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19. April 1943: Aufstand im Warschauer Ghetto | Hintergrund aktuell | bpb.de

19. April 1943: Aufstand im Warschauer Ghetto

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Zum 80. Mal jährt sich der Aufstand im Warschauer Ghetto. Damals leistete eine Gruppe notdürftig bewaffneter Männer und Frauen vier Wochen lang Widerstand gegen die deutschen Besatzer.

Festnahme einiger Mitglieder des jüdischen Widerstands durch SS-Truppen. Rechts im Bild: Hasia Szylgold-Szpiro. Das Foto stammt aus dem sogenannten Externer Link: Stroop-Bericht und trägt die Bildunterschrift „Diese Banditen verteidigten sich mit der Waffe“. SS-Mann Jürgen Stroop fertigte seinen Bericht wie eine Dokumentation an – mit der Absicht, die Vernichtung des Ghettos als militärische Aktion zu charakterisieren und sich in seiner Rolle als Befehlshaber zu profilieren. Sämtliche Fotos seines 50-seitigen Bildberichts zeigen die Geschehnisse aus der Täterperspektive. Sie werden bis heute vielfach benutzt, um den Aufstand im Warschauer Ghetto zu bebildern. (© picture-alliance, Photo12 | Ann Ronan Picture Librar)

Krieg und Besetzung

Vier Wochen nach dem Interner Link: deutschen Überfall auf Polen im September 1939 wurde die Hauptstadt Warschau besetzt. Bis 1939 war hier mit über 350.000 Menschen die größte jüdische Gemeinde Europas, das waren etwa 30 Prozent der Bevölkerung Warschaus. Unmittelbar nach der Besetzung begannen die deutschen Einheiten, die jüdische Bevölkerung durch Interner Link: verschiedene Zwangsmaßnahmen zu terrorisieren .

Die Kennzeichnungspflicht durch Armbinden, starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die willkürliche Beschlagnahmung von Eigentum waren nur einige davon. Gewalttätige Übergriffe der Interner Link: SS und der Polizeieinheiten gegen die jüdische Bevölkerung gehörten ebenfalls dazu.

Funktion der Ghettos

Über 1.000 Ghettos richteten die Deutschen in den von ihnen besetzten Gebieten ein, Interner Link: ca. 600 davon in Polen. Über die Hälfte der Jüdinnen und Juden, die während der Interner Link: Shoah ermordet wurden, mussten einen Teil ihres Lebens in einem Ghetto verbringen. Die Ghettos selbst dienten als Vorstufe der Vernichtungslager. Menschen wurden hier wie in einem Konzentrationslager interniert, ausgegrenzt und ausgebeutet. Sie wurden verheerendem Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten ausgesetzt. In vielen Ghettos wurden Massaker verübt. Die verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner der Ghettos wurden nach und nach in die Vernichtungslager transportiert.

Das Warschauer Ghetto

Schon im November 1939 erklärten die deutschen Besatzer Teile der Innenstadt, die überwiegend von der jüdischen Bevölkerung bewohnt wurden, zum "Seuchensperrgebiet". Am 02. Oktober 1940 erteilte Ludwig Fischer, Gouverneur des Distrikts Warschau, den Befehl zur Interner Link: Errichtung des Ghettos. Ab dem 16. November 1940 waren auf einem etwas mehr als drei Quadratkilometer großen Gebiet – das rund 2,4 Prozent der Fläche Warschaus ausmachte – über 450.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht und vom Rest der Stadt abgeschlossen. Im Schnitt lebten im Ghetto etwa 7,2 Personen in einem Zimmer.

Nicht nur die jüdische Bevölkerung Warschaus, auch jüdische Menschen aus anderen Gebieten Polens und aus Deutschland wurden hier interniert. Auch Angehörige der Sinti und Roma wurden durch entsprechende Erlasse der Behörden und der Polizei im Warschauer Ghetto eingesperrt. Die nichtjüdischen Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtbezirks wurden zuvor gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und wurden teilweise in die von der jüdischen Bevölkerung geräumten Wohnräume versetzt.

