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Antisemitismus und Antizionismus in der ersten und zweiten Charta der Hamas Eine Fallstudie zur Judenfeindschaft im islamistischen Diskurs

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber

/ 10 Minuten zu lesen

Die Feindschaft gegen Juden prägt auch zahlreiche islamistische Diskurse. Die Charta der Hamas fordert einen Palästinenserstaat – und ruft zur Erreichung dieses Ziels ganz offen zur Tötung von Juden auf.

Ein Mitglied der Hamas zeigt Ausweise israelischer Soldaten. (© AP)

Einleitung und Fragestellung

Die Feindschaft gegenüber den Juden und der Zerstörungswille gegenüber Israel prägen zahlreiche islamistische Diskurse. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein neues Phänomen. Neu hingegen ist die kritische Aufmerksamkeit in der westlichen Öffentlichkeit für solche Positionen. Anhand der programmatischen Charta der "Hamas" soll aufgezeigt und untersucht werden, wie sich judenfeindliche Positionen im islamistischen Diskurs wiederfinden. In dem Text von 1988, der mittlerweile auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt, findet man die grundlegenden Auffassungen und Ziele der Organisation. Hierzu gehören auch Kommentare zu den Juden und Israel, welche als erklärte Feinde der "Hamas" gelten. Hier sollen dazu zwei Fragen beantwortet werden: Aus welchen geistigen und kulturellen Traditionen leiten sie sich ab? Und: Welche Konsequenzen verbinden sich damit bei einer Umsetzung für die Juden und den Staat Israel?

Die Hamas als islamistische Organisation

"Hamas" steht in der arabischen Sprache für "Eifer" oder "Engagement". Gleichzeitig handelt es sich um eine Abkürzung für "Harakat al-muqawama al-islamiya" ("Bewegung des islamischen Widerstandes"). Das Emblem der Organisation zeigt u.a. eine Karte vom heutigen Israel mit dem Gaza-Streifen und Westjordanland, was vollständig für das zukünftige Palästina beansprucht wird. Damit artikuliert sich bereits eine politische Grundposition der Organisation, die als palästinensischer Zweig der "Muslimbruderschaft" erstmals 1987 unter ihrer heutigen Bezeichnung öffentlich auftrat. Zunächst beschränkte man sich auf soziale Arbeit und religiöse Propaganda. Erst nach der ersten Intifada ging die "Hamas" zur Gewaltanwendung über, was sich auch in zahlreichen Selbstmord-Anschlägen zeigte. Bei den Wahlen 2006 erhielt man als Partei die absolute Mehrheit der Mandate im palästinensischen Legislativrat.

Der Text der Hamas-Charta als Quelle

Bei der am 18. August 1988 erstmals veröffentlichten Charta der Hamas handelt es sich um einen Text, der in der hier zitierten deutschsprachigen Übersetzung zwanzig eng bedruckte Seiten umfasst. Die mit Kapitelhinweisen und Seitenzahlen im Folgenden belegten Zitate entstammen folgender Übersetzung: Charta der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas (aus dem Arabischen von Lutz Rogler [Redaktion INAMO, Berlin]), in: Helga Baumgarten, Hamas. Der politische Islam in Palästina, München 2006, S. S. 207-226. Zwischen der Präambel und dem Schlusswort finden sich fünf Kapitel mit 34 einzelnen Artikeln. Dabei entspricht die formale Stringenz der Strukturierung des Textes aber nicht unbedingt auch einer inhaltlichen Stringenz, d. h. entgegen der Ankündigung in den einzelnen Überschriften findet man darunter auch Positionen zu ganz anderen politischen Fragen. Der Text der Charta der Hamas steht unabhängig vom Ausmaß seiner Verbreitung für das politische Selbstverständnis der Organisation.

