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Gefängnisse als Orte der Radikalisierung – und der Prävention?

Husamuddin Meyer

/ 23 Minuten zu lesen

Gefängnisse können Weichen für die Zukunft der Gefangenen stellen. Die Anschläge der letzten Jahre haben gezeigt, dass Haftanstalten Brutstätten für Radikalisierungsprozesse sein können. Gerade im Gefängnis muss daher verstärkt Präventionsarbeit stattfinden. Können muslimische Seelsorger hierzu einen Beitrag leisten? Husamuddin Meyer ist Gefängnisseelsorger und Imam in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden. Er beschreibt seine Erfahrungen und skizziert welche Maßnahmen notwendig wären, um mehr muslimische Seelsorger in deutschen Gefängnisse zu etablieren.

Husamuddin Meyer ist Gefängnisseelsorger und Imam in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden. (© dpa)

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"Wenn man sich selbst hasst, dann ist alles egal. Dann ist man zu allem fähig." Das sagte mir ein Häftling in einer Rückschau nach einer vierjährigen Haft. Er hatte regelmäßig an dem religiösen Angebot teilgenommen, wir hatten unzählige Einzelgespräche über seine persönlichen Sorgen und über die immer wieder auftretenden Konflikte im Gefängnis geführt. Er betrachtete in dieser Rückschau beeindruckend reflektiert seinen Wandel, auch seinen sehr unruhigen Zustand bei Strafantritt. Er war im Heim aufgewachsen, hatte das für das Leben so zentrale Selbstwertgefühl nicht entwickeln können, führte mehrere Raubüberfälle durch, nahm auf einer der Kundgebungen des salafistischen Predigers Pierre Vogel den Islam an, suchte Anschluss, Selbstbestätigung, Selbstwertgefühl. Er ging nicht sehr weit in die Szene hinein, sonst hätte er ein typischer Syrien-Ausreisender oder gar ein homegrown terrorist werden können. Stattdessen kehrte er zurück zu den Raubüberfällen und wurde zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt – als 19-Jähriger. Er hatte das große Glück, dass es in der Justizvollzugsanstalt (JVA), in der er einsaß, ein seelsorgerisches Angebot gab. Das hat ihn sehr verändert und von einem sich selbst hassenden Menschen zu einem reflektierten jungen Mann werden lassen, der sein Potenzial ausschöpft und zufrieden wirkt, endlich ein Selbstwertgefühl entwickeln konnte, sich geliebt fühlt. "Ich habe jetzt verstanden, worum es im Islam geht", sagte er mir später.

Wäre er im Gefängnis statt auf den Seelsorger auf einen hochgradig ideologisierten Islamisten getroffen, hätte sein Lebensweg sich ganz anders fortsetzen können. Terroranschläge werden häufig – etwa 2004 in Madrid, 2012 in Toulouse, 2015 in Paris oder im Dezember 2016 in Berlin – von entlassenen Straftätern verübt, bei denen ähnlich wie in dem oben erwähnten Beispiel ungünstige biografische Voraussetzungen, kriminelle Energie und eine menschenverachtende Ideologie eine explosive Mischung bilden. Die Radikalisierung, die Vermittlung der Ideologie, erfolgte nicht selten im Gefängnis. Nach dem Attentat von Kopenhagen 2015, bei dem zwei Menschen erschossen wurden, sagten Weggefährten des Täters, dass dieser ein anderer Mensch gewesen sei, als er rund zwei Wochen zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. Statt über Autos und Frauen zu sprechen, habe er über Religion monologisiert, über die Opfer im Gazastreifen und das Paradies.

Die Erkenntnis, dass Gefängnisse zu Brutstätten für Radikalisierungsprozesse werden können, setzte sich seltsamerweise aber erst nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar 2015 in Paris durch. Von den beiden Attentätern, den Kouachi-Brüdern, die auch im Heim aufgewachsen waren, begegnete einer im Gefängnis einem Rekrutierer von al-Qaida und Getreuen von Osama bin Laden, der seinen Radikalisierungsprozess maßgeblich beeinflusste. Auch Amedy Coulibaly, der dritte Attentäter, der kurz nach dem Attentat auf Charlie Hebdo den jüdischen Supermarkt überfiel, hatte im Gefängnis zum Zirkel dieses Rekrutierers gehört. Er saß wegen Raubüberfällen und Drogenhandels ein.

