Führer Usama Bin Laden leistete und fortan als Emir von "al-Qaida im Zweistromland" (al-Qaida fi Bilad ar-Rafidain) fungierte. Die Integration vieler Iraker in die Gruppierung führte auch zu einer Ausweitung der Ziele der irakischen al-Qaida. Zunächst sollten die amerikanischen Truppen aus dem Irak vertrieben und ein islamischer Staat aufgebaut werden. Anschließend würden die Jihadisten den bewaffneten Kampf in die Nachbarländer Syrien, Libanon und Jordanien tragen, um anschließend Israel zu bekämpfen und Jerusalem zu erobern.

Zarqawis Strategie im Irak war ebenso simpel wie gewagt und letzten Endes selbstzerstörerisch. Durch möglichst Aufsehen erregende, brutale und opferreiche Anschläge auf schiitische Würdenträger, Heiligtümer, Sicherheitskräfte und Zivilisten wollte er Gegenschläge gegen die sunnitische Bevölkerung provozieren und sich in dem folgenden Bürgerkrieg zum wichtigsten Verteidiger der Sunniten aufschwingen. Der Bürgerkrieg brach tatsächlich aus, nachdem die irakische al-Qaida im Februar 2006 die den Schiiten besonders geheiligte Askariya-Moschee in Samarra bei einem Bombenanschlag zerstörte. Es zeigte sich schnell, dass al-Qaida entgegen ihrer Ankündigungen nicht in der Lage war, die Sunniten vor den schiitischen Milizen zu schützen – schon allein deshalb, weil Schiiten rund 60% und arabische Sunniten weniger als 20% der irakischen Bevölkerung stellen. Viele sunnitische Gruppierungen gaben ab September 2006 den bewaffneten Kampf auf, machten Frieden mit den amerikanischen Besatzern und wandten sich gegen al-Qaida. Zarqawi selbst erlebte den Niedergang seiner Schöpfung nicht mehr, denn im Juni 2006 wurde er bei einem amerikanischen Luftangriff getötet.

Zwei jihadistische Denkschulen

Der öffentliche Anschluss an al-Qaida 2004 konnte nie verdecken, dass es sich bei Zarqawis Gruppe (und später auch bei ISIS) um eine unabhängige Organisation handelte, die eine grundsätzlich andere jihadistische Denkschule vertrat als die al-Qaida-Zentrale in Pakistan. Beide Gruppierungen teilten zwar wichtige Ziele wie die Bekämpfung der US-Präsenz im Mittleren Osten, doch konnten sie sich nie auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen. Streitpunkte waren vor allem Zarqawis antischiitische Strategie, sein kompromissloser Führungsanspruch gegenüber anderen sunnitischen Gruppen und seine brutalen Gewalttaten allgemein.

Dass Zarqawi sich überhaupt al-Qaida anschloss, dürfte ganz profane Gründe gehabt haben. al-Qaida verfügte über Finanzierungs- und Rekrutierungsnetzwerke in den arabischen Golfstaaten, zu denen Zarqawi mit der Umbenennung Zugang erhielt. Es zeigte sich jedoch schon 2005, dass die Beziehungen zwischen der irakischen al-Qaida und der Zentrale gespannt waren. Zwar hielten auch Usama Bin Laden und seine Anhänger die Schiiten für Ungläubige. Dennoch lehnten sie direkte Angriffe auf die Schiiten ab, weil sie in erster Linie die USA bekämpfen und nicht unnötig einen weiteren Gegner provozieren wollten. Der Bin Laden-Stellvertreter Aiman az-Zawahiri machte dies in einem Brief an Zarqawi aus dem Jahr 2005 deutlich, als er den Jordanier ermahnte, dass seine antischiitische Strategie und die enthemmte Gewalt gegen Zivilisten al-Qaida die öffentliche Unterstützung raubten. Als sich Zarqawi jedoch weigerte, dem Rat aus Pakistan zu folgen, sah die al-Qaida-Zentrale keine Möglichkeit, sich durchzusetzen und fand sich stillschweigend mit der Strategie ihrer "Filiale" im Irak ab.

