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Selbstmordattentäter

Volker Trusheim

/ 8 Minuten zu lesen

Tel Aviv bis London, von Islamabad bis New York – Selbstmordattentate sind zu einem Synonym für islamistischen Terror geworden. Wo liegen die Wurzeln dieses Phänomens, wer sind die Attentäter? Wie ist das Verhältnis der islamischen Religion zu dieser Form von Gewalt?

Plakate von Selbstmordattentätern in Nablus. (© picture-alliance/AP)

Was sind Selbstmordattentate?

Selbstmordattentate sind ein modernes Phänomen, schließlich wird zu ihrer Durchführung ein neuzeitliches Mittel – Sprengstoff –benötigt, mitunter auch ein Fahr-, Flugzeug oder anderes Vehikel. Die mediale Wirkung und Verwertung spielt eine sehr wichtige Rolle.

Der israelische Terrorismusforscher Yoram Schweitzer hat im Kontext der Selbstmordattentate im arabisch-israelischen Konflikt folgende Definition aufgestellt: "Ein Selbstmordattentat ist ein politisch motivierter, gewaltsamer Akt, der durch ein oder mehrere sich selbst bewusster Individuen durchgeführt wird, die aktiv und absichtlich ihren eigenen Tod verursachen, indem sie sich mit ihrem ausgewählten Ziel in die Luft sprengen. Der Tod des Ausführenden ist die Voraussetzung für den Erfolg der Mission" (Yoram Schweitzer, 2001). Im Gegensatz zum "herkömmlichen" Attentat besitzt das Selbstmordmordattentat einen höheren Symbolwert.

Ein Blick in die Geschichte

Das Selbstmordattentat ist ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Terrorismus-Forschung versucht, eine Genealogie von Märtyreraktionen zu entwickeln und so zu erklären, wie das heutige Phänomen der Selbstmordattentate zu verstehen ist. Dabei wird deutlich: Das Selbstmordattentat ist keineswegs eine rein islamische Erscheinung.

Die Assassinen

Die Assassinen waren eine schiitische Sekte des 12. und 13. Jahrhundert im heutigen Iran. Junge Männer dieser Sekte sollen Persönlichkeiten der sunnitischen und christlichen Elite im Nahen Osten mit vergifteten Dolchen ermordet haben, wobei die Attentäter den eigenen Tod nach der Tat bereitwillig in Kauf nahmen. Aus ihrem Namen rührt das englische Wort "assassin" = Attentäter her. Wie viel Wahrheit in den geschichtlichen Überlieferungen steckt, ist schwer auszumachen.

Südost-Asien

Im 18. und 19. Jahrhundert taucht das Phänomen von "selbstmörderischen" Attentaten unter Muslimen in Südost-Asien wieder auf. Es wird von jungen fanatisierten Männern berichtet, die sich mit Messern, Macheten oder Gewehren auf Truppen der spanischen und amerikanischen kolonialen Besatzungstruppen stürzten. Ihren eigenen Tod haben sie bei solchen Aktionen eingeplant. Der militärische Nutzen war gering – die Wirkung auf die Moral der Kolonialtruppen jedoch verheerend.

Japan

Im Jahr 1944, als sich die Niederlage des Japanischen Kaiserreiches im Zweiten Weltkrieg abzuzeichnen begann, setzte die japanische Armeeführung Geschwader von fliegenden Selbstmördern ein, die ihre Maschinen in amerikanische Kriegsschiffe stürzten. Die lebendige Rückkehr eines Piloten galt als unehrenhaft. Es kann von einer systematischen Institutionalisierung des Selbstmordes als Kriegswaffe gesprochen werden. Obwohl der Einsatz von "Kamikaze-Fliegern" den Vormarsch der amerikanischen Truppen nicht effektiv stoppen konnte, hatte er großen Einfluss auf deren Kampfmoral.