Gerade im Gefängnis muss also verstärkt Präventionsarbeit stattfinden, wenn man Radikalisierungen verhindern möchte. Können muslimische Seelsorger hierzu einen Beitrag leisten?

Muslimische Seelsorge als Beitrag zur Radikalisierungsprävention

Die eigentliche Seelsorge

Die Hauptaufgabe der Seelsorge leitet sich vom Wort selbst ab: Die Sorge um die Seele. Eine gesunde Seele macht einen zufriedenen Menschen aus. Dieser hat keinen Grund für kriminelle Taten, extremistische Bestrebungen oder zerstörerische Handlungen. Selbsthass dagegen ist ein gefährlicher Zustand.

Seelsorge ist insbesondere in Krisensituationen, z.B. im Gefängnis, von großer Wichtigkeit. Die Häftlinge sind vielfach auf sich allein gestellt, dürfen nur begrenzt Besuch bekommen und telefonieren und haben kein Internet. Viele Häftlinge denken in und aufgrund dieser Situation über ihr bisheriges und zukünftiges Leben nach, wollen etwas verändern. Viele beschäftigen sich mit religiösen Fragen wie Vergebung, aber auch mit dem Sinn des Lebens.

Nicht zuletzt deshalb gibt es seit Jahrzehnten vom Staat bezahlte christliche Hauptamt-Seelsorger (meist sogar einen katholischen und einen evangelischen) in allen Gefängnissen, die Gottesdienste abhalten, sich um die persönlichen Probleme der Inhaftierten kümmern und rund um die Uhr ansprechbar sind.

Mittlerweile beträgt der Anteil der Muslime in den Gefängnissen Deutschlands etwa 20 Prozent, im Jugendvollzug teilweise über 50 Prozent. Sie haben durch den meist vorhandenen Migrationshintergrund oft noch mehr Sorgen als die einheimischen Straftäter. Manchmal sind die Straftaten eine direkte oder indirekte Folge des Migrationshintergrundes, etwa wenn sie auf Identitätskonflikte, einen starken Geltungsdrang oder das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Erziehungskonzepten der Eltern und der Mehrheitsgesellschaft zurückzuführen sind oder wenn Diskriminierungserfahrungen gemacht wurden. Bei anderen (etwa bei denjenigen, die ohne gültigen Aufenthaltstitel aufgegriffen wurden, sich nicht einmal in deutscher Sprache verständigen können und hier keine Angehörigen haben) verstärkt der Aufenthalt in der Fremde fern von ihrer Heimat die Probleme; Kriminalität und Gefängnisaufenthalte können folgen. Dennoch gibt es in vielen Gefängnissen keinen muslimischen Seelsorger; in einigen finden vereinzelt Besuche von DITIB-Imamen statt, die allerdings meist kein Deutsch können und daher einen Übersetzer mitbringen.

Als ich 2008 die Arbeit in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Wiesbaden begann, bat mich die JVA-Direktion ein Freitagsgebet in deutscher Sprache anzubieten, bei dem explizit auch "Ehrverbrechen" wie der sogenannte Ehrenmord thematisiert werden sollten. Diese Art von Verbrechen machte damals wie heute einen Teil der Straftaten aus, die mit der Religion begründet wurden. Die große Resonanz – die Teilnahmequote lag von Beginn an bei 60 bis 70 Prozent der muslimischen Inhaftierten – zeigte, wie hoch der Bedarf an religiösen Angeboten war (und nach wie vor ist). Der große seelsorgerische Bedarf wurde auch deutlich, als nach dem Freitagsgebet viele Anfragen nach einem persönlichen Gespräch kamen. Viele sagten mir: "Endlich einer von uns, der uns versteht!"

Vermittlung von Islamwissen

Religiöses Vorwissen war damals unter den Häftlingen so gut wie nicht vorhanden. Da es in den meisten Gefängnissen keine offizielle religiöse Betreuung in Form eines Imams gibt, wird diese Funktion dort nicht selten von zweifelhaften bis gefährlichen Mithäftlingen – im schlimmsten Fall von hochgradig radikalisierten Personen – übernommen. Sie erwecken den Eindruck, dass sie den Islam sehr gut kennen, haben aber in Wirklichkeit häufig nur Phrasen und bestimmte Koranverse auswendig gelernt und sich daraus eine vereinfachte Interpretation zusammengebaut. Sie unterrichten quasi "den" Islam im Gefängnis und erklären den Mitgefangenen die Pflicht des Dschihad. Der Dschihad, so belehren sie ihre Mithäftlinge unter anderem, erlaube nach den Fatwas (Rechtsgutachten), z.B. von Anwar al-Awlaki, neuerdings auch Attacken auf Zivilisten und sogar Selbstmordattentate. Auf diese Art und Weise könne man sich mit ganzer Kraft für den "Islam", für "Allah" einsetzen und seinem "Leben endlich einen Sinn geben". Gewalt wird so im Sinne der Religion interpretiert und legitimiert.