Die Aktivitäten der irakischen Organisation vermittelten der Weltöffentlichkeit den Eindruck, dass sie es bei al-Qaida mit einem globalen Netzwerk zu tun hatte, das in der Lage war, die amerikanische Supermacht im Irak an den Rand einer Niederlage zu bringen. Außerdem hatte der Anschluss der Zarqawi-Gruppe den Vorteil, dass diese neben den Irakern vor allem Jordanier, Palästinenser, Syrer und Libanesen an al-Qaida band. Die Organisation hatte unter diesen Nationalitäten vor 2004 kaum Rekruten gewinnen können, weil sie ihr vorwarfen, sich nicht für ihre Anliegen wie vor allem den Kampf gegen Israel zu einzusetzen. Dies war insofern richtig, als al-Qaida in erster Linie die USA bekämpfte, um deren Rückzug aus der arabischen Welt zu erzwingen und anschließend die Regime in ihren Heimatländern Saudi-Arabien und Ägypten zu stürzen. Dem entsprechend wurde al-Qaida vor 2004 häufig als eine ägyptisch-golfarabische Organisation angesehen, die sie ausweislich ihrer Personalstruktur auch war. Sie bestand mehrheitlich aus Saudi-Arabern, Jemeniten, Kuwaitis und Ägyptern. Der durch Zarqawi erschlossene neue Rekrutierungspool schien der al-Qaida-Führung eine attraktive Kompensation für die fehlende Kontrolle über Zarqawis Aktivitäten zu sein, so dass sie ihn gewähren ließ.

Zum Bruch kam es erst 2013/14, als die bis dahin latente Konkurrenz zwischen der al-Qaida-Zentrale und der irakischen al-Qaida (ISIS) über die Frage, wer in Syrien das Kommando haben solle, zu einem offenen Konflikt wurde. ISIS beharrte in der Tradition Zarqawis auch dort auf einem unbedingten Alleinvertretungsanspruch und bekämpfte alle anderen Aufständischen. Der neue al-Qaida-Führer Zawahiri stand hingegen für die konkurrierende Denkschule, der zufolge die Jihadisten auf allen Kriegsschauplätzen Verbündete suchen und pragmatisch mit denen zusammenarbeiten sollten.

Niederlage und Wiedererstarken im Irak

Nach Zarqawis Tod 2006 konnte die Organisation ihren charismatischen Führer zunächst nicht adäquat ersetzen. Sein Nachfolger wurde der weithin unbekannte Ägypter Abu Ayyub al-Masri (alias Abu Hamza al-Muhajir), der die Organisation bis zu seinem Tode im April 2010 faktisch führte. Ihm wurde jedoch mit Abu Umar al-Baghdadi (ursprünglich Hamid az-Zawi) ein Iraker zur Seite gestellt. Als die irakische al-Qaida im Oktober 2006 die Gründung des "Islamischen Staates Irak” (ISI) verkündete, wurde Baghdadi Emir und al-Masri nur Kriegsminister. Hier ging es vor allem darum, gegenüber der einheimischen Bevölkerung den irakischen Charakter des ISI hervorzuheben, der im Ruf stand, von ausländischen Jihadisten dominiert zu sein. Baghdadi war jedoch nicht viel mehr als das Aushängeschild, während die tatsächliche Kommandogewalt bei Masri lag.

Gleichzeitig geriet die Organisation in die Defensive. Mit dem Beginn des Bürgerkrieges zeigte sich schnell, dass ISI zwar in der Lage war, einen Bürgerkrieg zu provozieren, nicht aber, die sunnitische Bevölkerung vor den Gegenschlägen schiitischer Milizen zu schützen. Hinzu kam, dass ISI gewaltsam gegen andere sunnitische Aufständische vorging, die sich seinem Führungsanspruch nicht beugen wollten. Viele nichtjihadistische Aufständische entschlossen sich deshalb ab September 2006, in Verhandlungen mit den US-Truppen zu treten. Die ehemaligen Aufständischen verpflichteten sich, Angriffe auf US- und irakische Truppen einzustellen und fortan gegen den ISI zu kämpfen. Im Gegenzug versorgten die US-Truppen ihre neuen Verbündeten mit Geld und Waffen. Ende 2007 zählten die Mitglieder der auf diese Weise auch in Bagdad und Umgebung entstandenen Milizen, die sich "Räte des Erwachens" (sahawat) nannten, bereits mehr als 70 000 Angehörige. Gemeinsam mit diesen Hilfstruppen gingen auch die amerikanischen Truppen immer effektiver gegen den ISI vor.

Im Laufe des Jahres 2007 wurde allzu deutlich, dass der ISI immer schwächer wurde; die sunnitische Aufstandsbewegung löste sich auf. Seit spätestens 2008 zeichnete sich ab, dass der ISI trotz einer weiterhin hohen Zahl von Anschlägen nicht mehr in der Lage sein würde, die Stabilität des irakischen Staates zu gefährden. Eine weitere Schwächung bedeutete der Tod der beiden Anführer, Masri und Abu Umar al-Baghdadi, in einem Gefecht mit irakischen und amerikanischen Truppen im April 2010.

