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Orte der islamistischen Radikalisierung

Hans-Gerd Jaschke

/ 12 Minuten zu lesen

Salafistische Radikalisierung findet an ganz verschiedenen sozialen Orten statt: An Schulen, in Moscheen, im Freundeskreis, auf der Straße, im Internet und in Haftanstalten. Präventive Ansätze müssen hier anknüpfen und Gegennarrative sowie Handlungsalternativen aufzeigen, sagt Hans-Gerd Jaschke.

Salafistisches Streetworking: Die „Lies!“-Kampagne wurde ab 2014 bundesweit bekannt. Ihre Betreiber, die salafistischen Vereinigungen "Die Wahre Religion" alias "LIES! Stiftung" wurden 2016 durch den Bundesinnenminister verboten. (© picture alliance/KEYSTONE)

Politische Radikalisierung ist ein sozialer Prozess zumeist im Jugendalter, der verschiedene, aufeinander folgende Intensitätsstufen durchlaufen kann. Es gibt unterschiedliche Ursachen und begünstigende biografische Hintergründe, doch die Forschung benennt immer wieder einige Gemeinsamkeiten.

Es sind häufig

  • Diskriminierungserfahrungen,

  • ein Mangel an Anerkennung und Lebensperspektiven,

  • Verunsicherung sowie

  • die Suche nach Identität,

die einen Radikalisierungsprozess begünstigen und vorantreiben können. Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte für das Jahr 2016 über 24.000 Personen zum Bereich Islamismus, davon rund 10.000 zu der am stärksten wachsenden Variante, dem Salafismus.

Das Rhein-Main-Gebiet, Nordrhein-Westfalen und Berlin gelten als Hochburgen des Salafismus. Hier sind Infrastrukturen wie Moscheen, charismatische Prediger und salafistische Szenen Motoren der Rekrutierung.

Wissenschaftlicher Konsens besteht darüber, dass Radikalisierung ein komplexer sozialer Prozess ist, der aus verschiedenen situativen Zusammenhängen heraus gespeist wird, dazu gehören:

  • familiäres Umfeld,

  • Schulen,

  • Moscheen,

  • öffentliche Auftritte,

  • das Internet und auch

  • Haftanstalten

Über deren Zusammenspiel ist bislang jedoch wenig bekannt. Es ist bei der aktuellen Forschungslage nicht möglich, diese Orte zu gewichten und die einen oder anderen als ausschlaggebend auszuweisen. Immerhin gibt eine empirische Befragung durch Sicherheitsbehörden erste Auskünfte über die Gewichtung der Radikalisierungsfaktoren.

Bei 572 nach Syrien/Irak aus islamistischen Motiven ausgereisten Personen nannten die meisten

  • Freunde (54 %),

  • einschlägige, d. h. vom Salafismus beeinflusste Moscheen (48 %) und

  • das Internet (44 %)

  • als Gründe der eigenen Radikalisierung. Auf den hinteren Plätzen landeten

  • Kontakte in der Schule (3 %) und

  • Kontakte in Justizvollzugsanstalten (2 %).

Die vertiefte Kenntnis derartiger soziale Orte und ihrer Funktionen für die salafistische Radikalisierung ist nicht nur ein Beitrag zum besseren Verständnis dieses Phänomens, sondern eine Voraussetzung durchdachter Prävention: Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter müssen wissen, wo die Jugendlichen welche Erfahrungen machen und zu welchen Handlungen sie führen. Das erleichtert Ansätze, um der Dynamik des wachsenden Salafismus mehr entgegenzusetzen.

Schulen

Anfang 2014 forderte die hessische Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mehr Personal und bessere Lehrerfortbildung, um dem Salafismus an Schulen besser begegnen zu können; der hessische Innenminister sprach sich in diesem Zusammenhang für ein bundesweites Frühwarnsystem aus, um die Rekrutierung von Schülern für salafistische Gruppen zu stoppen. Im Jahr 2015 berichtete eine Lehrerin mit syrischen Wurzeln, die an einer Schule in Dinslaken islamische Religionskunde unterrichtet, dass mehrere ihrer ehemaligen Schüler nach Syrien ausgereist waren, um sich dort dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen.

Berichte von Lehrkräften und anderen Verantwortlichen im Schulbereich über die salafistische Radikalisierung von Schülern sind selten. Nach Syrien Ausgereiste nennen die Schule auch kaum als Grund für ihre Hinwendung zum Islamismus. Gleichwohl ist die Schule diejenige Institution, die junge Menschen jahrelang fast täglich erreicht, formt und bildet, sodass nach ihrer Rolle im salafistischen Kontext gefragt werden muss. Eben wegen jener zeitlichen Dichte spielt die Schule überdies eine herausragende Rolle für die Prävention.