Im Gefängnis treffen – vereinfacht ausgedrückt – zwei Typen aufeinander: Radikale und wütende Manipulierbare. Ein Radikalisierter kann schnell viele Anhänger gewinnen, die in der Folge zu vielen – manchmal schlimmen – Straftaten fähig sind, wenn sie sich auf dem richtigen Weg wähnen. Die meisten stehen auf Kriegsfuß mit den Autoritäten, viele haben Erfahrung in der Waffenbeschaffung und entsprechende Kontakte, sind geschult in konspirativen Operationen. Die ohnehin schon geringen Hemmschwellen in Bezug auf Gewalttaten verschwinden durch den nun vorhandenen ideologischen Überbau gänzlich. Gewalttaten und andere Verbrechen werden sakralisiert: Von nun an arbeiten die ehemals Kriminellen für eine große Sache, bekommen anders als zuvor viel Ansehen und werden berühmt. Sie werden zu "Löwen der Umma (der muslimischen Gemeinschaft)" bzw. zu "Löwen Allahs". Im Extremfall werden sogar Drogenhandel mit den kuffar ("Ungläubigen"), Vergewaltigungen von "Ungläubigen" oder Einbrüche, selbst in Schulen und sogar in Kirchen, von den Extremisten religiös gerechtfertigt. Alles, was vorher illegal war und wofür man sich zumindest etwas schämte, wird nun zu einer guten Tat.

Hinzu kommt, dass bei der Rekrutierung durch radikale Islamisten im Gefängnis ein besonders perfides Argument verwendet wird: Den Rekrutierten wird Angst vor der Hölle gemacht, die sie aufgrund ihrer vielen Sünden nur noch durch den "Märtyrertod" vermeiden könnten, weil man durch ihn garantiert ins (höchste) Paradies käme. Von einem solchen Argumentationsmuster haben mir viele Häftlinge erzählt.

Ab 2011 versuchten Rekrutierer mehr und mehr, in Fitnessstudios, in Schulen, in Moscheen, überall, wo man junge Leute antreffen konnte, mit Videos von Gräueltaten syrischer Soldaten des Assad-Regimes an der syrischen Bevölkerung und einfachen Antworten auf schwierige Fragen junge Menschen dazu zu bringen, sich dem Kampf in Syrien anzuschließen. Auch die kriminelle Szene entdeckten sie schnell als idealen Pool für die zunehmend benötigen Kämpfer gegen das Regime des syrischen Präsidenten Assad. Explizit waren sie dabei auf der Suche nach Leuten mit geringen Islamkenntnissen, die man "formen" und denen man ein bestimmtes Islamverständnis näherbringen konnte.

Insbesondere zwischen 2011 und 2016 war daher im Gefängnis zu spüren, dass neu ankommende Straftäter zunehmend "religiöse" Parolen von sich gaben oder Koranverse über Gewalt zitierten, wie sie z.B. auch von muslimfeindlichen Agitatoren verwendet werden, um aufzuzeigen, dass Gewalt inhärenter Bestandteil des Islams sei. Offensichtlich waren sie also schon vor der Haft oder in anderen Haftanstalten mit Rekrutierern in Berührung gekommen. Mehr und mehr junge Häftlinge sprachen von der Scharia, waren unsicher und suchten nach Antworten auf Fragen bezüglich ihrer Religion – wie etwa die, mit denen ich nach dem Freitagsgebet in der JVA Weiterstadt regelmäßig konfrontiert wurde: "Ist die Auswanderung (hidschra) in ein islamisches Land bzw. das Kalifat Pflicht?", "Ist nicht jeder, der nicht auswandert, ein Ungläubiger und damit ein legitimes Ziel für einen Angriff?" oder "Ist der Kampf in Syrien ein Dschihad, der es für alle verpflichtend macht, mitzukämpfen?", "Müssen Muslime getötet werden, die nicht beten?" – Fragen, die darauf hindeuteten, dass unter den Häftlingen rege Diskussionen stattfanden, und auf die radikalisierte Mithäftlinge ihre ganz eigenen Antworten hatten. Nur alle zwei Wochen, wenn ich das Freitagsgebet abhielt, konnte ich nach der Predigt in den wenigen verbleibenden Minuten versuchen, deren Argumente zu entkräften – ein Tropfen auf den heißen Stein.