Israel/Palästina

In den 1970er Jahren begannen palästinensische Freischärler ("Fedayyin") mit Angriffen auf israelische Truppen und die Zivilbevölkerung. Ausgerüstet mit Pistolen, Maschinengewehren und Handgranaten drangen Fedayyin-Gruppen tief in israelisches Territorium ein. Eine heile Rückkehr war meist ausgeschlossen, die Kämpfer nahmen den Tod bereitwillig in Kauf. In den Augen der palästinensischen Bevölkerung wurden sie dadurch zu Märtyrern.

Iran/Irak

Eine besonders auto-destruktive Form von selbstmörderischen Attacken fand im ersten Golfkrieg (1980 – 88) zwischen Iran und Irak statt, als seitens der Iraner ganze Heerscharen von "Freiwilligen" durch irakische Minenfelder geschickt wurden. Durch die Explosion der Minen wurde der Weg für die reguläre Armee frei geräumt. Vielen dieser Märtyrer, darunter auch Kindern, wurden kleine Schlüssel mit auf den Weg gegeben, die ihren direkten Aufstieg in den Himmel symbolisieren sollten.

Libanon

Im Jahr 1983 zündete ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen LKW auf dem Gelände der amerikanischen Botschaft in Beirut. Im selben Jahr erfolgte auf gleiche Weise ein Attentat auf einen französischen Militärstützpunkt. Später bekannte sich die schiitische Hisbollah zu den Anschlägen. Die Opferzahlen gingen in die Hunderte. Direkte Folge waren der französische und amerikanische Abzug aus dem Libanon.

Sri Lanka

Das Beispiel Sri Lanka macht klar, dass Selbstmordattentate kein rein islamisches Phänomen sind. Die "Tamilischen Tiger", eine nationale Befreiungsarmee der tamilischen Bevölkerungsminderheit, kämpft auf der Insel um die Unabhängigkeit von der indisch-dominierten Zentralregierung. Seit den 1990er Jahren führte die Gruppe über 100 Selbstmordattentate durch. Ein verhältnismäßig großer Teil davon wurde von Frauen begangen.

Selbstmordattentate heute

Israel/Palästinensergebiete

Von 1993 bis 1996 und schließlich in der zweiten palästinensischen "Intifada" ab 2000 wurde das Selbstmordattentat zur bevorzugten Waffe verschiedener palästinensischer Organisationen, darunter auch säkulare Gruppierungen. Während sich die Angriffe der Selbstmordattentäter zuerst weitgehend auf militärische Ziele erstreckten, wurden später auch Märkte, Restaurants, Einkaufszentren und öffentliche Verkehrsmittel in Israel zu Zielen. Die Verluste unter der israelischen Zivilbevölkerung waren verheerend und haben dem Ansehen der Palästinenser, zumindest in den westlichen Medien, schwer geschadet.

Ausweitung der Anschlagsgebiete

Zum Symbol für Selbstmordattentate schlechthin wurden die Angriffe vom 11. September 2001, als 19 Attentäter vier Flugzeuge entführten und samt Passagieren als Waffe missbrauchten. Damit läutete die islamistische Formation al-Qaida unter Führung Usama Bin Ladens einen Großangriff auf den Westen ein. Es folgten viele weitere Attentate, sowohl im Nahen Osten als auch in anderen Teilen der Welt. Nicht alle davon waren Selbstmordattentate.

Irak

Die Lage im heutigen Irak ist unübersichtlich. Ein Großteil der Aufständischen scheint der sunnitischen Bevölkerung in den mittleren Provinzen Iraks anzugehören. Daneben bedroht ein Bürgerkrieg zwischen sunnitischer und schiitischer Bevölkerung das Land. Jedoch scheint ein überwiegender Teil der Selbstmordattentäter ausländischer Herkunft zu sein, vor allem aus dem arabischen Raum. Ähnlich wie Afghanistan in den 1980er Jahren entwickelt sich der Irak zu einem internationalen Schlachtfeld.