Im Bürgerkrieg in Syrien

Im Nachbarland Syrien setzte 2011 zunächst ein Aufstand gegen das Regime des Präsidenten Bashar al-Assad ein, der schnell in einen Bürgerkrieg mündete. Abu Bakr al-Baghdadi (ursprünglich Ibrahim al-Badri) schickte im Sommer 2011 eine Gruppe syrischer Kämpfer in ihr Heimatland, die im Auftrag des ISI dort die Hilfsfront für die Menschen Syriens (Jabhat an-Nusra li-Ahl ash-Sham) gründeten. Unter der Führung des Syrers Abu Muhammad al-Jaulani wurde die Nusra-Front im Laufe des Jahres 2012 zu der mit Abstand wichtigsten jihadistischen und auch zu einer der stärksten aufständischen Gruppierungen. Die Organisation profitierte davon, dass Syrer im Aufstand im Irak ab 2003 eines der größten ausländischen Kontingente gestellt hatten und fast alle ausländischen Kämpfer über Syrien anreisten. Die Nusra-Front konnte sich auf die damals aufgebauten Logistiknetzwerke im Norden und Osten Syriens stützen.

Je stärker die Nusra-Front wurde, desto schlechter wurde das Verhältnis zwischen Baghdadi und Jaulani, weil der Syrer versuchte, sich der Kontrolle durch den ISI zu entziehen. Der Konflikt hatte auch eine ideologische Dimension, denn die Nusra-Front folgte so gar nicht dem Vorbild ihrer irakischen Mutterorganisation. Vielmehr orientierte sie sich an den Vorgaben der al-Qaida-Führung und baute auf enge Kontakte zu den nichtdschihadistischen Aufständischen, um so Assad möglichst rasch zu stürzen. Als sich abzeichnete, dass Baghdadi die Kontrolle über Jaulani vollends verlieren würde, erklärte er in einer Audiobotschaft vom 8. April 2013, dass die Nusra-Front lediglich der verlängerte Arm des ISI und ein integraler Bestandteil desselben sei. Die Bezeichnungen "Nusra-Front" und "Islamischer Staat Irak", so Baghdadi, würden zugunsten des neuen gemeinsamen Namens "Islamischer Staat im Irak und Syrien" abgeschafft.

Auf die Erklärung Baghdadis folgte eine virtuelle Auseinandersetzung zwischen der Nusra-Front und ISIS, in die im Juni auch al-Qaida-Führer Aiman az-Zawahiri eingriff. Zunächst weigerte sich Jaulani in einer am 10. April veröffentlichten Audiobotschaft, die Nusra-Front Baghdadi zu unterstellen. Vielmehr suchte er Unterstützung bei Zawahiri, indem er ihm Gefolgschaft schwor. Der al-Qaida-Führer sah sich nun auch genötigt, in den Konflikt zwischen den beiden al-Qaida-"Filialen" einzugreifen. Er stützte die Position Jaulanis, indem er dekretierte, dass der ISIS aufzulösen sei und der ISI und die Nusra-Front unabhängig voneinander und unter dem Oberbefehl der al-Qaida-Zentrale in ihrem jeweiligen Heimatland operieren sollten. Baghdadi weigerte sich aber, dem Folge zu leisten, so dass Zawahiri ihn im Januar 2014 später aus dem al-Qaida-Verbund ausschloss.

Parallel zu diesen Auseinandersetzungen übernahmen ISIS-Einheiten ab Frühsommer 2013 schrittweise Stützpunkte der Nusra-Front im Osten und Norden des Landes. Sie profitierten davon, dass viele Nusra-Führer und Mitglieder zu ihnen überliefen. ISIS kämpfte zwar gelegentlich gegen Regimetruppen, konzentrierte sich aber darauf, seinen Einfluss in dem bereits von Rebellen gehaltenen Gebiet auszuweiten. Ab Sommer nahmen die Konflikte zu, weil ISIS immer häufiger Gewalt anwandte und zahlreiche Kommandeure konkurrierender Gruppen ermordete. Im Dezember eskalierten die Spannungen vor allem zwischen ISIS und der Islamischen Front – einem Bündnis islamistischer und salafistischer Gruppierungen unter der Führung der Freien Männer von Syrien (Ahrar ash-Sham) – und mündeten in heftige Kämpfe. ISIS musste sich daraufhin aus Aleppo und seiner Umgebung Richtung Osten zurückziehen.