Terrorismus war auch in der JVA Wiesbaden von Anfang an Thema, etwa wenn sich afghanische junge Häftlinge während meiner wöchentlichen Besuche erkundigten, wie denn das Engagement ihrer Verwandten bei den Taliban religiös zu beurteilen sei oder wie Osama bin Laden seine Taten rechtfertige, da er ja optisch bzw. von seiner Kleidung her einer religiösen Person glich und sich auf die Religion berief.

Es muss daher unbedingt Islamwissen vermittelt werden, um die muslimische Identität dieser inhaftierten Personen mit positiven Inhalten zu füllen und die große Mehrheit so gegen die Missionierungsversuche der Extremisten zu "immunisieren" bzw. ihnen das entsprechende Werkzeug an die Hand zu geben, sich mit den verschiedenen Interpretationen des Islams kritisch auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen.

Ein im Gefängnis tätiger Imam kann in dieser Hinsicht schon viel bewirken, wenn er z.B. in einer Freitagspredigt Themen anspricht, die die Häftlinge beschäftigen. Die Freitagspredigt wird für gewöhnlich gut besucht und ist eine hervorragende Gelegenheit zur Ansprache. Oft sagten mir junge Häftlinge nach der Freitagspredigt, in der wir auch über den sogenannten Islamischen Staat (IS, früher ISIS) sprachen: "Gut, dass Sie das angesprochen haben! Hier hinter Gittern wird viel diskutiert, ob ISIS gut ist oder nicht. Wenn der Imam das sagt, ist das überzeugend!"

"Wutprophylaxe"

Die Vermittlung von Wissen über den Islam genügt allerdings nicht, denn die Gründe für die Hinwendung zur Gewalt sind vielfältig. Als Mohamed Merah 2012 in Toulouse über mehrere Tage hinweg Franzosen jüdischen Glaubens und muslimische Franzosen in Militärkleidung erschoss, eher er selbst Tage später von Polizisten erschossen wurde, wurde mir durch die Kommentare der Häftlinge zum ersten Mal klar, dass Attentate häufig mehr mit Wut als mit Religion bzw. Fanatismus zu tun haben. Damals sagte ein nordafrikanischer Häftling nach dem Freitagsgebet über den Täter: "Der hat’s richtig gemacht!" Als Motiv hatte Merah kurz vor seiner Tat einem Journalisten des Senders France 24 Protest gegen das Verschleierungsverbot, den Afghanistan-Einsatz der französischen Armee und die Situation in Palästina genannt. Die Wut auf "das System", "den Westen", Amerika, und immer wieder "die Juden" bzw. Israel ist auch bei vielen Häftlingen groß. Die Weltpolitik wird als insgesamt islamfeindlich wahrgenommen. Dschihadismus und der Krieg in Syrien und im Irak werden daher von vielen als Konsequenz der Interventionen westlicher Länder im Nahen Osten gesehen.

Dass junge radikalisierte Menschen meinen, mit ihrem Kampf in Syrien und dem Irak einer Art internationaler Widerstandsbewegung zur Verteidigung der Muslime weltweit beigetreten zu sein, hat auch mit der ideologischen Hintergrundarbeit zu tun: z.B. erschien 2005 das 1.600 Seiten umfassende Werk Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand des mutmaßlichen Mitglieds von al-Qaida, Abu Musab al-Suri; es fand starke Verbreitung durch das Internet, insbesondere über YouTube. Auch die deutschen Salafisten nutzten YouTube von Anfang an stark, um zum Zwecke der Missionierung produzierte Videos zu verbreiten.

Während die westlichen Medien oft Gräueltaten islamistischer Terroristen zeigen und damit unbewusst auch der Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft Vorschub leisten, schicken sich junge Muslime gegenseitig Videos von den Misshandlungen der Palästinenser durch israelische Siedler und Soldaten, Berichte über Guantanamo, Fotos aus dem amerikanischen Foltergefängnis Abu Ghraib, von den Folterungen und Hinrichtungen von Muslimen in Myanmar durch radikal-extremistische Buddhisten oder von den Massakern an Muslimen durch christliche Milizen in der Zentralafrikanischen Republik. Die von den Extremisten explizit verfolgte Strategie der Spaltung der Gesellschaft wird so kontinuierlich vorangetrieben.