Fazit

Selbstmordattentate scheinen Teil einer asymmetrischen Kriegsführung zu sein. Sie kommen immer dann zum Einsatz, wenn keine andere erfolgversprechende militärische Option offen steht. Dabei sollen verschiedene Ziele erreicht werden: Die Bekämpfung eines Gegners, der mit anderen Mitteln nicht zu treffen ist, eine größtmögliche Opferanzahl unter der Zivilbevölkerung und eine hohe Medienwirksamkeit.

Wie sich in verschiedenen Konfliktfeldern (Israel-Palästinensergebiete, Libanon, Sri Lanka) gezeigt hat, kann das Phänomen aber auch wieder verschwinden, wenn es innerhalb der Gruppen zu einer Demoralisierung kommt, der Rückhalt unter der eigenen Zivilbevölkerung verloren geht, die politischen Ziele erreicht worden sind oder ein anderes Mittel probater erscheint, um die angestrebten Ziele zu erreichen.

Eine Typologie der Attentäter

Eine genaue Typologie von Selbstmordattentätern ist schwierig. Während die Attentäter des 11. September mit Namen und sozialem Hintergrund bekannt sind, sterben andere wie z.B. im Irak oftmals unbekannt. Aus Untersuchungen über Selbstmordattentäter im israelisch-palästinensischen Konflikt hat sich jedoch folgendes Bild ergeben: Der typische Selbstmordattentäter ist jung, männlich, überdurchschnittlich gebildet und unverheiratet. Auch wenn es vereinzelt ältere oder weibliche Selbstmordattentäter gibt, so scheint sich diese Charakterisierung doch bestätigt zu haben. Als mögliche Motive lassen sich Hoffnungslosigkeit, Glaube, Nationalismus, Streben nach Anerkennung, Rache oder auch Geld nennen – schließlich wird Hinterbliebenen oftmals eine Summe aus Fonds ausgezahlt, die extra zu diesem Zweck eingerichtet worden sind.

Islamische Positionen zu Selbstmordattentaten

Selbstmordattentäter oder Märtyrer? Dies ist eine der brisantesten Fragen im gegenwärtigen islamischen Diskurs über dieses Phänomen. Schon aus religiöser Sicht kommt dieser Unterscheidung große Bedeutung zu, denn grundsätzlich ist der Selbstmord im Islam verboten. Dies wird aus zwei Suren des Korans hergeleitet. So heißt es in Sure 2, 195: "... und stürzt euch nicht mit eigner Hand ins Verderben..." und in Sure 4, 29: "... und begeht nicht Selbstmord...". Ein Selbstmörder (arab. intihari) wird nach islamischer Tradition mit ewiger Verdammnis in der Hölle bestraft.

Dagegen ist der Märtyrer (arab. schahid oder mustaschhid) eine verehrte und respektierte Figur. Der bedeutendste Märtyrer ist derjenige, der für Gott (arab. fi sabil Allah) auf dem Schlachtfeld stirbt. Ihm wird direkter Zugang zum Paradies noch vor dem Tag des Jüngsten Gerichts gewährt. Ob ihm dort 72 Jungfrauen zur Seite stehen und daher ein sexuelles Motiv eine Rolle spielt, ist in der islamischen Tradition umstritten. Daneben existieren noch andere Märtyrer, z.B. die Opfer von Naturkatastrophen. Während auch diesen das Paradies versprochen ist, müssen sie noch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts warten. Selbstmordattentäter werden oftmals als Märtyrer verehrt. Sie drehen Abschiedsvideos, tauchen auf Plakaten und einschlägigen Internetseiten auf. Um den Selbstmordattentäter herum hat sich eine Medienmaschine gruppiert, die das Ereignis mit allen modernen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit ausschlachtet. Der Märtyrer soll nicht vergessen werden, seine Tat dient als Vorbild für die Lebenden.

