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Die Dschihad-Subkultur im Westen

Dr. Daniela Pisoiu

/ 9 Minuten zu lesen

Daniela Pisoiu sieht in der "IS-Generation" eine politische Subkultur als Widerstand gegen den politischen Mainstream. Tiefe religiöse oder ideologische Kenntnisse scheinen zweitrangig zu sein. Die Priorität liegt auf sofortigem Handeln.

Der deutsche Islamist Abu Talha alias Dennis Cuspert. Islamistisch gefährdete Jugendliche sehen in dem früheren Rapper ein Vorbild. (© picture-alliance/dpa)

Der junge, aber schnellwachsende Bereich der Terrorismusstudien wurde durch mehrere Ereignisse gekennzeichnet, die zu neuen theoretischen und konzeptionellen Entwicklungen und Schwerpunksetzungen geführt haben. Nach 9/11 hat sich die Erforschung des islamistischen Terrorismus deutlicher profiliert; die Anschläge in Madrid (11. März 2004) und London (7. Juli 2005) haben dem Westen die Problematik des "hausgemachten" Terrorismus und der "Radikalisierung" vor Augen geführt.

Der Aufstieg des Islamischen Staates und die Ausrufung des Kalifates, aber vor allem die Flut an aus Europa stammender Auslandskämpfer haben schließlich nach neuen Konzepten und neuen Erklärungsansätzen verlangt. So haben nun Subkultur und die Subkulturtheorie die neu entstandene Lücke erstmal gefüllt. Auch andere, "klassischere" Ansätze wurden fortgesetzt, vor allem deshalb, weil noch immer nicht geklärt ist, ob die Radikalisierung der Auslandskämpfer sui generis ist oder lediglich eine Weiterentwicklung der bisher bekannten Arten von Radikalisierungsprozessen. Auch wurden spezifische, historische Ansätze oder solche aus der Perspektive der Islamwissenschaften vorgeschlagen. Wie in diesem Beitrag argumentiert wird, sind Subkultur und Subkulturtheorie besser geeignet, um die neuen Entwicklungen hinsichtlich der Propaganda, aber auch der "Nachfrage" – individuelle Motivationen und Radikalisierungsprozesse – zu erfassen. Der Islamische Staat hat die Nutzung sozialer Medien und Kommunikationstechnologien auf eine neue Ebene gebracht. Gleichzeitig gehen Rekruten auf das Angebot von audio-visuellen Elementen wie Musik, Fotos, Videos, Kleidung und schließlich Lebensstil nur allzu gerne ein; darüber hinaus produzieren sie diese auch selbst und verbreiten sie auf sozialen Medien wie Facebook, Instagram, Twitter usw.

Bemerkenswerterweise sind die IS-Anhänger teilweise nicht nur jung, sondern sehr jung. Eine quantitative Auswertung der persönlichen Hintergründe von 677 Personen, die aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, kommt auf einen Altersmittelwert von 25,9 Jahren, wobei die jüngsten Dschihadisten gerade mal 15 Jahre alt sind. Des Weiteren sei die zahlenmäßig größte Altersgruppe zwischen 22 und 25 Jahre und die nächstgrößte Altersgruppe zwischen 18 und 21 Jahre alt. Das Nachbarland Österreich hat 2015 einen 14-Jährigen zu zwei Jahren Haft verurteilt wegen Unterstützung des Islamischen Staates und Planung eines Anschlags.

Verfolgt man die Nachrichten und Selbstdarstellungen in sozialen Medien, ohne den typischen salafistischen Inhalten Aufmerksamkeit zu schenken, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich um eine ganz "normale" Jugendkultur handelt. Auch die Diskussionen in Foren drehen sich nicht nur um religiöse Gebote oder logistische Fragen, sondern auch um tagtägliche, jugendspezifische Themen. Liebe spielt eine nicht unbeträchtliche Rolle und kommt dem heldenhaften männlichen Selbstbild sehr entgegen. Manche junge Frauen verlieben sich tatsächlich in Dschihadisten oder finden sie zumindest attraktiv. Die Mehrheit der europäischen und deutschen Auslandskämpfer scheint eher an "Action", Waffen und daran interessiert zu sein, ihre Männlichkeit auszuleben, als an Ideologie und Islam. Es geht dabei aber nicht nur um die Implementierung der verschiedenen Prinzipien in das tagtägliche Leben oder um wildes Herumschießen, sondern auch um das Erkämpfen einer Sache. Das heißt, der Dschihad der Auslandskämpfer ist zutiefst politisch. Die individuelle Bewegungsgründe sind unterschiedlich: Menschen helfen, die "Imperialisten" bekämpfen, oder das Kalifat aufbauen. Gemeinsam ist der Wunsch, eine radikale politische und soziale Veränderung hervorzurufen.