Das Bild von Israel und Palästina im Text

Die "Hamas" postuliert, "dass das Land Palästinas ein islamisches Waqf-Land für die Generation der Muslime bis zum Tag der Auferstehung ist". Dies meint, dass es sich bei Palästina um eine Art fromme Stiftung, um ein islamisches Land handelt. In dieser Perspektive steht die Region vollständig im Besitz der Muslime und zwar als Ergebnis einer göttlichen Vorgabe. Dies bedeutet für die "Hamas" denn auch: "Weder darf es oder ein Teil von ihm aufgegeben werden noch darauf oder auf einem Teil von ihm verzichtet werden ..." (S. 212, Artikel 11). Dazu seien weder Organisationen, Regierende noch Staaten berechtigt. Jede Abweichung von diesem Grundprinzip deutet man als Verstoß gegen Gottes Willen. Dies meint letztendlich auch, dass ein Existenzrecht Israels niemals anerkannt werden kann, da es in dieser Sicht gegen die diesbezügliche Deutung des Islam spreche. Als tagespolitische Konsequenz ergibt sich aus dieser Auffassung die Ablehnung jeglicher Friedenslösungen und -verhandlungen.

Die gewaltsame Zerschlagung Israels als Ziel

Das beschriebene Bild von Israel und Palästina bedingt aber nicht nur eine Ablehnung von Friedensgesprächen, sondern auch die Grundposition zur Zerschlagung des Staates Israel. Dies deutet sich in der Charta bereits bei der Skizzierung des exklusiven Selbstverständnisses an: "Die Islamische Widerstandsbewegung ist eine einzigartige palästinensische Bewegung, die Gott ihre Treue gibt, den Islam zur Lebensweise nimmt und dafür wirkt, Gottes Banner auf jedem Fußbreit Palästinas zu hissen ..." (S. 210, Artikel 6). Im Kontext dieser Auffassungen findet man im Text auch immer wieder die Forderung nach einem "Dschihad", wobei hiermit der Aufruf zum gewalttätigen Kampf gemeint ist. So heißt es etwa: "Der Patriotismus ist aus Sicht der Islamischen Widerstandsbewegung ein Teil des religiösen Glaubens, und es gibt im Hinblick auf den Patriotismus nichts Weit- und Tiefgehenderes, als wenn, nachdem der Feind seinen Fuß auf das Land der Muslime gesetzt hat, der Dschihad gegen ihn zu führen" (S. 213, Artikel 12) ist.

Die antisemitische Dimension der antizionistischen Positionen

Die vorgenannten Auffassungen und zitierten Passagen sind keineswegs lediglich antizionistisch gegen Israel. [vgl.Interner Link: Artikel "Antizionistischer Antisemitismus" im Dossier Antisemitismus; Anm. d. Redaktion] Sie sind auch antisemitisch gegen die Juden gerichtet. Als ein erstes Indiz dafür kann schon die Wortwahl gelten, benennt der Text die feindlichen Akteure doch gerade nicht als "Israelis" und nur selten als "Zionisten". Vorherrschend ist die Formulierung "Jude" für den jeweiligen Feind. Darüber hinaus heißt es an einer Stelle: "Israel ist mit seinem jüdischen Charakter und seinen Juden eine Herausforderung für den Islam und die Muslime" (S. 222, Artikel 28). Auch direkte Aufforderungen zur Gewaltanwendung im Text lassen deren antisemitischen Charakter erkennen: "Der Gesandte Gottes ... sagt: ´Die Stunde (der Auferstehung) wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn´, außer der Gharqad-Baum, denn er ist ein Baum der Juden" (S. 211, Artikel 7).

Propagierung antisemitischer Verschwörungsvorstellungen

Bestärkt wird die Auffassung, wonach es sich bei der Charta der "Hamas" um einen antisemitischen Text handelt, noch durch die darin enthaltenen Verschwörungsvorstellungen. Dabei macht die Hamas das behauptete konspirative Wirken von Juden für viele negative Entwicklungen verantwortlich: "Sie streben danach, gewalttätige und mächtige materielle Reichtümer anzuhäufen und sich ihrer zur Verwirklichung ihres Traums zu bedienen. So erlangen sie durch das Vermögen die Kontrolle über die internationalen Medien ... Durch das Vermögen lösten sie Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt aus, um ihre Interessen zu verwirklichen und Gewinne zu erzielen. Sie standen hinter der französischen Revolution, den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen hier und da, von den wir gehört haben und hören" (S. 218, Artikel 22). Die zitierten Behauptungen entstammen dem Agitationsarsenal des europäischen Antisemitismus, hatte man doch bereits vor den Nationalsozialisten von einer "jüdisch-freimaurerischen Verschwörung" gesprochen.