Weder unter muslimischen Rechtsgelehrten noch in der islamischen Öffentlichkeit gibt es eine einhellige Meinung zu Selbstmordattentaten. Betrachtet man das arabische Meinungsbild – in Zeitungen, Internet und Fernsehen – so kann eher von einer generellen Zustimmung zu Selbstmordattentaten gesprochen werden, die jedoch stark kontextabhängig ist.

In der theologischen Diskussion über Selbstmordattentate kursieren verschiedene Meinungen. Einige muslimische Rechtsgelehrte haben aus oben genannten Koranversen das absolute Verbot des Selbstmords abgeleitet. Ihrer Ansicht nach ist jeder, der mit der festen Absicht in den Kampf zieht zu sterben, ein Sünder.

Andere Rechtsgelehrte meinen, dass die Absicht differenziert bewertet werden muss. Falls die Absicht die Selbsttötung ist, so handelt es sich um Selbstmord. Ist die primäre Absicht jedoch die Tötung des Feindes, so ist es eine erlaubte Tat. Diese Erlaubnis wird aus der Pflicht zum Jihad abgeleitet. "Jihad", wörtlich übersetzt "Bemühung" oder "Streben", taucht im Islam als doppeldeutiges Konzept auf. Der "große Jihad" bezeichnet das Streben eines jeden Muslims nach einem guten und gottgefälligen Leben. Der "kleine Jihad" ist hingegen als Verteidigungskrieg gegen nicht-muslimische Eindringlinge zu verstehen. In der klassischen Rechtstheorie wurde daraus ein komplexes Regelwerk von erlaubten und verbotenen Kriegshandlungen und –zielen entworfen. In der Tradition islamistischer Denker hat sich der Jihad als Pflicht zum Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus und schließlich das gewaltsame Vorgehen gegen alles "Unislamische" durchgesetzt.

Neben den Interpretationen von Rechtsgelehrten spielen auch die öffentliche Meinung und staatliche Positionen eine wichtige Rolle. Während die Anschläge vom 11. September 2001 in der islamischen öffentlichen Meinung und seitens der meisten staatlichen Führungen, zumindest bis zum amerikanischen Einmarsch im Irak, weitgehend auf Ablehnung gestoßen sind, werden Anschläge – ob konventionell oder als Selbstmord – im israelisch-palästinensischen Konflikt und im Irak zumeist gutgeheißen. Aus islamischer Sicht handelt es sich bei diesen Konflikten um Abwehrkämpfe - Jihad im Sinne einer Verteidigung von muslimischen Gebieten - in denen das Selbstmordattentat angesichts der militärischen Überlegenheit des Gegners erlaubt ist.

Ausblick

Es ist zu befürchten, dass uns das Phänomen der Selbstmordattentate auch in den kommenden Jahren weiter begleiten wird. Während sich lokale Konflikte wie in den Palästinensergebieten und im Irak durch Friedenslösungen regeln ließen, die auf den Rückhalt der Zivilbevölkerung stoßen und damit terroristischen Gruppen den Rückzugsraum nehmen, lässt sich gegen den internationalen Terrorismus nur mit polizeilichen und geheimdienstlichen Mitteln vorgehen. Es ist davon auszugehen, dass Selbstmordattentate in der islamischen Öffentlichkeit so lange Unterstützung finden werden, wie dort das Gefühl vorherrscht, einer generellen Attacke durch den Westen ausgeliefert zu sein. Aufgrund der schweren sozialen und politischen Verwerfungen in fast allen arabischen und vielen islamischen Ländern, die oftmals dem Westen in die Schuhe geschoben werden, und der tatsächlich existierenden westlichen Intervention – wie in Afghanistan und im Irak - ist nicht von einer schnellen Änderung dieses Meinungsbildes auszugehen.

Volker Trusheim studierte Islamwissenschaften und Judaistik an der Freien Universität Berlin. Er hat sich in seiner Magisterarbeit mit dem Phänomen Selbstmordattentäter beschäftigt. Seit 2005 ist er Kulturmanager in Assiut Ägypten.