Subkultur ist also nicht gleich Jugendkultur

Die stark politische Natur der Dschihad-Subkultur ist eine wichtige Erkenntnis, die dem möglichen Vorwurf entgegnet, das Konzept der Subkultur sei verniedlichend. Das hat auch Konsequenzen für die Art und Weise, wie sich diese Subkultur im individuellen Lebensverlauf entfaltet. Sie kann, muss aber nicht unbedingt "nur" eine Jugenderscheinung sein. Dementsprechend werden für manche Mitglieder die Träume von Ruhm, der Teilnahme am Erschaffen einer Utopie oder von Abenteuer platzen, sobald sie sich gezielt oder zufällig wieder im normalen Leben einfinden. Andere bleiben dabei und bauen ihren Lebensweg, ihre Karriere darauf auf. Wieder andere kommen nicht mehr zurück. Die Realität an der Front überleben nur diejenigen, die den Sprung von Dschihad als Jugendkultur zum Terror als Beruf schaffen.

Was sind die Charakteristika der Dschihad Subkultur im Westen? Wir haben es erstens mit einem Lebensstil zu tun, bei dem der Fokus darauf liegt "ein guter Muslim" zu sein, was sich aber in keinerlei Weise darauf bezieht, wie viel Spiritualität man an den Tag legt oder inwiefern man sich in Islam(kunde), Ideologie (siehe hier Interner Link: Islamismus), oder Politik auskennt. Das heißt natürlich nicht, dass man sich mit Pseudokenntnissen keinen Ruf als Prediger oder Anführer aufbauen kann. Allgemein kann man sagen, dass sich für den Großteil der jungen Anhänger Religiosität daran bemisst, inwiefern gewisse Regeln befolgt werden, inwiefern die Liste von Handlungsanweisungen abgehakt werden kann. Diese Regeln sind wiederum relativ klar und einfach: 5 Mal am Tag beten, die Hose über den Knöcheln tragen, natürlich das Kopftuchgebot für Frauen etc. Darunter befindet sich aber auch die Pflicht, Glaubensbrüdern zu helfen und in einem "Islamischen Staat" zu leben. Somit erübrigt sich auch die Frage, ob man nach Syrien gehen soll oder nicht.

Darüber hinaus spielen auch andere Subkultur-typische Merkmale bei dieser Entscheidung eine Rolle, wie z.B. die Vorstellung einer Gemeinschaft, eines gemeinschaftlichen Lebens – viele der Männer reisen samt Ehefrauen; das Ausleben von Maskulinität, vom Martialischen und die Möglichkeit, videospielartige Kampfszenarien in Echt zu erleben. Die IS-Propagandamaschinerie ist darauf ausgerichtet, genau diesen Bedürfnissen und Wünschen entgegenzukommen. Ein Nasheed in deutscher Sprache mit englischen Übersetzungen zeigt wie motivierend die Kombination aus Musik, Rhythmus, und Bildern von Heldentum, Gemeinschaft und "gerechtem Kampf" sein kann. Da geht es um das Leiden der Brüder und Schwestern und darum, dass die "Soldaten der Ehre" von überall kommen und unaufhaltbar sind. Die Bilder projizieren Macht und das Lied wird zu einem Ohrwurm. Die Kämpfer werden als "Löwen" gefeiert, ebenso die Hinrichtung von wehrlosen Feinden und Spionen. Sogar die nächste Generation soll in diesen Aktivitäten eingeübt werden. Über die Kampfszenen und die Grausamkeit des Krieges hinaus wird aber auch ein anderes Bild angeboten, eines von menschlicher Wärme, Wohlstand und ökologischer Frische. In dieser Utopie geht es nicht hauptsächlich darum, Ungläubige zu schlachten, sondern darum, eine post-moderne Lösung für die politischen, sozialen und kulturellen Probleme des Westens zu bieten.

Wer sich um die Umwelt, Demokratie oder soziale Gerechtigkeit Sorgen macht, scheint hier bestens aufgehoben. Bilder, die entweder vom IS oder von westlichen Jugendlichen selbst verbreitet werden, zeigen Bio-Obst und Gemüse und einen Staat ohne Nationalismus und falsche Demokratie, einen Staat, perfekt errichtet durch die "prophetische Methodologie"; ein Propagandavideo mit dem Titel "Der IS verspottet Amerika und den Westen" endet mit dem Bild eines Afro-Amerikanischen Marines und dem Aufruf: "bring it on!". Nicht zu übersehen bei der Bildsprache dieser Subkultur ist die Mischung aus westlichen und nicht-westlichen Elementen. Die Videos und Bilder, die vom IS produziert werden, beinhalten ganz bewusst diese westlichen Elemente, Strukturen und Bilder, wie sie typisch für Hollywood-Filme sind. Auch nicht zu übersehen ist die Zurschaustellung westlichen Wohlstands, welchen man auch nicht unbedingt hinter sich lassen möchte – siehe z.B. Bilder von Villas mit Pools, an denen westliche Kämpfer ihre Freizeit luxuriös genießen können, oder Bilder von westlichen Produkten wie Nutella oder Gummibärchen.