Begünstigende Faktoren für radikale Positionen

Die Schule ist ein sozialer Kontext, in dem salafistische Radikalisierungen stattfinden können. Im Unterricht sind es Fragen zum Beispiel nach der Religion und nach der Rolle Israels und der westlichen Staaten im Nahen Osten, die radikale Positionen begünstigen können, wenn sie pädagogisch nur unzureichend vorbereitet werden. Wichtig wäre daher eine von verschiedenen vorhandenen Positionen geprägte und nicht überwältigende Vermittlung der Inhalte bei gleichzeitiger Beachtung der bestehenden Werteordnung. Aber auch praktische Fragen nach Gebetsräumen, Speisevorschriften, Teilnahme von Mädchen am Schwimmunterricht und Ähnliches können zu Schrittmachern der Radikalisierung werden.

Eine Umfrage unter Berliner Lehrern berichtet von einer "gestiegenen Relevanz der Religion und insbesondere des Islam für die Selbstidentifikation der Schüler. Ein Teil der Lehrkräfte erzählte von Konflikten mit dem Schulauftrag, von der Höherstellung von Glaubensinhalten über die an der Schule vermittelten Inhalte und Werte sowie von der Überprüfung des Schulstoffs durch religiöse Autoritäten". Berichtet wurde darüber hinaus von religiös begründeten Konflikten, antisemitischen Einstellungen und Verschwörungstheorien. Man kann dies alles als Rahmenbedingungen werten, die auf die Ansprechbarkeit eines Teiles der Schülerschaft für salafistische Anwerbeversuche hinweisen.

Zu berücksichtigen sind auch Faktoren außerhalb des Unterrichts. Es ist nicht nur an den Unterricht zu denken, der politische Orientierungen vermittelt, sondern vielmehr an das schulische Umfeld, die Bildung von Gleichaltrigen-Gruppen (Peergroups), Verabredungen zu Freizeit-Aktivitäten und Ähnliches. Schule ist für Jugendliche, die einen Radikalisierungsprozess beginnen, einerseits ein zentraler Ort für Kommunikation und Vernetzung, andererseits aber auch für symbolisch deutlich sichtbare Abgrenzung zu anderen Jugendlichen.

Moscheen

Der Berliner Verfassungsschutz hat 2017 eine quantitative Studie über das salafistische Spektrum in Berlin vorgelegt. Demnach bilden vier als Trefforte von Salafisten bekannte Moscheen "das ‚Rückgrat‘ der salafistischen Infrastruktur" in der Stadt. Dieser Erhebung zufolge verkehren von 748 bekannten Islamisten gut die Hälfte (396) regelmäßig in diesen Moscheen.

Sie dienen als Kommunikationszentren, produzieren durch Predigten und Islamseminare Ideologie und Orientierung, vermitteln ihren Besuchern Gemeinschaftsgefühl, Zugehörigkeit und Identität. Umgangsformen, Kleidung und Disziplin sind hier alltägliche Praktiken. Das Wissen über Richtig und Falsch, Freund und Feind und ähnliche simple Unterscheidungen wird hier reproduziert und gepflegt.

Für Jugendliche im Anfangsstadium eines Radikalisierungsprozesses können solche Treffpunkte der salafistischen Szene ein entscheidender Faktor sein für ihren weiteren Weg. Hier erleben sie Salafismus "live", lernen Autoritäten und Verbündete sowie die religiöse Seite des Islamismus kennen und erhalten Orientierungs- und Handlungsangebote. "Islam-Seminare" stärken die salafistische Identitätsbildung. Der Einzelne ist hier Teil einer solidarischen Gemeinschaft und erlebt Rückhalt und Zusammenhalt. Für diejenigen, die bereits auf einer fortgeschrittenen Stufe radikalisiert sind, bedeuten Moscheebesuche eher Kommunikation, Informations- und Erfahrungsaustausch und Bestätigung. Der Salafismus ist auch eine radikale Ideologie der Überlegenheit des Islams gegenüber den "Ungläubigen" und insofern bedeutet die Moschee für diese Gruppe auch eine Bekräftigung ihrer Überlegenheit gegenüber der "ungläubigen" sozialen Umwelt.

Im Jahr 2017 wurden zwei salafistische Moschee-Vereine verboten:

  • Im Februar der Berliner Fussilet-Moscheeverein. Hier verkehrte unter anderen Anis Amri, der das Attentat auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 begangen hatte.

  • Im März wurde der "Deutschsprachige Islamkreis Hildesheim" verboten, in dessen Moschee Muslime auf die Ausreise nach Syrien vorbereitet wurden, um dort an der Seite des IS zu kämpfen. Der Vorsitzende des Vereins, Abu Walla, gilt als Repräsentant des IS in Deutschland.