Ein Beispiel aus meiner Arbeit dafür, wie sehr auch Häftlinge durch unreflektierten Medienkonsum manipulierbar sind: Ein Häftling palästinensischer Abstammung sagte einmal bei einem Gruppentreffen: "Es reicht jetzt! Die essen uns! Wir müssen jetzt etwas tun!" Ich fragte: "Was meinst du?" Er sagte: "In Zentralafrika! Ich habe ein Video gesehen, in dem Christen Muslimen hinterherrennen, sie mit der Machete zerhacken, die Körperteile grillen, würzen und dann reinbeißen!" Ich sagte: "Ja, das ist schrecklich, ich habe das Video auch gesehen. Aber was sollen wir jetzt machen? Willst du jetzt den Vollzugsbeamten attackieren, weil dieser möglicherweise Christ ist? Als Racheakt?"

Die Wut, die im Gefängnis nach solchen Ereignissen hochkocht, muss regelmäßig in den Gruppengesprächen abgekühlt und reflektiert werden. Denn Wut kann – in Verbindung mit einem ideologischen Rahmen wie dem Islamismus – aus einem gewöhnlichen Kriminellen einen Dschihadisten machen. Fromme, gottesfürchtige Gläubige werden es nur äußerst selten. Dabei ist es immer wieder eine große Herausforderung, in der großen Runde passende Worte zu finden, die die Inhaftierten auf ihrer Ebene ansprechen, damit sie etwas davon haben und gleichzeitig lernen, wie man als religiöser Mensch mit solchen Situationen umgeht.

Im Jugendstrafvollzug kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der Wut und Frustration immer wieder hochkochen lässt: Die meisten Muslime im Jugendstrafvollzug sind hier in Deutschland als "Menschen mit Migrationshintergrund" aufgewachsen, sprechen besser Deutsch als irgendeine andere Sprache. Ihre Vorfahren galten als (vorübergehende) "Gastarbeiter", später (nationalitätenabhängig) z.B. als "türkische Migranten", die ihre türkische Identität oft in türkischen Kulturvereinen pflegten. Die Nachkommen der Arbeitsmigranten aus der Türkei, aber auch z.B. Zugezogene aus Marokko oder Geflüchtete aus Afghanistan stehen identitätsmäßig zwischen den Stühlen: Bei Urlauben in ihrem Herkunftsland – insofern sie überhaupt dorthin reisen können – werden sie als Deutsche wahrgenommen. Sie kennen weder die dortige Sprache noch die kulturellen Kodizes gut genug, um nicht als "Ausländer" aufzufallen. In Deutschland hingegen werden sie nicht als Deutsche angesehen, sondern optisch und kulturell nun zunehmend weg von der Nationalität ihrer Eltern einer homogenen Gruppe, nämlich "den Muslimen", zugeordnet – und damit einer Gruppe, die seit den Terroranschlägen in den USA 2001 verstärkt mit Diskriminierungen und Feindbildkonstruktionen konfrontiert ist.

Was Muslim-Sein dabei konkret bedeutet, wissen viele von ihnen gar nicht, besonders dann nicht, wenn sie z.B. aus einem wenig religiösen Elternhaus kommen. Dennoch greifen sie diese Identitätszuschreibung häufig auf und die Frage, ob sie Deutsche sind, wird (von den Häftlingen) denn auch meistens verbittert verneint, selbst wenn sie hier geboren sind und oft einen deutschen Pass besitzen. Identitätskonflikte sind damit nahezu unausweichlich.

Die von außen zugeschriebene Identität als Muslim bei gleichzeitiger verbreiteter Muslimfeindlichkeit in ihrem sozialen Umfeld, den Medien und der Gesamtgesellschaft führen dann zu einer Wurzellosigkeit, die weit schwieriger auszuhalten ist, als man denkt. Wenn man den jungen Menschen das Gefühl gibt, dass man sie eigentlich nicht hier haben möchte, ihre Religion, ihre Kultur und sogar ihre Hautfarbe hier nicht sehen möchte, dann verursacht das einen Gegenhass, Hass auf die Gesellschaft. Als ich einmal die Inhaftierten fragte, woher denn der Hass komme, sagten sie: "Wir fühlen uns unerwünscht!" Ein anderer sagte: "So wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus!"