Berufung auf die "Protokolle der Weisen von Zion"

Die Auffassungen in der Charta erinnern an die "Protokolle der Weisen von Zion", eine antisemitische Fälschung, welche die Existenz einer weltweiten jüdischen Konspiration behauptet. Die Hamas beruft sich auf diese Schrift sogar in aller Deutlichkeit: "Das zionistische Vorhaben ist grenzenlos, und nach Palästina streben sie nach der Expansion vom Nil bis zum Euphrat. Wenn sie das Gebiet völlig verschlungen haben, zu dem sie vorgedrungen sind, trachten sie nach einer weiteren Expansion und so fort. Ihr Vorhaben steht in den 'Protokollen der Weisen von Zion', und ihr gegenwärtiges Handeln ist der beste Beleg für das, was wir sagen" (S. 224, Artikel 33). Die Hamas unterstellt demnach nicht nur das jahrhundertelange Bestehen einer jüdischen Verschwörung, sie beruft sich hierbei auch offen auf die wohl bedeutendste antisemitische Hetzschrift des 20. Jahrhunderts. Obwohl bereits seit Beginn der 1920er Jahre bekannt war, dass es sich um eine Fälschung handelte, fanden die "Protokolle" auch nach 1945 vor allem in der arabischen Welt weiter Verbreitung.

Kontroverse Einschätzungen zur Bedeutung der Charta

Die antisemitischen und antizionistischen Grundpositionen im Text der Charta der "Hamas" sind durch die vorstehenden Ausführungen und Zitate deutlich geworden. Gleichwohl gibt es bezüglich der Bewertung und dem Stellenwert des Textes auch andere Stimmen: Danach sei kein Mitglied zu deren Lektüre verpflichtet und die Charta habe für die palästinensische Gesellschaft nur wenig Relevanz. Der Hinweis auf den Text diene westlichen Kritikern als Grundlage für eine Dämonisierung der "Hamas" (Helga Baumgarten). Dieser Hinweis kann aber allenfalls für die Einschätzung der Breitenwirkung ein Argument sein. Die Bewertung des Inhalts ändert sich dadurch nicht.. Immerhin hat sich die palästinensische Organisation diesen Text als eigenes Programm im Sinne eines politischen Selbstverständnisses gegeben. Die Charta ruft ganz offen zur Tötung von Juden als Mittel auf, um das Ziel eines islamischen Palästinenserstaates zu erreichen. Die Bewertung solcher Forderungen als Ausdruck eines eliminatorischen Antisemitismus ist deshalb angemessen.

Zusammenfassung

Bilanzierend können die oben gestellten beiden Fragen wie folgt beantwortet werden: Die Grundlagenwerke des Islams und Erklärungen der "Muslimbruderschaft" sind für die Hamas die ideengeschichtlichen Bezugspunkte in der Vergangenheit. Darüber hinaus knüpft die "Hamas" in ihrer Charta an das Agitationsarsenal des europäischen Antisemitismus an, was sich aus der ausdrücklichen Berufung auf die "Protokolle der Weisen von Zion" ergibt. Was die konkreten Folgen des Antisemitismus und Antizionismus im Text angeht, so lässt sich aufgrund der klaren und offenen Wortwahl der "Hamas" konstatieren: Die Juden und der Staat Israel sollen bis zur Vernichtung und Zerschlagung gewalttätig bekämpft werden. Die früheren Wellen von Selbstmordattentaten auch und gerade gegen zivile Einrichtungen und Personen in Israel können als ein direkter Ausdruck dieser grundlegenden Position gelten. Der Text lässt demnach sowohl am Antisemitismus und Antizionismus wie am Gewaltbezug und Vernichtungswillen der "Hamas" keinen Zweifel.

