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Libyen beim Aufbau eines neuen Staates

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Ein Jahr nach dem Tod von Diktator Muammar al-Gaddafi am 20. Oktober 2011 befindet sich Libyen in einer Übergangsphase. Noch immer gibt es keine Regierung. Die Aufgaben sind groß: Rechtsstaatliche Institutionen müssen aufgebaut und die Sicherheitslage verbessert werden.

Libysche Soldaten vor der ausgebrannten Ruine des US-Konsulats in Bengasi. Bei einem Angriff auf das Konsulat durch vermutlich islamistische Milizionäre waren am 11. September 2012 der amerikanische Botschafter und drei seiner Mitarbeiter getötet worden. (© AP)

Krieg und Revolution

Mehr als vier Jahrzehnte lang herrschte Muammar al-Gaddafi uneingeschränkt als Diktator über das nordafrikanische Land. Doch die Revolutionen in den Nachbarländern Tunesien und Ägypten lösten im Februar 2011 auch in Libyen friedliche Proteste aus: Bei Demonstrationen in mehreren Städten in Libyen forderten Menschen das Ende des Gaddafi-Regimes.

Die Regierung reagierte mit Gewalt durch paramilitärische Brigaden. Bald nachdem die Opposition mit dem bewaffneten Kampf gegen die Regierung begonnen hatte übernahmen Rebellen die Kontrolle über die Städte Misrata und Bengasi östlich der Hauptstadt Tripolis. Gaddafis Truppen reagierten hart und gingen mit Luftschlägen und einer Bodenoffensive gegen die oppositionellen Rebellen vor.

Auch die internationale Gemeinschaft schaltete sich in den Konflikt ein und übte Druck auf Gaddafi aus: mit Rücktrittsforderungen, Sanktionen und Reiseverboten. Im März autorisierte der UN-Sicherheitsrat schließlich auch eine Militärintervention. Am 19. März begann eine Koalition unter NATO-Führung mit Luftangriffen die Rebellen zu unterstützen - dennoch verschlechterte sich die humanitäre Lage weiter.

Erst im August eroberte die Opposition die Hauptstadt Tripolis. Gaddafi selbst wurde am 20. Oktober 2011 auf der Flucht von Rebellen gefangen genommen und ermordet. Drei Tage später erklärte der Nationale Übergangsrat Libyen offiziell für "befreit" und verkündete Pläne für Wahlen innerhalb der nächsten acht Monate.

Nach dem Umsturz

Nach dem Sturz des Regimes begannen verschiedene Lager um die Macht zu konkurrieren. Der Bürgerkrieg zog in den Regionen einen Aufstieg lokaler Räte und Milizen mit sich, denen die Bevölkerung Misstrauen entgegenbringt. Viele dieser Regionen entziehen sich bis heute der staatlichen Kontrolle.

Die internationale Gemeinschaft versucht, den Demokratisierungsprozess von außen zu unterstützen. Hilfe bei der Entwaffnung und Reintegration der Milizen und Unterstützung bei der Stabilisierung des Landes soll die eigens gegründete UNSMIL der Vereinten Nationen (United Nations Support Mission in Libya) leisten. IWF und Weltbank koordinieren die wirtschaftliche Stabilisierung und das Finanzmanagement des Landes, die EU will den Aufbau der Grenzsicherung, der Zivilgesellschaft und der Medien begleiten.

Vom Nationalen Übergangsrat zur Nationalversammlung

Noch während der Kampfhandlungen wurde im Februar 2011 aus Funktionären und Aktivisten der Nationale Übergangsrat gebildet, der die Opposition vertreten sollte. Er bestand aus vormaligen hohen Vertretern von Gaddafis Regime und Oppositionellen. Seit seiner Gründung werfen Aktivisten und Vertreter von Rebellenbrigaden dem Rat Intransparenz und fehlende Legitimität vor.

Im Juli 2012 wurden schließlich Wahlen abgehalten, um eine Nationalversammlung zu bestimmen. 62 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, fast 40 Prozent von ihnen waren Frauen. Gewinner der Wahl waren gemäßigte Kräfte: Die liberale "Allianz der nationalen Einheit", ein westlich orientiertes Bündnis wurde stärkste Partei. Zweitstärkste Partei wurde die Partei der islamistischen Muslimbrüder. Auch 33 Frauen wurden in die neue Nationalversammlung gewählt - 16 Prozent der über Parteilisten verteilten Sitze.

Im August 2012 übergab der Übergangsrat die Macht an die Nationalversammlung. Die Abgeordneten sollen unter anderem die Wahl eines Rates ermöglichen, der eine libysche Verfassung ausarbeiten soll. Gaddafi hatte ganz auf eine Verfassung verzichtet.

Regierungsbildung weiter verzögert

Anfang September 2012 wählte die Nationalversammlung den langjährigen Oppositionellen Mustafa Abu Schagur zum ersten Regierungschef seit dem Sturz Gaddafis. Schagur scheiterte jedoch an der Bildung eines Krisenkabinetts und wurde nach wenigen Wochen durch ein Misstrauensvotum im Parlament gestürzt. Demonstranten hatten das Parlament gestürmt, nachdem sie in Schagurs Personenliste für ein Krisenkabinett ihre Heimatregion zu wenig repräsentiert sahen. Sein zweiter Kabinettsvorschlag zog das Misstrauensvotum nach sich.

Am 14. Oktober wählte die Nationalversammlung mit knapper Mehrheit den Menschenrechtsanwalt und früheren Dissidenten Ali Seidan zum neuen Ministerpräsidenten. Aufgabe Seidans wird es sein, eine Regierung aufzustellen und die Parlamentswahlen vorzubereiten, die im kommenden Jahr nach der Ausarbeitung einer Verfassung stattfinden sollen.

Angriff auf amerikanisches Konsulat

Im September 2012 offenbarte ein Attentat in der Stadt Bengasi die prekäre Sicherheitslage in der einstigen Hochburg der Rebellen. Bei einem Sturm auf das amerikanische Konsulat am 11. September töteten bewaffnete Männer den amerikanischen Botschafter Chris Stevens und drei Mitarbeiter. Auslöser war vermutlich ein weltweit diskutierter islamfeindlicher Film.

Wenige Tage später demonstrierten Tausende Menschen in Bengasi gegen radikale Islamisten und stürmten den Stützpunkt einer Miliz, der eine Beteiligung an dem Angriff auf das amerikanische Konsulat vorgeworfen wird.

Die libysche Übergangsregierung reagierte auf die Gewalt und die darauffolgenden Demonstrationen mit der Erklärung, alle Milizen und bewaffneten Gruppen in Libyen auflösen zu wollen.

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