Viele versuchen diese Leere zu füllen, indem sie sich über den Islam informieren und landen dabei häufig bei den Salafisten, die nach wie vor das deutschsprachige Angebot dominieren und die islamische Identität scheinbar am konsequentesten leben. Die Salafisten kehren dabei – und auch das ist ein wichtiger Faktor – die Diskriminierungen um: Nichtsalafisten werden verächtlich kuffar genannt.

Es ist klar, dass aufgestaute Wut, Frustration und Diskriminierungsfaktoren allein nicht erklären können, warum junge Menschen sich in Gefängnissen radikalisieren. Es gibt individuell verschiedene Wege und Faktoren, die diesen Prozess beeinflussen. Klar ist aber auch: Ein Mensch, der hier seine Heimat sieht, sich akzeptiert und angenommen fühlt und das Gefühl hat, die gleichen Teilhabechancen zu haben wie alle anderen, der wird sich nicht gegen die Gesellschaft wenden, sondern eher schauen, wie er sich einbringen kann. Junge Menschen mit muslimischem Hintergrund müssen das Gefühl haben, dass sie zu dieser Gesellschaft gehören, dass sie, ihre Kultur und ihre Religion akzeptiert werden. Unrecht und Ungleichbehandlungen sollten vermieden werden. Partizipation muss möglich sein, die Vorteile davon müssen sichtbar sein. Es muss sich lohnen, sich für diese Gemeinschaft einzusetzen. Diesen Eindruck sollten sie gewinnen, dann brauchen sie nicht in irgendeinen "Islamischen Staat" auszuwandern oder den hiesigen zu sabotieren.

Auch deshalb ist die Akzeptanz der islamischen Religion innerhalb des Gefängnisses und die Einrichtung einer gleichwertigen Seelsorge (im Vergleich zu den bereits bestehenden christlichen Angeboten) ein wichtiger Schritt. Denn die Häftlinge sehen sehr wohl, dass Inhaftierten christlichen Glaubens rund um die Uhr Seelsorger zur Verfügung stehen.

Als die ersten Festgebete und Freitagsgebete sowie generell Zeit für muslimische Seelsorge im Gefängnis eingerichtet wurden, hatte das einen erstaunlichen Effekt. Viele der Inhaftierten fühlten sich in ihrer Identität angenommen und sagten sich: "Ich werde hier anerkannt und ich gebe die Anerkennung zurück."

Der Umgang mit Rückkehrern in Gefängnissen

Nun kommt aber noch ein neues Problem hinzu: Immer mehr Rückkehrer aus dem Syrienkrieg landen in Haft. Rückkehrer sind nicht zwingend gefährlich; viele sind desillusioniert, hatten etwas ganz anderes erwartet, waren von der Grausamkeit, vom "Unislamischen" des "IS"-Systems schockiert. Viele weitere Rückkehrer sind traumatisiert. Einer sagte mir: "Wenn ich gewusst hätte, was da unten abgeht und wie die denken, dann wäre ich niemals dorthin gegangen!" Dennoch sind einige immer noch ideologisiert oder wurden manchmal erst dort richtig "getrimmt", militärisch und ideologisch.

Eine Frage, die man sich in diesem Zusammenhang stellen muss, lautet: Soll man Radikalisierte und Rückkehrer, die nun vermehrt verurteilt werden, lieber von den übrigen Gefängnisinsassen isolieren oder gemeinsam mit anderen Insassen unterbringen? In England bringt man die Radikalen in einem separaten Trakt unter. Man will jeden Kontakt zu anderen Häftlingen unterbinden. Auch in Frankreich setzte man eine Zeit lang auf eine gemeinsame Unterbringung aller Radikalen in einem Trakt. Der Vorteil dieser Maßnahme ist, dass sich deren menschenfeindliche Ideologie nicht im Rest des Gefängnisses ausbreitet – eine nicht zu unterschätzende Gefahr, denn Syrien-Rückkehrer und andere Dschihadisten mit Kampferfahrung werden oftmals nahezu als Helden verehrt. Der Nachteil einer gesonderten Unterbringung radikalisierter Häftlinge ist, dass sie eine starke Gruppe bilden, sich aufgewertet fühlen und in ihrer Wichtigkeit bestätigt sehen. Das macht eine Deradikalisierung extrem schwierig. Daher rückte man zumindest in Frankreich wieder davon ab.