Rund um das Ghetto wurde eine drei Meter hohe, 18 Kilometer lange Mauer errichtet. Viele Interner Link: Bewohnerinnen und Bewohner des Ghettos verloren ihre Lebensgrundlage und mussten in ghettoeigenen Betrieben und in Privatbetrieben Interner Link: Zwangsarbeit leisten. Wegen der mangelnden Versorgung waren die Bewohnerinnen und Bewohner gezwungen, ihr Privatvermögen für Lebensmittel zu veräußern. Später versuchten die mittellosen Menschen, Waren über die Mauer zu schmuggeln. Für viele war dies die einzige Möglichkeit zu überleben.

Geschichte des Warschauer Ghettos

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Geschichte des Warschauer Ghettos

Das Warschauer Ghetto war eines von über 1.000 Ghettos im deutschen Herrschaftsgebiet. Schätzungsweise 400.000 Menschen wurden dort eingeschlossen und überwacht. Die jüdische Gemeinde Warschaus wird bis auf wenige Überlebende ausgelöscht.

Das tägliche Leben im Ghetto war extrem beengt, bestimmt von Überwachung und Terror, von Hunger und Epidemien. Die Lebensbedingungen waren katastrophal. Zwischen November 1940 und Juli 1942 starben Schätzungen zufolge über 80.000 Menschen an den Folgen der unerträglichen Lebensbedingungen.

1942 befahl Heinrich Himmler, Reichsführer SS, die sogenannte "Umsiedlung" der Bevölkerung des Ghettos. Damit war die Deportation in Vernichtungs- und Arbeitslager gemeint. Im Juli 1942 begannen im Rahmen der Interner Link: "Endlösung der Judenfrage", so lautete die Bezeichnung durch die Nationalsozialisten, die ersten Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka. Bis Ende 1942 wurde die Mehrheit der Ghettobewohnerinnen und -bewohner deportiert und ermordet.

Gesichter des jüdischen Widerstandes im Ghetto

(© Public Domain, National Archives and Records Administration, Externer Link: ARC 540123) (© Public Domain, Nieznany/unbekannt, Wikimedia Commons) (© Public Domain, Wikimedia Commons) (© United States Holocaust Memorial Museum Collection, Externer Link: RG Number: RG-50.030.0153) (© Public Domain, National Archives and Records Administration)

Der Aufstand

Zwischen Juli und September 1942 wurden etwa 250.000 bis 280.000 Menschen aus dem Ghetto deportiert, weit mehr als 10.000 Bewohnerinnen und Bewohner wurden während dieser Interner Link: Verschleppungsaktionen in Warschau selbst ermordet. Im Ghetto verblieben zu diesem Zeitpunkt noch zwischen 35.000 und 60.000 Menschen.

Am 28. Juli 1942 wurde von meist jungen Männern und Frauen die Żydowska Organizacja Bojowa (dt.: Jüdische Kampf-Organisation, ŻOB) gegründet. Ziel der Interner Link: Widerstandsorganisation war es, sich gegen die laufenden Deportationen zur Wehr zu setzen. Zunächst blieb es bei punktuellen Aktionen wie beispielsweise Brandanschläge auf deutsche Warenlager. Ab November 1942 wurde die ŻOB unter Führung des erst 24-jährigen Mordechaj Anielewicz als Sammlungsorganisation der jüdischen Widerstandsgruppen im Ghetto neu belebt. Mitglied der Führungskommission war auch der Jugendfunktionär Marek Edelman. Ende 1942 zählte die ŻOB etwa 500 Mitglieder. Durch Kontakte zur Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) gelangten die Kämpferinnen und Kämpfer in den Besitz einiger weniger Waffen, hauptsächlich Pistolen und Sprengstoff.

Am 18. Januar 1943 leistete die ŻOB bewaffneten Widerstand gegen den Versuch der Deutschen, weitere Deportationen durchzuführen. Die ŻOB vermutete in dem Vorhaben die Auflösung des Ghettos. Die SS deportierte bis zum 21. Januar insgesamt 5.000 Menschen, über 1.000 Menschen wurden im Ghetto getötet – doch weil die NS-Besatzer vom Widerstand der jüdischen Bevölkerung überrascht waren, brachen sie die Räumung des Ghettos ab. Von diesem Erfolg bestärkt, begannen die Mitglieder der Kampforganisation mit der Konstruktion unterirdischer Bunker und Verstecke, da sie die Deportation der verbliebenen Ghettobevölkerung fürchteten. Deren Beginn war für den 19. April geplant und sollte drei Tage dauern.