Die beiden Verbote zeigen, dass in salafistischen Moscheen nicht nur auf religiöse Art rekrutiert und agiert wird, sondern in einigen von ihnen schwere Straftaten bis hin zu terroristischen Aktionen geplant wurden. Das bedeutet für Besucher dieser Moscheen, dass der Übergang von einer radikalen islamistischen Überzeugung zum Eintauchen in ein kriminelles Milieu, in dem Straftaten vorbereitet und ausgeführt werden, möglich wird.

Salafistisches Streetworking

"Street Dawahs" sind öffentliche Veranstaltungen von salafistischen Gruppen auf Straßen und Plätzen. Hier werden Kundgebungen ebenso durchgeführt wie Büchertische mit Interessierten. Übertritte zum Islam werden feierlich zelebriert. Die Straßen-Missionen haben eine doppelte Funktion: Nach innen stärken sie den Zusammenhalt der Gruppe, indem "wir" und "die anderen" klar unterscheidbar und sinnlich erfahrbar werden. Im Prozess der Radikalisierung spielt dieser Mechanismus eine wichtige Rolle, weil Zugehörigkeit zur Gruppe verstärkt wird und die Mitglieder sich öffentlich zu ihrem Glauben bekennen. Eine weitere Funktion besteht darin, dass von den salafistischen Akteuren nach außen hin missioniert wird durch Reden, Gespräche mit Interessierten und Verteilen von Schriften und Videos. Bundesweit bekannt wurde die "Lies!"-Kampagne ab 2014, als der Koran kostenlos verteilt wurde. Der Träger der Kampagne, die 2016 verbotene Gruppierung "Die wahre Religion", verstärkte das Marketing durch Videos, die über das Internet verbreitet wurden. In der Verbotsverfügung des Bundesinnenministers vom 15. November 2016 wird ausdrücklich darauf hingewiesen: "Tausende von Videos dieser Aktionen wurden über das Internet veröffentlicht. Durch sie wird eine verfassungsfeindliche Einstellung und kämpferisch-aggressive Grundhaltung bei den überwiegend jungen, zum Teil minderjährigen Anhängern geschaffen und geschürt".

In Berlin fanden vor dem Brandenburger Tor und der US-Botschaft vereinzelt auch salafistische Kundgebungen statt. Themen waren unter anderem "Freiheit für Sven Lau" und "Freiheit für die Gefangenen in Guantanamo". Hier wurden die Namen von 27 islamistischen "politischen Gefangenen" verlesen. Die Kundgebungen verlaufen nicht immer friedlich. Im Mai 2012 griffen salafistische Gegendemonstranten, die sich provoziert fühlten, bei einer Aktion der rechtsextremen Partei Pro NRW in Bonn Polizisten mit Steinen und Knüppeln an. 29 Polizisten wurden verletzt und 109 Personen wegen Landfriedensbruch und unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen. Der Haupttäter Murat K., der zwei Polizeibeamte mit einem Küchenmesser schwer verletzt hatte, wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt; am Ende des Prozesses verneinte der Angeklagte die Gültigkeit des deutschen Rechts, für ihn zähle allein der Koran. Wer den Propheten Mohammed beleidige, verdiene den Tod, so seine Meinung.

Eine ebenfalls aufsehenerregende, aber friedliche Aktion gelang Salafisten im September 2014. Eine kleine Männergruppe, die sich "Sharia Police" nannte, patrouillierte durch Wuppertal und forderte Jugendliche, die sie für Muslime hielten, auf, islamische Verhaltensregeln einzuhalten: kein Alkohol, kein Glücksspiel, keine Musik, keine Drogen. Die symbolische Provokation des polizeilichen Gewaltmonopols sorgte für bundesweites Aufsehen. Sieben Männer wurden angeklagt und zunächst freigesprochen, die Fälle müssen allerdings nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes neu verhandelt werden.

Internet

Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass ein Trend zum "going private" zu beobachten ist: "Zunehmend vollzieht sich Radikalisierung in geschlossenen Kommunikationsgruppen im Internet oder in privaten realweltlichen Gruppen und Zirkeln". Der hessische Verfassungsschutz berichtet von sogenannten "Wohnungs-da’was" für ausgewählte Teilnehmer, um Netzwerkstrukturen und salafistische Überzeugungen zu festigen; ihre Inhalte seien im Internet veröffentlicht worden. Die zunehmende Präsenz salafistischer Angebote im digitalen Raum sei damit zu erklären, dass die jugendliche Zielgruppe mit dem Internet und Social Media aufgewachsen ist. Jugendliche finden auf salafistischen Internetseiten Freizeitangebote wie Videospiele, Einladungen zu Fußballturnieren oder Benefizveranstaltungen für Syrien, aber auch Antworten auf Alltagsfragen wie Arbeitslosigkeit oder Fremdenhass.