In der JVA Wiesbaden versucht man auch, radikalisierte Personen zu resozialisieren: Man trennt Syrien-Rückkehrer und andere Ideologisierte voneinander und bringt sie einzeln in Wohngruppen innerhalb des Gefängnisses, in denen möglichst unbeeinflussbare Personen wohnen, unter. So bekommen sie keine Resonanz für ihre Ideen und viel Kontakt mit Andersgesinnten. Dadurch soll eine Aufweichung der Ideologie erreicht werden.

Es werden zusätzlich Strukturbeobachter in den Gefängnissen ausgebildet, die Radikalisierte anhand bestimmter Merkmale ("IS"-Flaggen, spezielle Symbole, Kriegsmusik) erkennen und Netzwerke aufdecken sollen. Telefongespräche und Post werden überwacht, Zellen werden häufiger kontrolliert. Tatsächlich kursierten schon 2014 Kassetten mit Gesängen zur Lobpreisung des "Kalifen" des "Islamischen Staates" im Gefängnis. Ich hörte mir damals ganze Kassetten an, um unbedenkliche von schädlichen Gesängen zu unterscheiden, die oft auf einer Kassette kombiniert waren.

Post von radikalen Gruppen wie "Ansarul Aseer", dem "Gefangenenhilfsverein" von Bernhard Falk, der während einer für linksterroristische Aktivitäten verhängten 13-jährigen Haftstrafe zum Islam konvertierte und nun ein Anhänger von al-Qaida ist, oder der nun verbotenen Bewegung "Die Wahre Religion" von Ibrahim Abou-Nagie, der durch die Koranverteilaktion "Lies!" bekannt wurde, wird geblockt, auch wenn sie nur harmloses Material schicken, um den Kontaktaufbau von vornherein zu verhindern.

Eine weitere Maßnahme einiger Bundesländer ist pädagogischer Art: Mitarbeiter des Violence Prevention Network e.V. (VPN) machen mit Extremisten ein Anti-Gewalt- und Kompetenz-Training (AKT®). Speziell für die Arbeit mit religiös motivierten Extremisten wurden muslimische Pädagogen und Islamwissenschaftler eingestellt und zu AKT®-Trainern fortgebildet. Der Zugang zu den Häftlingen wird durch die gemeinsame Religionszugehörigkeit enorm erleichtert. In Gruppen- und Einzelsitzungen werden manipulative Mechanismen für die Häftlinge sichtbar gemacht und die Ideologie dekonstruiert.

Wichtig ist schließlich auch die Betreuung nach der Haft, die ebenfalls von VPN gewährleistet wird und Teil der Maßnahme ist. Da die Gefängnisseelsorger nach der Haft aufgrund der begrenzten Ressourcen nicht in dieser Form tätig sein können und auch in der Haft Seelsorge nicht als "Maßnahme" angeordnet werden kann, bildet das Angebot von VPN hier eine wichtige Ergänzung.

Wo findet man genügend Seelsorger?

Woher bekommt man die benötigten Seelsorger für die Gefängnisse? Ist ein mittelmäßiger Kandidat besser als keiner, weil radikale Mithäftlinge sonst die religiöse "Bildung" der Häftlinge übernehmen?

Erfahrungen aus Großbritannien, wo in manchen Fällen Salafisten oder Wahhabiten die Aufgabe des Gefängnisseelsorgers übernahmen, zeigen, dass Imame mit einem "fragwürdigen" Islamverständnis unter bestimmten Umständen das Problem mit radikalisierten Häftlingen im Gefängnis verstärken können. Die Auswahl der Seelsorger muss deshalb mit größter Sorgfalt erfolgen. Soll man also eine "Gesinnungsprüfung" einführen?

Die Universität Tübingen bietet mittlerweile einen Studiengang "Praktische Islamische Theologie für Seelsorge und Soziale Arbeit" an und in Osnabrück kann man im Rahmen des Studiums der Islamischen Theologie den Schwerpunkt "Gemeindepädagogik und Seelsorge" wählen. Universitätsabsolventen fehlt aber oftmals die praktische Erfahrung.

Der Verein VIBIS e.V. (Verein für islamische Bildung, Seelsorge und Integration) hat daher ein modulares Ausbildungskonzept entwickelt, das aus verpflichtenden und individuell additiven Modulen besteht, je nachdem, auf welchem Gebiet der jeweilige Kandidat Nachholbedarf hat. So kann man möglichst schnell Personal einsetzen und berufsbegleitend fortbilden.