Von der Terrororganisation zum Islamischen Staat?

Dass die irakische Al-Qaida die Führung der dschihadistischen Bewegung übernehmen wollte, wurde schon im Oktober 2006 klar, als sie sich in "Islamischer Staat im Irak" (ISI) umbenannte. Der neue nominelle Anführer, Abu Umar al-Baghdadi, nahm den Titel "Befehlshaber der Gläubigen" (Amir al-Mu’minin) an – was einen Führungsanspruch für die gesamte Gemeinschaft der (sunnitischen) Muslime impliziert. Dieser latente Konflikt brach jedoch erst auf, als der stark geschwächte ISI nach dem amerikanischen Abzug aus dem Irak Ende 2011 unter der Führung von Abu Bakr al-Baghdadi wieder erstarkte. Schon Ende 2013 eroberten ISI/ISIS-Kämpfer ihre alte Hochburg Falluja und auch Teile von Ramadi westlich von Bagdad; im Sommer 2014 folgte dann der Siegeszug in Mossul. Anschließend ging ISIS zweigleisig vor: Zum einen kämpfte er im benachbarten Syrien, wo es ISIS im Juni und Juli gelang, die Nusra-Front aus ihren verbliebenen Stellungen im Osten des Landes zu vertreiben und wo es immer häufiger zu schweren Gefechte zwischen ISIS und Regimetruppen kam. Zum anderen griff ISIS im Norden und Westen von Mossul stationierte Truppen der Kurdischen Regionalregierung an – woraufhin die US-Regierung Luftangriffe aus ISIS-Einheiten anordnete.

Durch die Erfolge im Irak und in Syrien wurde Baghdadi zu einer ernsthaften Konkurrenz für den al-Qaida-Führer Zawahiri. Dies zeigte sich vor allem an der großen Zahl der ausländischen Syrien-Kämpfer, die sich von anderen Gruppen abgewandt und ISIS angeschlossen haben. Unter ihnen sind besonders Saudi-Araber, Marokkaner und Tunesier stark vertreten, doch auch Libyer, Jordanier und Türken stellen starke Kontingente. Hinzu kommen zahlreiche Tschetschenen, Aserbaidschaner und auch Europäer. Für sie scheinen Baghdadis Schiitenhass, die hemmungslose Brutalität und die Fixierung auf die "Befreiung" Jerusalems eher dem Wesenskern der salafistisch-dschihadistischen Ideologie zu entsprechen als Zawahiris politischer Pragmatismus.

Hinzu kommt die sehr gute finanzielle Ausstattung der Gruppierung. Sie erhält zwar keine staatliche Unterstützung, doch hat sie auf ihrem Siegeszug im Irak hunderte Millionen Dollar erbeutet. Hinzu kommen Spenden reicher Privatleute aus den Golfstaaten, Einnahmen aus Steuern und Zöllen und Einkünfte aus dem Verkauf von Gas und Öl, die es ISIS sogar erlauben, seinen Kämpfern Gehälter zu zahlen und zahlreiche neue Rekruten auszuheben, so dass die Zahl seiner Kämpfer vor allem ab Sommer 2014 wuchs.

Es wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen, ob die jihadistische Denkschule von Zarqawi und Baghdadi sich gegen die von Zawahiri und al-Qaida durchsetzen wird. Viel wird davon abhängen, ob ISIS wirklich über längere Zeit ein größeres Territorium halten und dort ein staatsähnliches Gebilde aufbauen kann. Gegen ISIS spricht seine Neigung, alle seine zahlreichen Feinde zur gleichen Zeit zu bekämpfen, was im Irak schon 2007/2008 zur Niederlage führte. Für ihn spricht die offenkundige Schwäche der Staaten im Irak und in Syrien, die auf Jahre hinaus instabil bleiben werden. Von der könnten aber auch die Nusra-Front und Zawahiri profitieren, deren Kompromissbereitschaft politisch klüger und langfristig erfolgversprechender ist. In jedem Fall wird ISIS im Irak und Syrien noch lange präsent bleiben, so dass brutale Gewalttaten gegen Schiiten, Alawiten, Christen und andere Minderheiten und Konflikte unter Rebellenorganisationen in den beiden Ländern an der Tagesordnung bleiben werden.

Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2002 bis 2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.