Die zweite Charta der Hamas von 2017

Die erste Charta bzw. die Gründungscharta der Hamas von 1988 löste aufgrund der erwähnten Inhalte nachvollziehbare Kritik aus, trat man darin doch offen für Israels gewalttätige Vernichtung ein. Einige israelische Botschaften stellten den Charta-Text sogar auf ihre Homepage, um die antisemitische Ausrichtung der Hamas zu dokumentieren. Der dadurch erfolgte Ansehensverlust in Kombination mit internen Konflikten führte dann 2017 zu einer Neufassung (vgl. Hamas in 2017: The document in full, in: Externer Link: www.middleeasteye.net). Diese zweite Charta fand auch breitere mediale Resonanz im Westen. Dabei blieb aber deren Bedeutung gegenüber der ersten Charta unklar. Ob es sich um eine Ergänzung oder Ersetzung handeln sollte, bekundete die Führung der Hamas nicht. Auch erfolgte gegenüber den Ausführungen in der ersten Charta keine direkte Distanzierung, eine kritische Erörterung von deren Inhalten ließ sich ebenso wenig konstatieren. Auffällig an der zweiten Charta war formal, dass sie 42 sehr kurz gehaltene Artikel enthielt, und inhaltlich, dass die darin enthaltenen Formulierungen gemäßigter gehalten waren.

Die erste und zweite Charta im Vergleich

Blickt man vergleichend auf die alte und neue Charta, so lassen sich gleichwohl einige inhaltliche Veränderungen ausmachen: Die Hamas berief sich nicht mehr auf die Muslimbruderschaft, die Islamisten als politische „Mutterorganisation“ gilt. Man wolle einen souveränen und unabhängigen Palästinenserstaat etablieren, in den Grenzen von 1967 mit der Hauptstadt Jerusalem. Eine Gleichsetzung oder Identifizierung von Juden und Zionisten erfolgte ebenfalls nicht mehr, abgelehnt werde die israelische Besatzung und nicht die jüdische Religion. Allgemein erweckte die neue Charta den Eindruck von Friedfertigkeit und Mäßigung. Doch wie angemessen war und ist eine solche Deutung angesichts der Handlungen der Organisation? Dominierten bei der zweiten Charta inhaltliche Gemeinsamkeiten oder strategische Motive? Antworten auf diese Fragen vermittelt die Lektüre des Textes, wobei die Einstellung gegenüber der Existenz Israels zentral ist. Darüber hinaus zeigt ein Blick auf die Gewalttaten der Hamas auch schon vor 2023, dass die Bekundungen der Hamas nicht ihren Taten entsprechen.

Kontinuierliche Ablehnung des Existenzrechts von Israel

London, 04.11.2023: Eine Demonstrantin zeigt den Slogan "From The river to the sea Palestine will be free" bei einer Demonstration. (© picture-alliance, Photoshot)

Liest man die Artikel der ganzen Charta, so können in bedeutenden Fragen sehr wohl Kontinuitäten ausgemacht werden. So heißt es: „Das zionistische Projekt ist ein rassistisches, aggressives und separatistisches Projekt … Und der israelische Staat ist das Werkezeug dieses Projekts und sein Fundament“ (Artikel 14). Die Aussage bezieht sich auf Israel, unabhängig von der Frage der Grenzen von 1967 oder den Siedlungsprojekten. Es geht um eine grundsätzliche Delegitimation des Staates. Entsprechend gilt die Gründung von „Israel“ als illegal, was auch die bewusst gesetzten Anführungszeichen den Lesern veranschaulichen sollen (Vgl. Artikel 18). Und man kann lesen: „Hamas lehnt jede Alternative zu einer kompletten und vollständigen Befreiung von Palästina ab, vom Fluss zum Meer“ (Artikel 20). Das ist eine deutliche Aussage, die sich gegen die Existenz des israelischen Staates richtet. Er soll zugunsten eines souveränen Palästinas nicht mehr existieren, was man sich schwerlich ohne einen Vernichtungskrieg vorstellen kann. Auch bei Demonstrationen in Europa ist „From the River to the Sea, Palestine will be free “ (oder die Kurzform: „From the River to the Sea“) eine häufig gerufene und gezeigte Parole.