Wichtigste Grundvoraussetzung für einen ausreichenden Einsatz von muslimischen Seelsorgern im Gefängnis sind hinreichende finanzielle Mittel: für eine gute Ausbildung, für ständige Fortbildungen, für einen gegenseitigen Austausch, für Supervision. Und: Es müssen ordentlich bezahlte Seelsorgerstellen geschaffen werden, in Anlehnung an jene der christlichen Kirchen, damit die Seelsorger sich intensiv um die Häftlinge kümmern können, im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Friedens. Hierin sind die Bundesländer in ihren Bemühungen unterschiedlich weit fortgeschritten.

Fazit

Gefängnisse können Weichen für die Zukunft der Inhaftierten stellen, die in sehr unterschiedliche Richtungen führen können. Die Syrien-Rückkehrer z.B., deren Zahl in den Gefängnissen zunimmt, gelten bei vielen muslimischen Inhaftierten als Helden und Vorbilder, denen man gern zuhört. Wenn diese dann nicht von ihren Erlebnissen traumatisiert und desillusioniert sind, sondern an ihrem Fanatismus festhalten, kann sich die Gefahr schnell multiplizieren. Hinzu kommen diejenigen radikalisierten Häftlinge, die zwar nicht in Syrien oder dem Irak waren, aber dennoch radikale Ansichten vertreten und im Gefängnis agitieren.

Wenn ihren manipulativen Agitationen und vereinfachten Interpretationen des Islams keine plausiblen, islamtheologisch fundierten Argumente entgegengestellt werden, sondern sie unwidersprochen bleiben, dann ist die Gefahr groß, dass sich noch mehr junge Menschen in Gefängnissen radikalisieren.

Hassideologien ist aber mit naivem Ehrenamtsengagement – und dazu gehört die unterfinanzierte muslimische Seelsorge in Gefängnissen bislang leider – nicht beizukommen. Eine professionell organisierte Seelsorge als Beitrag zur Radikalisierungsprävention kann deshalb nur in unserer aller Sinne sein.

Gleichzeitig gilt jedoch: Seelsorge ist keine Deradikalisierungsmaßnahme und auch nicht als solche gedacht. Und: Auch die beste Seelsorge kann nicht jeden retten. Erreichbar sind zudem nur diejenigen, die sich an den Seelsorger wenden.

Es gibt dabei mehrere "Baustellen", die mithilfe von seelsorgerischen Angeboten bearbeitet werden können, unter anderem:

  1. Identitätsfragen,

  2. das Islamverständnis,

  3. weltpolitische Ereignisse (Naher Osten, Syrien, "der Westen" vs. "die Muslime"),

  4. eigene seelische oder psychische Probleme.

Der Stellenwert eines solchen seelsorgerischen Hilfsangebotes wird mir immer wieder daran deutlich, dass mich fast täglich entlassene Häftlinge auf der Straße ansprechen, mir Mails schreiben oder mich anrufen. Manche sagen mir, dass das eine oder andere Buch, das ich ihnen in der Haft gab, sie gegen Indoktrinationsversuche gewappnet und vor einer Radikalisierung bewahrt habe. Andere bedanken sich und sagen mir, wie ihnen die Seelsorgeveranstaltungen und die Gespräche geholfen haben und in welch guter Situation sie sich nun befinden. Viele erinnern sich auch an den einen oder anderen Rat oder eine gelernte Strategie, wie man z.B. mit Wut besser umgehen kann. Gefängnisseelsorge geht also weit über Extremismusprävention im engeren Sinne hinaus und kann in vielerlei Hinsicht der Gesellschaft dienlich sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst in dem Sammelband "Interner Link: Sie haben keinen Plan B", der von Jana Kärgel herausgegeben wurde. Der Sammelband kann im Shop der bpb bestellt werden.

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Husamuddin Meyer ist Gefängnisseelsorger und Imam in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden. Zudem führt er für VIBIS e.V. Projekte in Schulen und Moscheen durch, leitet die Hotline Salafismus in Wiesbaden und arbeitet beim Violence Prevention Network (VPN) in der Beratungsstelle Hessen in Frankfurt am Main. Er studierte Ethnologie, Islamwissenschaften und Geografie in Freiburg, Dakar (Senegal) und Ouagadougou (Burkina Faso).