Am Morgen des 19. April, kurz vor Beginn von Interner Link: Pessach, marschierten Einheiten der SS in das Ghetto ein. Unter dem Kommando von Anielewicz begann der Kampf der Aufständischen mit zum Teil selbst gebauten Granaten. Am ersten Tag wurden die überraschten Deutschen bis vor die Ghettomauern zurückgedrängt. Am dritten Tag des Aufstands begann die SS, das Ghetto systematisch niederzubrennen, Bunker und Gebäude zu sprengen, um den Widerstand zu brechen. Obwohl die wenigen 100 Kämpferinnen und Kämpfer den deutschen Truppen klar unterlegen waren, hielt die Bevölkerung des Ghettos den Widerstand beinahe vier Wochen lang aufrecht. Auch in anderen Ghettos (z.B. Bialystok, Minsk) und Konzentrationslagern (z.B. Treblinka, Sobibor) gab es organisierten Widerstand.

Neu entdeckte Fotos Aufnahmen des polnischen Feuerwehrmanns Zbigniew Leszek Grzywaczewski

(© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS | Zbigniew Leszek Grzywaczewski) (© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS | Zbigniew Leszek Grzywaczewski) (© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS | Zbigniew Leszek Grzywaczewski) (© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS | Zbigniew Leszek Grzywaczewski)

Niederschlagung des Aufstandes

Der Kommandobunker der ŻOB befand sich in der Miła-Straße 18. Am 8. Mai 1943 begingen dort Anielewicz und andere Führungspersönlichkeiten der ŻOB wegen der sich stetig verschlechternden Lage Suizid. Marek Edelman gelang es, durch einen Kanalschacht zu fliehen und in Warschau unterzutauchen. Er kämpfte 1944 im Interner Link: Warschauer Aufstand ein weiteres Mal gegen die nationalsozialistischen Besatzer und war 1980 einer der Mitbegründer der freien Gewerkschaft Solidarność. Bis zu seinem Tod im Jahr 2009 war Edelman der wohl wichtigste Zeitzeuge, der vom Aufstand im Warschauer Ghetto berichten konnte.

Am 16. Mai zerstörte die SS als symbolische Aktion die große Synagoge im Ghetto. Leiter der Niederschlagungsaktion war der SS-Brigadeführer Jürgen Stroop, der die Ereignisse in einem Bericht festhielt. "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!", übertitelte Stroop seinen Bericht. Bis zu diesem Tag waren über 56.000 Menschen von SS- und Polizeieinheiten getötet oder in Vernichtungslager transportiert worden. Einige wenige konnten sich weiterhin verstecken oder fliehen.

Der Aufstand im Warschauer Ghetto ist von enormer Bedeutung, da er zum Symbol des bewaffneten Widerstands von Jüdinnen und Juden gegen die NS-Terrorherrschaft wurde. Die Tatsache, dass sich die unterdrückten Menschen trotz der Aussichtslosigkeit ihres Widerstands zur Wehr setzten, prägt das jüdische Selbstverständnis bis heute.

Willy Brandts Kniefall

Bereits 1946 wurde in den Trümmern des ehemaligen Warschauer Ghettos ein Denkmal für die Kämpfer des Aufstandes errichtet. 1948 wurde dann, ebenfalls am Ort des Ghettos, ein zweites, größeres errichtet, das "Denkmal der Helden des Ghettos". Vor diesem Denkmal kniete Bundeskanzler Willy Brandt bei seinem Besuch Polens am 7. Dezember 1970 nieder – eine Geste der Demut und der Bitte um Vergebung für die Millionen jüdischen Opfer der Nationalsozialisten in Polen. Das Bild ging um die Welt und gilt bis heute auch als Symbol für die neue Ostpolitik.

Gedenken zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto

Zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Warschau reisen . Dort wird er sich am 19. April mit dem polnischen Präsidenten Andrej Duda und dem israelischen Präsidenten Issac Herzog treffen und eine Gedenkrede am Denkmal der Helden des Ghettos halten.

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