Was uns neben der Frage nach den Charakteristika der Dschihad-Subkultur vielleicht am meisten beschäftigt, ist die Motivation der Ausreisenden, also die Frage: warum sie a) zu Dschihadisten werden und b) sich entscheiden nach Syrien zu fahren. Hier unterscheiden sich zwei Hauptansätze, sowohl in der Forschung, als auch in der "Praxis" – d.h. in der Deradikalisierungsarbeit. Einige Autoren haben den Dschihadismus beschrieben als ein autonomes System von Normen und Werten, das als Reaktion auf Frustration einen radikalen Gegenentwurf zum Mainstream darstellt. Aus dieser Perspektive sind junge Dschihadisten Verlierer der Gesellschaft, Versager, die es nach den geläufigen Erfolgsstandards nicht "geschafft" haben. Beweise für diesen Ansatz sind etwa sozio-demographische Daten von Ausreisenden, die auf ein niedriges Bildungsniveau, nicht-qualifizierte Beschäftigung oder kriminelle Hintergründe hinweisen. Andere betonen den Stellenwert, den Ästhetik und (Lebens-) Stil sowohl für das Selbstverständnis der einzelnen Aktivisten, als auch bei den Rekrutierungsstrategien der verschiedenen Gruppen einnehmen. Auch wird das Konzept Widerstand in diesem Zusammenhang als stark akteursbezogen verstanden. Und zwar nicht notwendigerweise vor dem Hintergrund des Versagens, sondern ausgehend von dem Wunsch, etwas Besonderes haben oder sein zu wollen.

Der Fall Deso Dogg könnte z.B. auf verschiedene Weise interpretiert werden: als Rapper oder als ehemaliger Kleinkrimineller. Gemeinsam ist beiden die Betonung subkultureller Elemente, sowohl als Ausdrucksform, aber auch als Rekrutierungsmittel. Ob sie aus der Not heraus oder aus dem Wunsch nach Veränderung entsteht, die Motivation der gegenwärtigen jungen Dschihadisten ist stark subkulturell geprägt. Das hat wiederum Konsequenzen für die Art und Weise, wie man Radikalisierungsprozesse und Radikalisierungsmechanismen versteht und analysiert. Subkultur relativiert das "rationale" an Radikalisierung. Zum einen ist die bewusste Entscheidung einer Gruppe beizutreten, ein Foto zu posten oder bestimmte Kleidung zu tragen, von spezifischen, subkulturellen Merkmalen gekennzeichnet, die nicht immer im engen Sinne bewusst ausgewählt werden – siehe z.B. die Rolle des "Geschmacks" oder der "Mode". Die Rolle der Klicke als Resonanzboden ist größer als je zuvor und der Großteil des Radikalisierungsprozesses kann sich in Online-Gemeinschaften abspielen. Zum anderen bedarf es weniger Kenntnisse, um junge Rekruten zu begeistern. Früher ergab sich die Autorität des Predigers oder des Anwerbers aus besonderen religiösen oder politischen Kenntnissen oder der Kampferfahrung. Heute genügt eine imposante, rambo-artige Erscheinung, die durch Muskeln und provokante Sprüche imponiert: je krasser, desto besser.

In welcher Beziehung zum Mainstream steht letztlich die Dschihad-Subkultur? Im Normalfall ist die Beziehung zwischen Subkultur und Mainstream komplex und geht über einfache Konzepte von Distanz, Anderssein und Opposition hinaus. Auf der individuellen Ebene ist Subkultur durch ein Paradox des Individuellen und des Allgemeinen gekennzeichnet: der Nonkonformismus von Kleidung, Musik, Essen und Gewohnheiten in Bezug auf den Mainstream wird zum strikten Konformismus innerhalb der Gemeinschaft. Im ästhetischen Bereich ist diese Beziehung ein Hin und Her zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung. Subkultur ist "Bricolage": eine Mischung aus bereits bestehenden Elementen, die zu etwas Neuem und Spezifischem werden. Dieses Spezifikum bleibt wiederum nur solange bestehen, bis der Mainstream es entdeckt und in sich integriert. Auf den ersten Blick würde das im Fall des Dschihadismus kaum geschehen – zu abstrus und menschenfeindlich sind die Symbole und die Handlungen, die sie inspirieren; die IS-Fahne wird vermutlich nie Platz auf einem Button bzw. größeren Zuspruch finden, wie es die Symbole der Friedens- oder Anti-AKW-Bewegung getan haben. Gleichzeitigt scheinen sich typische dschihadistische Termini in die "normale subkulturelle" Sprache einzuschleichen. So tauchen Zeilen wie "fick Karma ich bin Monotheist" oder "Messer ziehen Richtung Paradies" in den Texten aktueller deutscher Rapsongs auf. Das bedeutet, dass dem Dschihadismus ein langes, aber vielleicht nicht ewiges Leben als Subkultur vorausgesagt werden kann.

ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien und Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Terrorismus, Radikalisierung, Extremismus, Vergleichende Regionale Sicherheit, Amerikanische und Europäische Außen- und Sicherheitspolitik.