Fortgesetzte Legitimation des gewaltsamen Vorgehens

Bezüglich des genauen Agierens äußert sich auch die neue Charta nicht. Es heißt aber: „Widerstand und Jihad für die Befreiung von Palästina bleibt ein legitimes Recht …“ (Artikel 23), was auch entsprechende Gewalttaten als konkrete Praxis mit einschließt. Alle Handlungsweisen entsprächen legitimen Rechten, auch der „bewaffnete Widerstand“ (vgl. Artikel 25). Es ist hier jeweils von Befreiung die Rede, auch vom Widerstand. Beide Bezeichnungen sind positiv konnotierte Wörter. Sie stehen auch für Gewaltanwendung – ohne Grenzen. Die Charta nimmt keine Einschränkungen vor, alle Handlungen in diesem Sinne wären demnach möglich. Insofern bestehen hier zwischen der alten und neuen Charta keine grundlegenden Differenzen. Lediglich die Formulierungen weisen in ihrer Schärfe gewisse Unterschiede auf. Daher kann hinsichtlich der bedeutsamen Frage, wie die Hamas zum Existenzrecht des israelischen Staates steht, keine Mäßigung konstatiert werden. Allein die bekannte Forderung „vom Fluss bis zum Meer“ bedingt in der inhaltlichen Konsequenz eine entsprechende gewaltgeprägte Vernichtungsabsicht.

Bekenntnisse zu Demokratie und Pluralismus als Täuschung

Andere Bekundungen in der neuen Charta können diesen Eindruck schwerlich verwerfen, denn die angesprochenen Bestandteile des eigenen Politikverständnisses entsprechen nicht der Realität. So gibt es auch Ausführungen zum „palästinensischen politischen System“, das auf der „Grundlage von Pluralismus, Demokratie, nationaler Partnerschaft, Akzeptanz des Anderen und der Bereitschaft zum Dialog“ bestehen soll (Artikel 28). Angestrebt werde die Ausrichtung palästinensischer Institutionen nach „demokratischen Prinzipien“, insbesondere nach „freien und fairen Wahlen“ (Artikel 20). Es stellt sich hier aber die Frage, warum die Hamas seit Jahren keine Wahlen durchführt. Es stellt sich ebenfalls die Frage, warum in Gaza die Hamas-Herrschaft keinen Pluralismus zulässt. Man merkt der Ausrichtung in der neuen Charta an, dass es um politische Anerkennung und öffentliche Wirkung gehen soll. Die formale Mäßigung im Text hatte somit ein klares Ziel: Es ging nicht um eine ideologische Änderung, sondern um strategische Täuschung. Spätestens die Hamas-Massaker im Oktober 2023 veranschaulichten dies der ganzen Welt.

Aktualisierte und ergänzte Version des Textes vom 04.07.2011

Quellen / Literatur

Baumgarten, Helga: Hamas. Der politische Islam in Palästina, München 2006.

Croitoru, Joseph: Hamas. Der islamische Kampf um Palästina, München 2007.

Misha, Shaul/Sela, Avraham: The Palestinian Hamas. Vision, Violence and Coexistence, New York 2000.

Nüsse, Andrea: Muslim Palestine. The Ideology of Hamas, London 2002.

Pfahl-Traughber, Armin: Antisemitismus und Antizionismus in der Charta der "Hamas". Eine Textanalyse aus ideengeschichtlicher und menschenrechtlicher Perspektive, in: Martin H. W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2010/2011. Erster Halbband, Frankfurt/M. 2011, S. 197-210.

Pfahl-Traughber, Armin: Die palästinensische Hamas – eine islamistische Organisation zwischen Regierungspartei, Sozialpolitik und Terrorismus, in: Rauf Ceylan/Michael Kiefer (Hrsg.), Der islamische Fundamentalismus im 21. Jahrhundert. Analyse extremistischer Gruppen in westlichen Gesellschaften, Wiesbaden 2022, S. 157-172.

Fussnoten

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Geb. 1963, studierte Politikwissenschaft und Soziologie. Von 1994 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referatsleiter in der Abteilung Rechtsextremismus des Bundesamtes für Verfassungsschutz, seit 2004 Prof. an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung Brühl und Heimerzheim.