Social Media werden von salafistischen Führungsfiguren erfolgreich genutzt. Pierre Vogel zum Beispiel unterhält einen eigenen Youtube-Kanal mit 34.000 Abonnenten, der seine öffentlichen Auftritte und Besuche bei Anhängern ebenso dokumentiert wie seine Ansprachen und Predigten. Es werden zahlreiche Videos angeboten, die überwiegend praktische Fragen behandeln, zum Beispiel wie sich ein gläubiger Muslim zu verhalten hat. Verwiesen wird auf andere muslimische Webseiten und Kanäle, so dass sich für den Nutzer hier eine sehr breite und interaktive salafistische Infrastruktur auftut.

Die Bedeutung des Internets als sozialer Ort für die Radikalisierung von Jugendlichen sollte allerdings nicht überschätzt werden. In der Fachdebatte überwiegt die Ansicht, dass Social Media den Radikalisierungsprozess verstärken, aber keineswegs ursächlich auslösen: "So spielt das Internet als Mobilisierungs- und Resonanzraum oder als Beschleuniger bei Radikalisierungsprozessen zwar eine wichtige Rolle, indem es dem zum Dschihad Entschlossenen notwendige Informationen (besonders technischer Art) zugänglich macht, gilt jedoch heute weniger als auslösendes Moment".

Haftanstalten

Haft bedeutet für extremistische Straftäter oft eine Bestätigung ihrer Ideologie, denn der Staat sieht sie als Feind und behandelt sie auch als solche. Islamistische Gefangene wie etwa der in der salafistischen Szene bundesweit bekannte Sven Lau können schnell zu "Märtyrern" werden, die dann eine charismatische und einflussreiche Position gewinnen, eben weil sie für ihre Sache vom Staat der Ungläubigen verfolgt und eingesperrt werden.

Ende 2017 verbüßten rund 300 Islamisten in Deutschland eine Gefängnisstrafe, weitere 350 wurden per Haftbefehl gesucht. Schwerpunkte waren Hessen, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Berlin. Nach Auskunft des Bundeskriminalamtes befinden sich 150 islamistische "Gefährder", denen die Bereitschaft zu terroristischen Anschlägen zugetraut wird, in Haft oder Untersuchungshaft. Im Jahr 2017 hat sich die Zahl der Terrorverfahren mit islamistischem Hintergrund bei der Bundesanwaltschaft verfünffacht auf rund 1.000 Fälle; in 2016 waren es lediglich 200. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Bedeutung und Funktion der Haft für die salafistische Szene.

Vieles deutet darauf hin, dass mit der Zunahme islamistischer Gefangener die Haftanstalten zu einem Rekrutierungsfeld für Salafisten werden. "Ein Salafist geht rein, fünf kommen raus" – so charakterisiert ein hessischer Verfassungsschützer die Rekrutierungsfunktion der Haft für die salafistische Szene.

Auch in der wissenschaftlichen Diskussion gibt es ähnliche Auffassungen: Gefängnisse seien "Brutstätten für künftige Salafistinnen und Salafisten". Inhaftierte Salafisten können Mithäftlinge rekrutieren, indem sie diese nachhaltig ansprechen, religiöse Gespräche führen, Respekt und Anerkennung anbieten. Mittlerweile gibt es verstärkte Bemühungen um die Deradikalisierung Gefährdeter. Das Violence Prevention Network, eine der größten Einrichtungen nichtstaatlicher Extremismus-Prävention, berichtete für das Jahr 2016 von 75 Gruppen- und Einzeltrainings mit 176 Inhaftierten aus dem Bereich "extremistisch motivierte Straftäter" – Tendenz steigend.

Solche Ansätze der Gefangenenarbeit stehen in Konkurrenz zu islamistischen Initiativen der Gefangenenhilfe wie der des Netzwerks um Bernhard Falk. Eben deswegen ist die Arbeit mit islamistischen Gefangenen von großer Bedeutung, auch um die Rückfallquoten zu begrenzen oder zu mindern. Eine neuere empirische Untersuchung mit Daten aus den Jahren 2004 bis 2013 kommt zu wenig erfreulichen Ergebnissen: Demnach werden fast die Hälfte der Straftäter rückfällig (48 %), besonders hohe Quoten weisen jüngere Männer aus – jene Klientel, die das Gros islamistisch motivierter Häftlinge umfasst.

geb. 1952; bis 03/2018 Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Politischer Extremismus und Politik der Inneren Sicherheit.