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1975: Streit um straffreie Abtreibung vor dem Verfassungsgericht | Hintergrund aktuell | bpb.de

1975: Streit um straffreie Abtreibung vor dem Verfassungsgericht

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Abtreibungen sollten strafffrei möglich sein, war eine Kernforderung der Frauenbewegung. Um dies zu realisieren, verabschiedete die sozialliberale Koalition Mitte der 1970er-Jahre ein entsprechendes Gesetz. Doch vor genau 40 Jahren verwarf das Bundesverfassungsgericht die Regelung.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 25. Februar 1975 die Fristenlösung für Schwangerschaftsabbrüche für verfassungswidrig erklärt hat, demonstrieren Gegener des § 218 in Karlsruhe gegen das Urteil.

(© picture-alliance/dpa)

Seit 1871 stellte der Paragraf 218 des Strafgesetzbuches jeden Abbruch einer Schwangerschaft grundsätzlich unter Strafe. Frauen die trotzdem abtrieben, drohte zwischen sechs Monaten Gefängnis und fünf Jahren Zuchthaus. Ab 1927 nahm die Justiz zumindest Abtreibungen aus medizinischen Gründen von der Strafe aus. Eine weitergehende Regelung blieb aber aus – bis das Thema 1971 große Aufmerksamkeit in der westdeutschen Öffentlichkeit fand: Im Magazin Stern bekannten damals 374 Frauen, darunter Prominente wie Senta Berger und Romy Schneider, dass sie abgetrieben hatten – ein Tabubruch.

Kampf der Frauenbewegung für eine Strafrechtsreform

Die Aktivistinnen der Frauenbewegung der 1970er-Jahre setzten sich für die Selbstbestimmung von Frauen über ihre eigenen Körper ein. Die existenzielle und persönliche Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft sollte Interner Link: von den betroffenen Frauen selbst und nicht mehr von einer männerdominierten Politik getroffen werden. Die Aktivistinnen kritisierten auch die geltende Abtreibungsregelung, weil sie eine soziale Ungerechtigkeit kaschierte: Wer über ausreichend Geld verfügte, konnte das gesetzliche Verbot in Deutschland umgehen und beispielsweise eine Abtreibung in der Schweiz durchführen lassen. Frauen ohne die nötigen finanziellen Ressourcen gefährdeten häufig bei illegalen und nicht fachgerechten Abtreibungen ihre Gesundheit, wenn nicht gar ihr Leben. Deshalb forderten Frauenrechtlerinnen bereits seit der Weimarer Republik die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 oder wenigstens eine Straffreiheit bei einem Abbruch innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate.

Parteienstreit: "Fristenregelung" und "Indikationsmodell"

Die Regierungskoalition aus SPD und FDP reagierte im Juni 1974 mit einem Externer Link: Gesetz zur Reform des Paragrafen 218. Künftig sollten Frauen in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft straffrei abtreiben dürfen, wenn sie sich vorher zu gesundheitlichen und sozialen Fragen hatten beraten lassen ("Fristenregelung").

Gegen die Reform bezogen CDU und CSU Stellung. Sie argumentierten, die Reform missachte den von der Verfassung gebotenen Schutz des menschlichen Lebens. Der CDU-Abgeordnete Heinz Eyrich beispielsweise vertrat die Position, dass der Staat nicht auf die Möglichkeit zurückgreifen dürfe, "das ungeborene Leben töten zu können". Stattdessen müssten soziale und finanzielle Nöte gelindert werden, die Frauen davon abhielten, sich für das Kind zu entscheiden. Die Konservativen wollten das Strafrecht höchstens im Rahmen eines eng gefassten "Indikationsmodells" einschränken. Straffrei sollte eine Abtreibung nur sein, wenn nachweislich eine schwere gesundheitliche Gefährdung oder außergewöhnliche seelische Belastung der Schwangeren vorlag.

Verfassungsgericht verwirft Neuregelung

Schließlich klagten 193 Abgeordnete aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie fünf konservative Landesregierungen beim Bundesverfassungsgericht gegen die Gesetzesreform. Externer Link: Dieses entschied am 25. Februar 1975, dass die von SPD und FDP ausgearbeitete Fristenregelung der Verpflichtung des Gesetzgebers zum Schutz menschlichen Lebens nicht gerecht werde. Jenes Schutzrecht ergebe sich aus dem Grundgesetz (Externer Link: Artikel 2, Absatz 2, Satz 1: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." in Verbindung mit Externer Link: Artikel 1, Absatz 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.")

SPD und FDP strebten daraufhin im Bundestag eine erweiterte Indikationslösung an und verabschiedeten diese im Februar 1976 gegen die Stimmen der Unionsfraktion. Das Gesetz enthielt weiterhin das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die Strafandrohung, es sollte aber keine Strafverfolgung geben, wenn eine Abtreibung aus ärztlich attestierten medizinischen, ethischen oder sozialen Gründen stattgefunden hat. In der Realität blieb jedoch vielen Frauen die Möglichkeit zu straffreier Abtreibung vorenthalten, etwa weil Ärzte und Krankenhäuser in katholisch geprägten Gegenden eine derartige Indikation verweigerten.

Kompromiss in den 1990er-Jahren

Erst mit dem Einigungsvertrag kam es 1990 zu einem erneuten Reformanlauf. In der DDR hatte es ein weniger eingeschränktes Entscheidungsrecht für schwangere Frauen nach der Fristenregelung bereits seit 1972 gegeben. Eine 1992 im Bundestag fraktionsübergreifend verabschiedete Fristenregelung mit verbindlicher Beratung stoppten die Gegner vor dem Bundesverfassungsgericht erneut. 1995 brachte dann das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz eine grundgesetzkonforme Regelung: Abtreibung blieb zwar grundsätzlich rechtswidrig, von Strafverfolgung wird aber seither innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen bei Vorliegen einer vorschriftsmäßigen Beratung abgesehen.

Die Schwangere, nicht aber zwingend die Ärztin oder der Arzt, bleibt auch straffrei, wenn der Abbruch in den ersten 22 Schwangerschaftswochen vorgenommen wird. Abtreibungen in Folge von Vergewaltigungen sind innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen bedingungslos straffrei. Ergeben vorgeburtliche Untersuchungen die Diagnose einer Behinderung des heranwachsenden Fötus, so bleibt eine Abtreibung während der gesamten Schwangerschaft ohne Strafverfolgung, insofern die diagnostizierte Behinderung das künftige gesundheitliche und seelische Wohl der Frau unzumutbar beeinträchtigt.

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